anarchismus

Sozial- oder Lebensstilanarchismus?

Eine Antwort auf die Kritik am Libertären Kommunalismus

| Janet Biehl (dt. Bearbeitung: Wolfgang Haug)

In der GWR-Ausgabe vom Februar hat Oskar Lubin das Konzept des Libertären Kommunalismus einer Kritik unterzogen, in welcher er die homogenen sozialen Voraussetzungen der von Murray Bookchin und Janet Biehl im Konzept vorgeschlagenen BürgerInnenversammlung hinterfragte und bezweifelte, ob die US-amerikanische Tradition und ein mit ihr transportierter Heimatbegriff so einfach auf andere Regionen der Welt übertragen werden können. Hier nun eine Antwort von Janet Biehl auf diese Kritik. Wir würden uns über eine Fortsetzung der Diskussion freuen. (Red.)

In der GWR (Nr. 236, Februar) schreibt Oskar Lubin, dass er an ein „Aufleben der Basisdemokratie“ von Murray Bookchins politischem Ansatz eines libertären Kommunalismus nicht glaubt. Stattdessen könne „der Schlüssel für ein realistischeres Bild von Gesellschaft“ in „der Summe aller Lebenswelten an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit“ liegen. Nach Lubin können Menschen politisch nur „in der Gestaltung ihrer persönlichen Lebenswelten“ funktionieren – anscheinend bloss als eine persönliche Wahl – und „nicht (…) in geschichtlich entbundener Subjektform“, als Teil irgendeiner sozialen Entwicklung.

Sicherlich stammt Lubins Ansicht zum grossen Teil von Stirner und dem Anarcho-Individualismus und stellt deshalb wenig Neues für die anarchistische Debatte dar. Aber er scheint auch von einer neueren Debatte beeinflusst zu sein, die seit vier Jahren im englischen Sprachraum abläuft. Weil diese Debatte den GWR- LeserInnen nicht bekannt sein dürfte, beschreibe ich sie hier.

Zur Kritik des Lebensstilanarchismus

Die Spannung zwischen Individualismus und Kollektivismus ist im Anarchismus tief verwurzelt. Bereits 1995 beobachtete Murray Bookchin beunruhigt, dass viele AnarchistInnen jetzt den Anarchismus von der revolutionären Tradition trennen und ihn in eine apolitische Lebensstil-Subkultur verändern wollen – in eine sozial harmlose Ideologie für persönliche Autonomie und Selbstdarstellung. Vor diesem Ansatz braucht, Bookchin zufolge, das Bürgertum keine Angst haben; im Gegenteil passt diese Strömung mit dem heutigen Privatismus und Personalismus bürgerlicher Kultur völlig zusammen. Obgleich sich dieser ‚Lebensstilanarchismus‘ jetzt in den USA am auffälligsten bemerkbar macht, macht es Bookchin Sorgen, dass er sich auch international verbreiten könnte.

Deshalb kritisierte er diese Strömung 1995 in einer Flugschrift „Sozialanarchismus oder Lebensstilanarchismus: Eine unüberbrückbare Kluft“, worin er den Lebensstilanarchismus mit mehreren Hauptmerkmalen beschreibt:

Statt Sozialuntersuchungen, Programmen und politischen Organisationen (um gemeinsam nach sozialen Freiheiten zu streben) zu schaffen, haben LebensstilanarchistInnen die Tendenz, sich vor allem um das Streben nach „der Autonomie“ des souveränen Individuums zu kümmern. Ironischerweise ist dieses in Stirners Metaphysik des ‚Ichs‘ und seines ‚Eigentums‘ verwurzelte Ideal mit der Laissez-faire-Wirtschaft und dem Liberalismus Lockes und Mills kompatibel. Aber ausser dieser Vereinbarkeit wird im Anarcho- Individualismus dem autonomen ‚Ich‘ eine autonome Subjektivität zugeschrieben und die Fähigkeit, seine eigene Wirklichkeit zu erschaffen. So schreibt Hakim Bey in seinem Buch „T.A.Z.“:

„Wir schaffen die Gesetze für unsere eigenen Domänen. (…) ‚L’Etat, c’est moi.‘ (…) Wenn wir von Ethik oder Moralität gebunden sind, sind sie notwendigerweise welche, die wir uns selbst eingebildet haben.“

Hier wird das Ich zum höchsten Tempel der Realität, und die Erfüllung seiner Begehren wird zur endlichen Erfüllung der Befreiung.

Laut Bookchin suchen LebensstilanarchistInnen nicht soziale Freiheit, aber persönliche Selbstverwirklichung. „Im Lebensstilanarchismus wie in der Psyhotherapie“, schrieb Bookchin, „ist das Ego dem kollektiven Selbst, der Gesellschaft, entgegengesetzt – das Persönliche dem Gemeinschaftsleben.“ Dieser Personalismus ist mit der Privatisierung der grösseren Gesellschaft und ihrer Fixierung auf die persönlichen Angelegenheiten und das innere Leben sehr kompatibel, er ist mit den psychotherapeutischen, New Age-, Ich-orientierten Lebensstilen vergleichbar.

Lebensstil: Ablehnung der sozialen Revolution, Abneigung gegen Theorie

Lebensstilanarchismus lehnt die Aussicht auf soziale Revolution überhaupt ab, sowie die Praxis, je Organisationen zu bilden. Stattdessen tritt er für mehr vielgestaltige Widerstandsvorstellungen ein, besonders den ‚persönlichen Aufstand‘. Aber solche Taten, warnt Bookchin, sind nur symbolisch ausgedrückte Gesten gegen die Macht – von der Voraussetzung ausgehend, dass symbolische Gesten irgendwie gesellschaftliche Veränderungen schaffen können. Am häufigsten geht es dabei um blosse Eingenommenheit von sich selbst und um abenteuerliche Episoden, die doch nur Gesten bleiben. Zu oft verfallen LebensstilanarchistInnen ins Suchen nach Erregung und persönlicher Selbstbestätigung, von radikaler Rhetorik erfüllt, aber ohne eine eigentliche Herausforderung der Sozialordnung. ‚Vorübergehende autonome Zonen‘ sind definitionsgemäss vorübergehend. Symbolische Gesten allein können keine gesellschaftlichen Veränderungen erschaffen.

Noch ein typisches Merkmal von Lebensstilanarchismus ist seine „Abneigung gegen Theorie“, auch gegen Befreiungstheorien, dafür wird eine theoretische Zusammenhanglosigkeit gefeiert. Gleich häufig ist ein Misstrauen oder eine „Abneigung gegen Vernunft“, die irgendwie mit Autorität und Herrschaft identifiziert wird. Als Alternative feiern sie ‚Intuitionen‘ – und sehr oft auch Magie, Spiritualismus, Mystizismus und östliche Religionen, sowie Schamanismus und Hexerei. Das Streben nach ‚Ekstase‘ – sexuelle, von Drogen herbeigeführte oder andere – ist grundlegend. Hakim Bey zum Beispiel fordert „eine praktische Art ‚mystischen Anarchismus‘ (…), eine Demokratisierung von Schamanismus, berauscht & ruhig.“ David Watson von der Zeitschrift „Fifth Estate“ verlangt eine Lebensumorientierung „zu immer wiederkehrenden, klassischen und ursprünglichen Weisheitsmanifestationen“ – einschliesslich Traum, Ritual und Schamanismus.

Irgendwie sollen wir diese nicht-rationalen Bewusstseinszustände direkt gegen Kapitalismus, Hierarchie, Herrschaft und Ausbeutung anwenden. Bey zum Beispiel fordert seine LeserInnen auf, ‚Hexerei‘ einzusetzen, „um die erwünschten Folgen herbeizuführen“ – als ob Hexerei überhaupt Folgen haben könnte. „Fifth Estate“ fordert, dass wir „den magischen Kreis werfen, in die Ekstase-Trance eintreten, die alle-Macht-auflösende Hexerei feiern“ – als ob magischer Gesang wirklich gesellschaftliche Herrschaft ausschliessen könnte.

Libertäre Verteidigung der Vernunft

Schliesslich achten LebensstilanarchistInnen die „Vorstellungskraft“ sehr, sie wird selbst zum Programm statt nur ein Teil davon. Die Vorstellungskraft in Verbindung mit Vernunft wurde früher einmal von Links- Libertären benutzt, um die existierende Sozialordnung zu bekämpfen und um sich Utopien vorzustellen. Aber allein verwendet liegt sie quer zum sozialistischen oder kommunistischen Engagement des Anarchismus. Wie der Maler Goya einmal mahnte: Einbildung ohne Vernunft erschafft Ungeheuer.

Alle diese Kennzeichen des Lebensstilanarchismus sind mit einem Wunsch nach unvermittelten Erfahrungen assoziiert. Die Subjektivität des autonomen Ichs sieht über die intim alle Individuen bindenden sozialen „Vermittlungen“ hinweg. Das Abenteurertum sucht „unvermittelte“ Erregungen und verachtet die anstrengende, oft langweilige Organisierungsarbeit. Der Irrationalismus sucht direkte emotionale Highs – sucht Ekstase, Trance, Einbildung – unbeeinflusst von der Kritik der Vernunft. Alles reflektiert eine Begierde nach Unmittelbarkeit, „für eine naive eins-zu-eins-Beziehung zwischen Geist und Realität“, statt Überlegung, Erfahrung und Wissen.

In die anglo-amerikanische Welt erstreckt sich der Lebensstilanarchismus und diese Begierde nach Unmittelbarkeit auf eine Romantisierung vorgeschichtlichen Lebens. Bookchin nannte dieses Phänomen „prelapsarianism“, eine Identifizierung mit „der Zeit oder den Verhältnissen vor dem Sündenfall.“ ‚Prelapsarianer‘ sehnen sich nach einer Rückkehr in ein ursprüngliches, sogenanntes „Goldenes Zeitalter“ von unvermittelter Freude, bevor die Geschichte, die komplexen Gesellschaften und die Sprachen entstanden sind. Ihnen ist eine Weltanschauung zueigen, voll unverantwortlicher, immer kindischer Freude, mit keinen Anstrengungen für nachdenkliches, verantwortliches Benehmen oder für Voraussetzungen menschlicher Interdependenz.

LebensstilanarchistInnen sehen die gesellschaftlichen Misstände nicht im Kapitalismus oder in der Ausbeutung, Hierarchie oder Herrschaft, sondern in der Zivilisation selbst. Der soziale Aufstieg der Zivilisation war der grosse Fehler der Menschheit, ihr Sündenfall; Zivilisation besteht nur aus einem Abstieg in die ‚industrielle Gesellschaft‘. Unsere Menschlichkeit kann, nach dieser Meinung, nur mit einer Rückkehr zur Vorgeschichte, oder wenigstens ihrer vermuteten Weltanschauung, wiedergewonnen werden.

David Watson (Fifth Estate) zum Beispiel lehnt „Zivilisation im grossen“ ab und hat seit vielen Jahren einen Primitivismus befürwortet. Er romantisiert die ursprüngliche Gesellschaft als die „Urwohlstandsgesellschaft“, worin Ansprüche angeblich gering waren und Wünsche leicht erfüllt wurden. Weil Jagen und Sammeln angeblich viel weniger Mühe als die Arbeit heute bedurfte, war die ursprüngliche Gesellschaft, Watson zufolge, fast „arbeitsfrei“. Stattdessen war sie „eine tanzende Gesellschaft, eine singende Gesellschaft, eine feiernde Gesellschaft, eine träumende Gesellschaft“, harmonisch mit der Natur aufgrund der reichen Naturgrosszügigkeit. So freudig waren die ursprünglichen Leute, so mit dem Leben in unvermittelte Glückseligkeit verliebt, dass sie sogar „Technik ablehnten“.

Gegen die Idylle von der unschuldigen ursprünglichen Kultur

Laut John Zerzan bestand „das Leben vor der Domestikation/Landwirtschaft eigentlich aus Freizeit, Naturintimität, sinnlicher Weisheit, der Gleichheit der Geschlechter, und aus Gesundheit.“ Den Menschen – homo habilis – war bewusst, dass „Arbeitsteilung, Domestikation und symbolische Kultur“ möglich waren, aber sie „lehnten es ab“, diese anzuwenden. Die Menschen waren, laut Zerzan, schon wirklich emanzipiert, weil sie ganz ohne Sprache oder andere symbolische Vermittlungen lebten. Nach Zerzan war es „die Entstehung symbolischer Kultur“, mit ihrem vermuteten „eigenen Willen, zu manipulieren und kontrollieren“, die die Tür zu Landwirtschaft und damit zu repressiver Gesellschaft heute öffnete.

Bookchin weist die Ansicht zurück, dass irgendeine ‚unschuldige‘ ursprüngliche Kultur vor dem ‚Sündenfall‘ der Menschheit existierte. Was den ‚Urwohlstand‘ angeht, zeigte die neueste Anthropologie, dass die Lebenserwartung in ursprünglichen Gesellschaften kurz war, und dass Hunger häufig wiederkehrte. Loren DeVore, einer der AnthropologInnen, die in den sechziger Jahren die ‚Urwohlstand‘-These förderten, weist diese jetzt zurück. „Wir waren ein bisschen romantisch“, sagt er. „Unsere Annahmen und Auslegungen waren gar zu einfach.“ Zerzans Anprangerung der Landwirtschaft war, laut Bookchin, bloss ein antihumanistischer Wunsch, die Erde zu entvölkern.

Heute gehört es, folgt man/frau Bookchin, zu einer linksradikalen Untersuchung, nicht ‚Zivilisation im grossen‘ abzulehnen, sondern zu trennen, was in der Geschichte und Zivilisation geschätzt, gerettet und bewahrt werden soll, und was verdammt und nicht wiederholt werden soll. Ausserdem glaubt er, dass wenn wir die Zivilisation als inhärent repressiv denunzieren, die Sozialverhältnisse verschleiert werden, die die Ausbeuter über die Ausgebeuteten und die Herren über die Unterworfenen stellen.

Der Prelapsaraianismus lehnt auch ‚Technik‘ ab. Nach seinen Vertretern hat die Technik gewaltige Macht, Sozialverhältnisse zu formen – sogar sie zu bestimmen. Bookchin behauptet im Gegenteil, dass obgleich einige Technologien – wie Atomkraft – die Verhältnisse stark beeinflussen und abzulehnen sind, am häufigsten das Kapital bestimmt, wann und zu welchem Zweck Technologien benutzt werden. Hier solidarisiert er sich mit Kropotkins Anarchokommunismus, welcher von „Weiterentwicklungen in der Technik und zunehmender Produktivität abhängig“ war: „Dieselben Maschinen, die das Bürgertum um ‚Arbeitskosten‘ zu reduzieren jetzt verwendet, könnten, in einer rationalen Gesellschaft, Menschen von hirnloser Mühe befreien, zugunsten kreativer und persönlich lohnenderen Aktivitäten.“

Verteidigung des Sozialanarchismus und die kritische Diskussion in den USA

Gegen die Unmittelbarkeit und den Prelapsarianismus des Lebensstilanarchismus setzt Bookchin, dass der Sozialanarchismus in der heutigen Welt bewahrt und erweitert werden soll. Er identifiziert vier spezifische Merkmale, die für ein heutiges links-libertäres Programm am wichtigsten sind: „eine Konföderation dezentralisierter Kommunen; einen unerschütterlichen Widerstand gegen Etatismus; einen Glauben an direkte Demokratie und eine Vision einer libertär-kommunistischen Gesellschaft.“

Bookchin fordert „einen Sozialanarchismus, der Freiheit durch Struktur und gegenseitige Verantwortlichkeit zu erschaffen sucht.“ Er fordert daher Kohärenz in der Theorie, eine engagierte Sozialbewegung, seriöse Organisationen, linksradikale Politik und öffentliche Beteiligung. Er fordert die Institutionalisierung der Macht der Unterdrückten durch die Schaffung selbstverwalteter Strukturen, die zu Sozialrevolution gegen Kapitalismus und Hierarchie führen. Heutiger Säkularismus, die Naturwissenschaft und viele Technologien bieten potentiell die Hoffnung auf eine rationale und emanzipierende Sozialordnung an. Besonders brauchen wir die Vernunft als notwendige Anleitung, um Fortschritt und Rückfall, Notwendigkeit und Freiheit, Gut und Übel, Zivilisation und Barbarei voneinander zu unterscheiden.

Bookchins Flugschrift „Sozialanarchismus und Lebensstilanarchismus: Eine unüberbrückbare Kluft“ verursachte – das ist nicht überraschend – unter den LebensstilanarchistInnen (die meisten lehnten dieses Etikett ab) einen Protest.

Erwiderungen sind in den Zeitschriften „Anarchy“, „Fifth Estate“ und „Social Anarchism“ veröffentlicht worden, aber, anstatt seriöse Gefechte mit Bookchins Kritik auszutragen, haben diese KritikerInnen meistens den Autor selbst angegriffen, ihm finstere persönliche Motivationen zugeschrieben. Tatsächlich reflektiert diese Suche nach Bookchins Motivationen die Schwierigkeit unter LebensstilanarchistInnen, in nicht-persönlicher Weise zu denken.

Einige diffamieren Bookchin als an einer Geisteskrankheit – wie Paranoia oder Grössenwahn – leidend. Viele andere folgen Bob Black und betrachten Bookchin als machthungrig oder dass er einen machiavellischen Griff nach der Macht mache, um „für seine Stellung als führender Theoretiker zu kämpfen.“ Eine Kritikerin gruppierte ihn unter die „alten Männer, die nach Zuneigung hungern, indem sie radikaler Theorie ihren Stempel aufdrücken wollen, ehe sie abkratzen.“

Aber bei weitem die häufigste Taktik ist es, Bookchin als autoritär zu karikieren – besonders als Marxist oder Stalinist. Seine Verteidigung der libertären sozialrevolutionären Linken – oft gegen den Marxismus – wird irgendwie in eine boshafte Verteidigung des Stalinismus verzerrt. Bookchin, der mit dem Marxismus in den vierziger Jahren brach, wird als ‚Generalsekretär‘ und ‚grosser Vorsitzender‘ gekennzeichnet. Ein anarchistischer Kritiker nahm sich als Zielgruppe Bakunin, Bookchin und Lenin: er wirft Bookchin vor, ein ‚Bakunist (anarcho-Leninist)‘ zu sein.

All die kritischen Antworten aber sind nicht ad hominem Phantasien gewesen. David Watson geht der Kritik an Bookchin im Detail in seinem 1996 erschienenen Buch „Beyond Bookchin“ („Über Bookchin hinaus“) nach, dabei verteidigt er Antizivilisationismus, Primitivismus, Irrationalismus und Technophobie heftig. Die Inhalte dieses Wortwechsels sind zu kompliziert, um hier zusammengefasst zu werden. Er feiert ursprüngliche Subjektivität – Schamanismus, Träume und Rituale – und lobt (angeblich) Ur- Wahrnehmungsweisen, in denen „alles von den Sinnen wahrgenommen, gedacht, gefühlt und geträumt, existiert.“ Bookchin antwortete darauf, Watson befürworte eine „Epistemologie, in welcher Traum und Realität wesentlich nicht unterscheidbar sind.“

„Beyond Bookchin“ ist eigentlich von Spiritualismus und Mystizismus durchzogen. Menschen sollen „sich vor der ganzen Schöpfung erniedrigen“, laut Watson, „vor der geringsten Ameise, ihr eigenes Nichts erkennend.“ Bookchin erwidert, „dass die selbstauslöschende Apathie widerhallt, die von Religionen und Despotien überall eingeprägt ist.“ Die Titelseite trägt ein Zitat des Zen-Meister Dogen aus dem 13. Jahrhundert. „Sich vorwärts zu tragen und Myriaden von Dingen zu erfahren, ist Wahnvorstellung. Aber Myriaden sich meldend und sich selbst erfahrend ist Erwachen.“ Bookchin nennt dieses Zitat ein „Rezept für Quietismus“: „Der Inhalt von Dogens Zitat widerlegt die Widerspenstigkeit, die für eine gesellschaftsverändernde Bewegung notwendig ist, und ersetzt sie völlig mit Verzicht.“

Unter den KritikerInnen wird die Trennung zwischen Sozial- und Lebensstilanarchismus leider zu einer Trennung zwischen älterer und jüngerer Generation umgedeutet. Bookchin betrachtet jedoch den Sozial- wie den Individual-Anarchismus als in der Vergangenheit und in der Gegenwart existent. Kingsley Widmer, unter anderen, schreibt den Sozialanarchismus ausschliesslich der nicht wiederfindbaren Vergangenheit zu und behauptet, dass Primitivismus und Individualismus einfach die Inhalte des heutigen Anarchismus seien.

Für Sozialanarchismus einzutreten ist, laut Widmer, ein Anachronismus: „in einsamer Pracht“ stehend, „auf den gespenstischen Schultern von Bakunin, Kropotkin und ihren Nachkommen unter den spanischen AnarchistInnen vor schon mehr als zwei Generationen.“ Sozialanarchismus ist, Widmer zufolge, historisch vorbei: „Bookchins Ansatz scheint ein manchmal lobenswerter aber jetzt enger und dünner Libertarismus, der einer früheren Zeit, einem früherem Ort, und früheren Verhältnissen angehört.“ Das heisst: Revolution, Organisation und Programm gehören der Vergangenheit an und sind für den Anarchismus heute irrelevant. Widmers Ansicht wird besonders dadurch gefährlich, weil er einen politischen Unterschied in einen Generationenkonflikt umdichtet.

Der Streit um Lebensstilanarchismus ist symptomatisch für die fast überall vorhandene verheerende Strömung nach rechts. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Sozialanarchismus als ein historisches Überbleibsel, eine archäologische Antiquität eingestuft wird. Trotz der jetzigen kulturellen Konterrevolution müssen wir einen sozialen, organisierten, programmatischen Links- Libertarismus aufrechterhalten und erweitern. Auf dem Spiel steht die fortgesetzte Existenz der revolutionären libertären Linken.

Literatur

Bey, Hakim: 'T.A.Z.: The Temporary Autonomous Zone, Ontological Anarchy, Poetic Terrorism.' Brooklyn: Autonomedia, 1985.

Bookchin, Murray: 'Social Anarchism or Lifestyle Anarchism.' San Francisco and Edinburgh: A.K. Press, 1995.

Bookchin, Murray: 'Whither Anarchism?' in: 'Anarchism, Marxism, and the Future of the Left.' San Francisco and Edinburgh: A.K. Press, 1999 (in press)

Watson, David: 'Beyond Bookchin: Preface for a Future Social Ecology.' Brooklyn: Autonomedia, 1996.

Widmer, Kingsley: 'How Broad and Deep Is Anarchism?' in: 'Social Anarchism', No. 24 (1997).

Zerzan, John: 'Future Primitive and Other Essays'. Brooklyn: Autonomedia, 1994.