kultur

„Ich bin kein Beispiel. Ich bin ein Vorspiel.“

Zum zehnten Todestag von Wolfgang Neuss

| Bernd Drücke

"Gute Vorbilder sind wichtig", so heißt es in der vom Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit herausgegebenen Broschüre "Was sie über Drogen wissen sollten":

„Die klare und eindeutige Stellungnahme gegen illegale Drogen gehört zu diesem Vorbildverhalten. Besonders gefährlich und verführend für Jugendliche ist es, wenn Menschen mit hohem Bekanntheitsgrad und großer Popularität – ob gelegentlich oder ständig – Drogen nehmen und propagieren. Niemand sollte sich scheuen, solche schlechten Beispiele anzuprangern.“

Nun gibt es in der Bundesrepublik Millionen KifferInnen, und es wäre ein enormer Aufwand sie alle als „schlechte Beispiele anzuprangern“. Ich beschränke mich also auf ein „Beispiel“, das „ein Vorspiel“ war.

„Der gesunde Menschenverstand ist reines Gift“

Der wohl bekannteste Kiffer Deutschlands, grandiose Spaßmacher und anarchische Wortspieler Wolfgang Neuss starb vor zehn Jahren, am 5. Mai 1989.

Geboren wurde er am 3. Dezember 1923 in Breslau. Weitgehend vaterlos aufgewachsen, macht er nach Volksschule, Schlachterlehre und Maloche in der Landwirtschaft die Flatter. Er will Clown werden, landet aber unsanft in der Verwahranstalt am Berliner Alex. 1940 erhält er seine Einberufung zum Kriegsdienst. Ein Jahr später schießt sich der „Frontkomiker“ den Zeigefinger der linken Hand ab, um wieder ins Lazarett zu kommen.

In den Fünfzigern und Sechzigern wird Neuss berühmt als „Mann mit der Pauke“. Seine Filme, z.B. „Wir Kellerkinder“, „Aus dem Tagebuch eines Kabarettisten“ und „Genosse Münchhausen“, sind ihrer Zeit weit voraus und seine Ein-Mann-Show „Das jüngste Gerücht“ machen ihn zu „Deutschlands Kabarettist Nr. 1“ (Der Spiegel).

Als die Westberliner Massenmedien 1965 ihre LeserInnen auffordern, Geld für den amerikanischen Vietnam-Krieg zu spenden, reagiert er mit einer Extranummer seiner Zeitung „Neuss Deutschland“, dem „Organ des Zentralkomiker- Teams der Satirischen Einheitspartei Deutschlands“: „In Vietnam kämpfen amerikanische Soldaten mit dem südvietnamesischen General Ky. Sein größtes Vorbild: A. Hitler“.

Es folgt eine Hetzkampagne der Springerpresse und anonyme Drohungen („Lebt ihr roten Hunde noch?“) gegen Neuss. Er ist der erste Künstler, der in der BRD wegen „Linkspropaganda“ ausgeblendet wird (der SFB täuscht Sendeausfall vor). Die SPD, in die er soeben wegen Sympathie für den Kanzlerkandidaten Willy Brandt eingetreten war, schließt ihn aus. Sein Kommentar: „Wer nicht haargenau wie die CDU denkt, fliegt aus der SPD raus.“

Während sich 1967/68 die Ereignisse in Berlin überschlagen, radikalisiert er sich als prominenter Aktivist der Außerparlamentarischen Opposition gegen Vietnamkrieg, Notstandsgesetze und Staatsterrorismus.

1972 steigt er von Tabletten auf Cannabis um. Seine Medikamenten- und Alkoholorgien 20jährigen Ruhms kuriert der langhaarige und bald zahnlose Cannabole fortan mit Haschisch. Offen bekennt er von nun an immer und überall, daß er einen Teil seiner Zauberkunst dem Umgang mit Ekstase – mit Drogen verdanke.

„Ich mache mich seit zehn Jahren in Berlin ein bisschen straffällig, um die andere Million Gesetze richtig einzuhalten. Wie machen Sie’s?“

1979 steht er wegen Cannabisbesitzes vor Gericht. Seine Schuldfähigkeit soll festgestellt werden: „Ich war immer unnormal, das ist meine Berufskrankheit. Im übrigen fühle ich mich irre gesund. Achten sie auf das Wort ‚irre‘. Wenn der Mensch sich sucht, ist er süchtig.“ Zahlreiche Ermittlungsverfahren wegen Haschischbesitzes folgen. Daß er nichts anderes täte, als den Strick zu rauchen, an dem er sonst hängen würde – nämlich Hanf – vermag die RichtHerren nicht zu beeindrucken. Seine Meinung zur Sinnlosigkeit des Drogenkrieges und zu seinem „Überlebensmittel“ sind nicht erwünscht. Neuss wird mehrmals wegen Cannabiskonsums kriminalisiert. Von den bürgerlichen Medien wird er als „Drogenwrack“ gebrandmarkt, als „komische Nummer“ verkannt: „Ungeheuer von Loch Neuss“.

„Bin soeben durchs soziale Netz gepurzelt. Endlich wieder unter Menschen.“

„Tunix ist besser als arbeitslos.“

Der schlagfertige, linksradikale Kiffer verzichtet auf Cadillac und Gebiß. Seine Zeit sei gekommen, „wenn sie wieder so zum Lachen ist, daß es sich lohnt, dritte Zähne anzuschaffen.“

„Aussteigen heißt ja nichts weiter wie: Einsteigen. Einsteigen in was? Na in sich. Sich selber suchen.“

Der „Sensationshascher“ lebt von Sozialhilfe und thematisiert Dinge, die in der deutschen Bürgerpresse einfach nicht thematisiert werden dürfen, z.B. Recht auf Faulheit und Politik der Ekstase. Daß solche „Unthemen“ auch noch in anarchischer Form, in einem schnellen, nicht enden wollenden Monolog präsentiert werden, verschreckte in den Achtzigern die auf „seriös“ gedrillte Presse, während ich mich damals begeistern konnte für diesen liebenswerten Bürgerschreck.

„Wenn’s in der Sauna schneit, das ist Neuss“

„Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen“, so begrüßt der Überraschungsgast Neuss 1983 den CDU-Kandidaten Richard von Weizsäcker in der „Talk-Show des Jahres“ (Spiegel).

Aus dem „Präsidenten-Duell“ mit dem humorlosen Silberlocke geht Neuss als Sieger hervor: „Herr von Weizsäcker, wissen sie denn überhaupt, daß ich Bundespräsident würde, wenn die Kinder wählen dürften? … die Kinder wählen immer einen aus der Sesamstraße.“

Neuss, das ist Spaßguerilla, ein Redeschwall aus Klamotte und großer Kultur,Tagesgeschehen und Geschichte, Sinn und Unsinn, hemmungsloser, oft brillanter Witz, kurz: „beautiful noise“.

„Man erwartet etwas, wenn man ‚Neuss‘ hört – Lärm oder Neues.“

„Eine Frage schwirrt mir durchs Hirn: Kann man so geschickt schweigen, daß man verstanden wird?“

„Wenn man merkt, daß die Witze auf der Straße gemacht werden und im Saal nicht mehr so gut ankommen – also, da habe ich mir gesagt: Es ist an der Zeit, langsam aufzuhören.“

Vor zehn Jahren, nachdem er jahrelang vergebens versucht hatte, seinen Krebs wegzumeditieren, hat Wolfgang Neuss aufgehört. Doch Neuss‘ Testament ist uns geblieben. Auf CD und Video können wir seine krächzige Stimme auch heute noch genießen.

Ich frage mich, was Beautyful Neuss wohl in diesen Tagen sagen würde, wenn er leben würde und sehen müßte, daß deutsche Soldaten zum dritten Mal in diesem Jahrhundert einen Angriffskrieg gegen Jugoslawien führen, diesmal als Teil der NATO?

Vielleicht würde der Antimilitarist die Bundeswehrsoldaten an seine kurze Zeit als Wehrmachtssoldat erinnern und sie auffordern es ihm gleich zu tun:

„Als ich siebzehn war, hab ich mir in Rußland vor lauter Angst mal den Finger abgeschossen. War Krieg, und der Russe lag nur’n paar Meter entfernt von mir. Und ich wußte: Ich bin so kurzsichtig, daß ich sowieso nicht treffe. Eine Verletzung war die letzte Chance, aus dem Kessel rauszukommen. Ich nahm also den Karabiner 98K, ließ mich in einen Wassergraben fallen, hielt auf den Zeigefinger der linken Hand und drückte ab. Die Angst trieb mich zum Fortschritt.“

Literatur

Der totale Neuss. Wolfgang Neuss Gesammelte Werke, Rogner & Bernhard bei 2001, Frankfurt/M. 1997, 960 S., 33 DM

CDs

NEUSS Testament Die Villon Show, Conträr Musik, Lübeck 1997

Wolf Biermann zu Gast bei Wolfgang Neuss, 2001, Frankfurt/M 1965