1.) Dieser Krieg enthält nur schwer zu verarbeitende Zumutungen und Widersprüche. Der Bombenterror richtet sich gegen Jugoslawien. Der Propagandaterror richtet sich gegen uns.
Es ist schon wieder so weit, dass diejenigen, die gegen Krieg und für Frieden sind, sich sagen lassen müssen, sie seien die „Weißwäscher eines neuen Faschismus“ (Fischer).
2.) Die neue NATO-Strategie und die Weltmachtambitionen der BRD erfordern eine Analyse der gegenwärtigen Kriegspropaganda. Ich beschränke mich heute auf einen Aspekt: Auschwitz in der Kriegspropaganda der Bundesregierung.
3.) Die Propaganda-Maschine der Bundesregierung, insbesondere die Herren Fischer und Scharping, arbeiten mit einer neuen Auschwitz-Lüge.
Mit der alten Auschwitz-Lüge wurde versucht, die Existenz von Auschwitz zu leugnen.
Die neue Auschwitz-Lüge beinhaltet die Leugnung der Einmaligkeit des Verbrechens und der Barbarei des deutschen Faschismus, sie leugnet den mit Auschwitz verbundenen Zivilisationsbruch und sie suggeriert, dass sich mit Verweis auf Auschwitz dieser Krieg und zukünftige Kriege als gerechte Kriege legitimieren und führen lassen – um ein neues Auschwitz zu verhindern.
Damit verkommt Auschwitz zu einem Instrument in einem mediengestützten und mediengerechten Kriegs- Marketing der Bundesregierung.
4.) Wie wird argumentiert, was wird unterstellt, welche Projektionen werden vorgenommen, welche Implikationen hat diese Funktionalisierung und Instrumentalisierung von Auschwitz in der gegenwärtigen Kriegspropaganda?
Die Denkfigur ist einfach, die Projektionen sollen plausibel erscheinen:
Milosevic = Hitler
Serbien = faschistisches Deutschland
Vertreibung = Völkermord
Großserbien = Großdeutschland
Serbische Sonderpolizei = SS.
Mit diesen Propaganda-Projektionen werden wichtige und gerade durch die 68er-Generation geförderte Erkenntnisse über Genese und Strukturen nationalsozialistischer Herrschaft negiert. Die Qualität der Projektionen ist ungefähr so, als würden die Gegner dieses Krieges Herrn Fischer mit Goebbels oder Herrn Scharping mit Eichmann vergleichen – solcher Projektionen sollten wir uns enthalten und auch der Versuchung widerstehen, die Projektionen der serbischen Propaganda zu akzeptieren.
Die Figur des Denkens, die uns insbesondere von den Herren Fischer und Scharping vorgeführt wird, ist gerade wegen der Feindbildprojektionen als Ausdruck einer Kontinuität aus dem Nationalsozialismus in die Gegenwart hinein zu begreifen, sie ist gerade weil sie die anti-zivilisatorischen Folgen auch dieses Krieges negiert und im Prinzip jeden Krieg als gerechten Krieg zu legitimieren versucht, der im Namen einer Verhinderung eines neuen Auschwitz geführt wird, gefährlich – bei bewusster Leugnung wichtiger Differenzen zwischen Jugoslawien und dem nationalsozialistischen Deutschland.
In der in den 60er Jahren entscheidend von der StudentInnenbewegung begonnenen Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus meinte „Auschwitz“ immer zweierlei: 1. Metapher für die beispiellose anti-zivilisatorische Barbarei des Nationalsozialismus, sprachlich festgehalten in der Sprache der Täter; und 2. Ort der konkreten Barbarei.
Was aber meinen die Fischers und die Scharpings, wenn sie Auschwitz bemühen für die Legitimation dieses Krieges?
Wollen sie sagen, Milosevic führe einen Angriffskrieg gegen die EU-Staaten, um einen Völkermord zu begehen? Wollen sie sagen, die mit Menschen vollgepackten Züge, die wir im Fernsehen sehen, hätten als Zielorte großindustrielle Menschenvernichtungsfabriken?
Wieso wird das, was unter den Augen der Weltöffentlichkeit und mit Duldung der EU, der NATO, der Bundesrepublik und der USA an vielen Orten und in vielen Regionen der Welt und nicht nur in Jugoslawien stattfindet, von der Bundesregierung nicht, aber mit Blick auf Jugoslawien sehr wohl zum Menetekel eines neuen Auschwitz erklärt? Warum eigentlich?
5.) Welche Absichten werden also mit der neuen Auschwitz-Lüge verfolgt? Welche Implikationen sind erkennbar?
Es wird nicht nur, wie Gregor Gysi in der Bundestagsdebatte am 15.4.1999 festgestellt hat, die deutsche Geschichte bagatellisiert, es werden nicht nur die Opfer des Faschismus verhöhnt dadurch, dass in ihrem Namen neues Leid legitimiert wird – es geht auch um die Fortsetzung des Historikerstreites wie auch der Walser-Debatte mit perversen Propaganda-Mitteln und mit dem Ziel, ein angemessenes und differenziertes Bewusstsein und Wissen über Deutschland, seine Geschichte und über Auschwitz auszulöschen, die Weltmachtambitionen im NATO- Bündnis mit diesem Krieg abzusichern und diesen mit der Parole „Nie wieder Auschwitz“ zu legitimieren – was heißt, dass die Bundesregierung die Bundesrepublik in ihrer neuen Rolle und mit Blick auf ihre Einbindung in die von den USA diktierte neue NATO-Strategie gerade mit dem legitimiert, was bislang als das größte Verbrechen Deutschlands gelten konnte und was Weltmachtambitionen wie auch kriegerischen Aggressionen entgegenstehen sollte – nämlich mit Auschwitz.
Das Gefasel des Helmut Kohl von der Gnade der späten Geburt erscheint nachgerade als Kavaliersdelikt des Vertreters einer fett gewordenen, selbstgerechten Generation im Vergleich zu der Perversion des Denkens und Handelns der jetzigen Bundesregierung, die gegenüber der Bevölkerung der BRD und gegenüber der Weltöffentlichkeit das Wissen und die Erkenntnisse über Nationalsozialismus und Auschwitz, sowohl als Metapher wie als konkreter Ort der Barbarei, preisgibt für Propagandazwecke und damit bewusst gravierende Differenzen zwischen Milosevic und Hitler leichtfertig negiert.
Früher galt Auschwitz als Warnung vor Krieg und Barbarei, jetzt dient es als Propagandamittel für einen Angriffskrieg.
6.) Die Klarheit des Denkens für Propagandazwecke und vordergründige politische Ziele preiszugeben, hat zumindest in einer Demokratie, als Verbrechen zu gelten, das allerdings nicht durch Gerichtshöfe geahndet wird.
Der uns angedienten Perversion des Denkens und Fühlens und des Verzichts auf eine historisch-analytische Denkfähigkeit können wir nur durch private und öffentliche Anstrengungen begegnen, die uns urteilsfähig und widerstandsfähig machen, auch gegenüber der gegenwärtigen bundesrepublikanischen Kriegspropaganda.
Diese erscheint mir als ein Beitrag zur autoritären Zurichtung der Gesellschaft der BRD. Sie zielt, immer wieder neu, auf die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols gegenüber den Menschen, auf Verdummung und Gehorsam, auf Feindbilder und auf eine Manipulation unseres Denkens und Fühlens. Sie spekuliert mit der Ohnmacht der Menschen und zielt auf deren Zustimmung zu einem Angriffskrieg. Sie legt uns nahe, dass wir uns mit den Opfern identifizieren sollen, aber nur um zum Aggressor zu werden bzw. um die aggressive Kriegspolitik gegen einen souveränen Staat zu billigen. Sie will das Volk in einen Krieg einbinden und zugleich wichtige Elemente seiner Geschichte entsorgen und dabei auch das Versagen deutscher Diplomatie und Politik seit der allzu schnellen und allzu frühen Anerkennung Kroatiens als souveräner Staat durch die Regierung Kohl-Genscher vergessen machen und sich damit aus der politischen Verantwortung für die heutigen Verhältnisse in Jugoslawien herausstehlen.
7.) Diese Bundesregierung hätte sich am Endes dieses Jahrhunderts, mit Blick auf die deutsche Geschichte nie in diesen Krieg hineinziehen lassen dürfen, sie hätte alles tun müssen, um diesen Krieg zu verhindern, sie hätte längst jede weitere Beteiligung an diesem Krieg verweigern müssen. Gibt es keine Spielräume in diesem Bündnis für eine reflektierte, Antikriegspolitik, auch gegenüber Mehrheitspositionen in diesem Bündnis?
Dass diese Bundesregierung aus Propagandainteressen die gravierende Differenz zwischen Hitler und Milosevic, zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und Jogoslawien, negiert und dafür Auschwitz funktionalisiert, zeigt, dass am Ende dieses Jahrhunderts historischer Ballast abgeworfen und im selben Moment mit den besonderen Merkmalen der deutschen Geschichte eine Politik begründet werden soll für die aggressive Durchsetzung einer neuen Weltordnung, mit den USA als Ordnungs- und Schutzmacht für das global agierende Kapital, mit der NATO als der schnellen Eingreiftruppe und als Schutz- und Überwachungsmacht für Europa.
Hierin liegt die Logik der Instrumentalisierung und der Funktionalisierung von Auschwitz für Propagandazwecke – zugleich als gefährliche, strukturelle Verharmlosung vergangener wie als demagogische Überzeichnung gegenwärtiger Barbarei.
Anmerkungen
Der Autor ist Pädagogikdozent an der Uni Münster. Den hier leicht gekürzten Text hat er vorgetragen bei der Anti-Kriegsdemonstration auf dem Prinzipalmarkt in Münster/ Westfalen am 17. April 1999.