Noam Chomsky, bedeutender US-amerikanischer Intellektueller und libertärer Kritiker der US-amerikanischen Politik, hat einen Hintergrund-Beitrag zum Jugoslawienkrieg und zur Kriegs(un)logik geschrieben, den wir euch hier nicht vorenthalten möchten:
Es hat viele Untersuchungen über die NATO (was in erster Linie bedeutet US-) Bombardierungen im Zusammenhang mit dem Kosovo gegeben. Viel wurde über das Thema geschrieben, nicht zuletzt Kommentare. Ich möchte ein paar allgemeine Anmerkungen machen und halte mich dabei an Fakten, die nicht ernsthaft in Frage gestellt werden.
Es geht hier um zwei grundlegende Punkte: 1. Welche sind die akzeptierten „Regeln der Weltordnung“, die hier zur Anwendung kommen sollten? 2. Wie lassen sich diese oder andere Erwägungen auf den Fall Kosovo anwenden?
Welche sind die akzeptierten „Regeln der Weltordnung“, die hier zur Anwendung kommen sollten?
Es gibt ein für alle Staaten verbindliches Regime internationaler Ordnung und Gesetze, basierend auf der UN-Charta, daran anschließenden Resolutionen und Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes. Kurzum, Androhung oder Einsatz von Gewalt sind geächtet, wenn sie nicht ausdrücklich vom Sicherheitsrat autorisiert wurden, nachdem dieser zu dem Schluß gekommen ist, daß friedliche Mittel versagt haben, oder als Mittel der Selbstverteidigung gegen „bewaffnete Angriffe“ (ein enges Konzept) bis der Sicherheitsrat handelt.
Selbstverständlich gibt es noch mehr dazu zu sagen. So gibt es mindestens Spannungen, wenn nicht sogar offene Widersprüche zwischen den Regeln der Weltordnung, wie sie in der UN-Charta niedergelegt worden sind und den Rechten, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, festgehalten worden sind.
Sie bilden den zweiten Pfeiler der Weltordnung, die nach dem zweiten Weltkrieg auf Initiative der USA etabliert wurde. Die Charta ächtet Gewalt, die staatliche Souveränität verletzt; die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte garantiert die Rechte von Personen gegen unterdrückerische Staaten. Das Anliegen der „humanitären Intervention“ entsteht aus dieser Spannung. Die USA / NATO nehmen im Kosovo das Recht auf „humanitäre Intervention“ in Anspruch, und das wird im Allgemeinen durch die Kommentare und Nachrichten der Medien unterstützt (im letzteren Fall, sogar reflexiv durch die Wahl der Ausdrucksweise).
Die Frage wird in einem Bericht der New York Times vom 27. März angesprochen, der mit „Juristen unterstützen den Einsatz von Gewalt“ im Kosovo übertitelt ist.
Es wird ein Beispiel gegeben: Allen Gerson, vormals Berater der US-Delegation bei den Vereinten Nationen. Zwei weitere Gelehrte werden zitiert. Einer von ihnen, Ted Galen Carpenter, „äußerte sich abschätzig über das Argument der Regierung“ und verneinte das angebliche Recht zur Intervention. Der dritte ist Jack Goldsmith, ein Spezialist für internationales Recht an der juristischen Fakultät in Chicago. Er sagt, daß die Kritiker der NATOBombardierungen „ein gutes juristisches Argument haben“, aber „viele Leute glauben, daß [eine Ausnahme für humanitäre Intervention] auf der Grundlage des Gewohnheitsrechts existiert“. Damit sind die angebotenen Beweise für die in der Überschrift angegebene, bevorzugte Schlußfolgerung zusammengefaßt.
Goldsmiths Bemerkung ist vernünftig, zumindest, wenn wir darin übereinstimmen, daß Fakten entscheidend für die Bestimmung des „Gewohnheitsrechts“ sind.
Wir sollten auch einen Gemeinplatz beachten: das Recht auf humanitäre Intervention, so es denn existiert, basiert auf den „guten Absichten“ der Intervenierenden, und diese Annahme basiert nicht auf ihrer Rhetorik, sondern auf ihrer historischen Bilanz, insbesondere auf ihrem Verhalten in Bezug auf die Einhaltung der Prinzipien internationalen Rechts, Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes, und so weiter. Wenigstens in Bezug auf andere ist dieses eine Binsenwahrheit.
Man betrachte z.B. die iranischen Angebote in Bosnien zu intervenieren, um Massaker zu verhindern, zu einer Zeit, als der Westen dieses ablehnte.
Diese wurden abgelehnt und verspottet (in Wirklichkeit ignoriert); wenn es außer der Unterordnung unter die Macht Gründe dafür gab, dann, weil beim Iran „gute Absichten“ nicht angenommen werden konnten. Ein rationaler Mensch stellt dann offensichtliche Fragen: ist die iranische Bilanz in Bezug auf Intervention und Terror schlimmer, als die der USA? Und weitere Fragen, wie z.B.: wie sollen wir die „guten Absichten“ des einzigen Landes bewerten, das ein Veto gegen die Entschließung des Sicherheitsrates, die alle Staaten aufruft, sich an internationales Recht zu halten, ablehnt? Was ist mit dessen historischer Bilanz? Wenn solche Fragen nicht zuoberst auf der Tagesordnung des Diskurses stehen, wird ein ehrlicher Mensch ihn als bloße Treue zur Doktrin abtun. Eine sinnvolle Übung besteht darin zu ermitteln, welcher Anteil der Literatur, Medien oder anderes, die Erfüllung solch elementarer Anforderungen gewährleistet.
Wie lassen sich diese oder andere Erwägungen auf den Fall Kosovo anwenden?
Im vergangenen Jahr kam es im Kosovo zu einer humanitären Katastrophe, die in überwältigendem Masse den jugoslawischen Streitkräften anzulasten ist. Die Hauptopfer sind albanische Kosovaren, ungefähr 90% der Bevölkerung dieses jugoslawischen Gebietes. Es wird allgemein geschätzt, daß es zu 2000 Toten und mehreren hunderttausend Flüchtlingen gekommen ist.
In solchen Fällen haben Außenstehende drei Möglichkeiten:
(I) zu versuchen die Katastrophe eskalieren zu lassen,
(II) nichts zu tun,
(III) zu versuchen die Katastrophe zu lindern.
Diese Möglichkeiten lassen sich durch andere gegenwärtige Beispiele illustrieren. Wir werden hier einige Beispiele ungefähr desselben Ausmaßes diskutieren und abschließend versuchen zu bestimmen, wie Kosovo in dieses Raster paßt.
(A) Kolumbien. Nach Schätzungen des US-Außenministeriums liegt die jährliche Zahl der politischen Morde durch die Regierung und ihre paramilitärischen Verbündeten ungefähr auf der Höhe des Kosovos und die Zahl der Flüchtlinge, die, in erster Linie, vor diesen Grausamkeiten fliehen liegt bei weit über einer Million.
Während des Anstiegs der Gewalt in den 90ern ist Kolumbien, in der westlichen Hemisphäre, zum größten Empfänger von Waffen und Ausbildung aus den USA geworden. Unter dem Vorwand eines „Drogenkrieges“ wird die Unterstützung derzeit noch verstärkt, obwohl alle ernstzunehmenden Kommentatoren diese Erklärung ablehnen. Die Clinton-Regierung hat Präsident Gaviria, unter dessen Amtsführung es nach Angabe von Menschenrechtsorganisationen zu einer „entsetzlichen Anzahl von Gewalttaten“ gekommen ist, besonders enthusiastisch hochgehalten. Er hat damit sogar noch seine Vorgänger übertroffen. Detaillierte Informationen sind reichlich verfügbar.
In diesem Fall zeichnet sich das Verhalten der USA aus durch (I): Ausweitung der Greueltaten.
(B) Türkei. Nach sehr konservativen Schätzungen fällt die Repression der Kurden durch die Türkei in die Kategorie des Kosovo. In den frühen 90ern erreichte sie einen Höhepunkt; ein Anzeichen ist die Flucht von über einer Million Kurden vom Land in die inoffizielle kurdische Hauptstadt Diyarbakir zwischen 1990 und 1994, als die türkische Armee die Dörfer auf dem Land zerstörte. Das Jahr 1994 sticht durch zwei Entwicklungen hervor: es war „das Jahr der schlimmsten Repression in den kurdischen Provinzen“ der Türkei, wie Jonathan Randal als Beobachter vor Ort schilderte, und das Jahr in dem die Türkei „größter Einzelimporteur US- amerikanischer Rüstungsprodukte und damit größter Waffenkäufer der Welt“ wurde. Als Menschenrechtsgruppen den Einsatz von US-Flugzeugen bei der Bombardierung von Dörfern aufdeckte, schaffte es die Clinton-Regierung, Gesetze, die das Aussetzen von Waffenlieferungen vorsehen, zu umgehen, so wie sie es auch in Indonesien und anderswo tat.
Kolumbien und die Türkei erklären ihre (durch die USA unterstützten) Greueltaten damit, daß sie ihre Länder gegen die terroristische Bedrohung verteidigen müssen.
Wie dies auch die jugoslawische Regierung tut.
Erneut verdeutlicht dieses Beispiel (I): den Versuch die Greueltaten zu eskalieren.
(C) Laos. Jedes Jahr werden Tausende Menschen, in erster Linie Kinder und arme Bauern, in der Ebene von Jars im Norden Laos getötet. Es scheint dies der Ort der massivsten, und wohl grausamsten, Bombardierungen ziviler Ziele in der Geschichte: Washingtons rasende Angriffe auf eine arme bäuerliche Gesellschaft hatten wenig mit den Kriegen in der Region zu tun. Die schlimmste Periode begann 1968, als Washington gezwungen war, Verhandlungen aufzunehmen (ausgelöst durch Druck der Bevölkerung und der Wirtschaft), wodurch die regelmäßigen Bombardierungen Nordvietnams beendet wurden.
Kissinger-Nixon entschieden sich dann dazu, die Flugzeuge zur Bombardierung von Laos und Kambodscha umzuleiten.
Die Toten stammen von „Bombies“, kleinen Antipersonenwaffen, weitaus schlimmer als Bodenminen: sie sind speziell konstruiert um zu töten und zu verstümmeln und haben keine Auswirkungen auf Lastwagen, Gebäude usw. Die Hochebene war gesättigt mit mehreren hundert Millionen dieser kriminellen Geräte, die nach Angaben des Herstellers Honeywell eine Fehlzündungsrate von 20%-30% besitzen. Diese Zahlen deuten entweder auf eine bemerkenswert schlechte Qualitätskontrolle oder aber eine gezielte Politik zur verzögerten Tötung von Zivilisten hin. Dabei stellten sie nur einen Bruchteil der eingesetzten Technologie dar, die auch fortgeschrittene Raketen beinhaltete, die Höhlen, in denen Familien Schutz suchten, durchdringen konnten. Derzeit werden die jährlichen Unfälle durch „Bombies“ von einigen Hundert pro Jahr bis zu „einer jährlichen nationalen Unfallrate von 20.000“ geschätzt, von denen mehr als die Hälfte zum Tod führen, nach Angaben des langjährigen Asien-Journalisten des Wall Street Journals, Barry Wein, in der Asien-Ausgabe des Magazins. Eine konservative Schätzung ist es denn, daß die Krise diesen Jahres in etwa vergleichbar mit dem Kosovo ist, wenngleich die Toten in der Mehrzahl Kinder sind, nach Angaben von Analysen aus Berichten des Mennonite Central Committee, welches seit 1977 dort, zur Linderung der anhaltenden Greuel, tätig ist.
Es gab Versuche Informationen über diese humanitäre Katastrophe zu veröffentlichen und sie zu beenden. Eine britische Mine Advisory Group (MAG) versucht die tödlichen Gegenstände zu entfernen, aber die USA „fehlen offensichtlich unter der Handvoll westlicher Organisationen, die MAG gefolgt sind“ berichtet die britische Presse, obwohl sie schließlich der Ausbildung einiger laotischer Zivilisten zugestimmt haben. Mit einiger Verärgerung berichtet die britische Presse auch über die Vorwürfe von MAG-Spezialisten über die Weigerung der USA ihnen die „Prozeduren zum Unschädlichmachen“ auszuhändigen, die ihre Arbeit „erheblich schneller und sicherer“ machen würden. Diese Prozeduren bleiben Staatsgeheimnis wie überhaupt die ganze Affäre in den Vereinigten Staaten. Die Bangkoker Presse berichtet über eine ganz ähnliche Situation in Kambodscha, insbesondere im Osten, wo die US-Bombardements seit Anfang 1969 am intensivsten waren.
In diesem Fall ist die Reaktion der USA (II): Nichtstun. Und die Medien und Kommentatoren reagieren mit Schweigen. Hierbei folgen sie dem Theorem, nach dem der Krieg gegen Laos als „Geheimkrieg“ angelegt war, was bedeutet, daß er bekannt war, aber Informationen unterdrückt wurden, wie auch im kambodschanischen Beispiel vom März 1969. Das Ausmaß an Selbstzensur war damals, wie auch in der gegenwärtigen Phase, außerordentlich. Die Bedeutung dieses schockierenden Beispiels sollte ohne weitere Bemerkungen offensichtlich sein.
Ich werde weitere Beispiele für die Varianten (I) und (II), von denen es reichlich gibt, überspringen, wie auch das große Schlachten irakischer Zivilisten durch eine besonders bösartige Form biologischer Kriegsführung.
Befragt nach ihrer Reaktion auf die Ermordung einer halben Million irakischer Kinder in 5 Jahren bezeichnete Madeleine Albright 1996 dies als „eine sehr schwierige Entscheidung“ im US-Fernsehen, aber „wir denken der Preis ist es wert“. Derzeitige Schätzungen liegen bei 500 getöteten Kindern monatlich und der Preis ist es immer noch „wert“. Diese und andere Beispiele könnten vielleicht auch im Hinterkopf behalten werden, wenn wir die Ehrfurcht einflößende Rhetorik über den endlich vernünftig funktionierenden „moralischen Kompaß“ der Clinton-Regierung, wie das Beispiel Kosovo zeige, lesen.
Was genau aber zeigt dieses Beispiel? Die Androhung von Bombardierungen durch die NATO führte zu einer scharfen Eskalation der Greueltaten der serbischen Armee und paramilitärischen Einheiten, und zum Abzug internationaler Beobachter, welches selbstverständlich dieselbe Wirkung hatte. Der Oberkommandierende General Wesley Clarke erklärte, daß die Intensivierung des serbischen Terrors und Gewalt, genau wie geschehen, „vollständig vorhersagbar“ gewesen war.
Zum ersten mal erreichte der Terror die Hauptstadt von Pristina, und es gibt glaubwürdige Berichte über ausgedehnte Zerstörungen von Dörfern, Ermordungen, Schaffung eines massiven Flüchtlingsstroms, vielleicht ein Versuch einen Großteil der albanischen Bevölkerung zu vertreiben, all dieses eine „vollständig vorhersagbare“ Konseqünz der Drohung mit und dem anschließenden Einsatz von Gewalt, wie General Clark richtig bemerkt.
Kosovo ist darum ein weiteres Beispiel für (I): den Versuch die Gewalt zu eskalieren, genau in Erwartung derselben.
Es ist fast zu einfach Beispiele für das unter (III) beschriebene Vorgehen zu finden, zumindest, wenn wir uns an die offizielle Rhetorik halten. Die groß angelegte, kürzlich erschienene, akademische Untersuchung über „humanitäre Intervention“ von Sean Murphy überprüft erneut die Bilanz nach dem Kellogg-Briand-Pakt von 1928, der Krieg als Mittel der Politik ausschloß, und weiter seit der UN-Charta, die diese Vorkehrungen verstärkte und darlegte.
In der ersten Phase, so schreibt er, waren der japanische Angriff auf die Mandschurei, Mussolinis Invasion in Äthiopien und Hitlers Besetzung von Teilen der Tschechoslowakei die bekanntesten Beispiele „humanitärer Intervention“.
Alle waren begleitet von moralisch erhebender humanitärer Rhetorik, wie auch sachlichen Rechtfertigungen. Japan wollte, mit Unterstützung eines führenden chinesischen Nationalisten, einer weitaus glaubwürdigeren Figur als allen, welche die USA jemals während ihrer Angriffe auf Südvietnam präsentieren konnten, ein „irdisches Paradies“ errichten, indem es die Mandschurier vor den „chinesischen Banditen“ verteidigte. Mussolini befreite Tausende von Sklaven während er die westliche „zivilisierende Mission“ ausführte. Hitler verkündete Deutschlands Absicht die ethnischen Spannungen und Gewalt beenden und „die nationalen Eigenheiten der deutschen und tschechischen Völker sicherstellen“ zu wollen, durch eine Operation, „die von dem ernsthaften Wunsch den wirklichen Interessen der in dieser Region lebenden Völker zu dienen geleitet wird“, in Übereinstimmung mit dem Willen derselben; der slowakische Präsident bat Hitler Slowakien zum Protektorat zu erklären.
Eine weitere hilfreiche intellektuelle Übung besteht darin, diese obszönen Rechtfertigungen mit denen zu vergleichen, die für Interventionen, einschließlich „humanitärer Intrerventionen“, in der Periode seit der UN-Charta angeboten werden.
In diesem Zeitraum ist wahrscheinlich die vietnamesische Invasion nach Kambodscha im Dezember 1978, die Pol Pots Greueltaten, die damals ihren Höhepunkt erreichten, beendete, das bezwingendste Beispiel für (III).
Vietnam nahm das Recht auf Selbstverteidigung gegen bewaffnete Angriffe, in einem der wenigen glaubwürdigen Fälle dieser Periode, in Anspruch: das Regime der Roten Khmer (Demokratisches Kampuchea, DK) führte mörderische Angriffe gegen Vietnam in den Grenzregionen aus. Die Reaktion der USA ist sehr erhellend.
Die Presse verurteilte die asiatischen „Preußen“ für ihren ungeheürlichen Bruch internationalen Rechts. Für ihr Verbrechen das Schlachten Pol Pots beendet zu haben wurden sie hart gestraft, erst durch eine (von den USA unterstützte) chinesische Invasion, dann durch die Errichtung extrem harter Sanktionen durch die USA. Die USA anerkannten das vertriebene DK als die offizielle kambodschanische Regierung aufgrund dessen „Kontinuität“ mit dem Regime Pol Pots, wie das US-Außenministerium erklärte. Nicht allzu verdeckt unterstützten die USA die Roten Khmer in ihren weiterhin stattfindenden Angriffen in Kambodscha.
Dieses Beispiel gibt uns mehr Auskunft über die das „Gewohnheitsrecht“, welches die Grundlage für die „sich herausbildenden gesetzlichen Normen humanitärer Intervention“ bilden.
Trotz der verzweifelten Anstrengungen der Ideologen zu beweisen, daß Kreise quadratisch sind, gibt es keine ernstzunehmenden Zweifel daran, daß die NATO-Bombardierungen das was von der zerbrechlichen Struktur internationalen Rechts bleibt, weiter unterminieren. Die USA machten dieses in der Diskussion, die zu der Entscheidung der NATO führte absolut deutlich. Außer Großbritannien (das mittlerweile ein so unabhängiger Akteur ist, wie die Ukraine in den Jahren vor Gorbatschow) waren die NATO-Länder der US-Politik gegenüber skeptisch und waren besonders verärgert über das „Säbelrasseln“ (Kevin Cullen, Boston Globe, 22.2.99) der US-Außenministerin Albright. Je genauer man sich heute der vom Konflikt betroffenen Region zuwendet, desto größer ist die Opposition zu dem Beharren Washingtons auf dem Einsatz von Gewalt, selbst innerhalb der NATO (Griechenland und Italien). Frankreich hat eine Resolution des UN-Sicherheitsrates verlangt, um die Stationierung von NATO- Friedenserhaltungskraeften zu ermächtigen. Die USA lehnten dieses rundheraus ab, dabei auf „ihrer Position, daß die NATO in der Lage sein sollte, unabhängig von den Vereinten Nationen zu handeln“, bestehend, wie Sprecher des Außenministeriums erklärten. Die USA weigerten sich, die Benutzung des „neuralgischen Wortes ‚ermächtigen'“ in der abschließenden Stellungnahme der NATO zu erlauben, nicht gewillt, der UN-Charta und internationalem Recht irgendwelche Autorität zuzugestehen; nur das Wort „zustimmen“ wurde erlaubt (Jane Perlez, New York Times, 11.2.99). Gleichfalls war die Bombardierung des Irak ein unverschämter Ausdruck der Mißachtung der UN, bis hin zum genaün Zeitpunkt, und wurde auch so verstanden. Und natürlich gilt dasselbe auch für die Zerstörung der Hälfte der pharmazeutischen Produktion eines kleinen afrikanischen Landes wenige Monate zuvor, ein Vorgang, der gleichfalls nicht anzeigt, daß der „moralische Kompaß“ sich von der Selbstgerechtigkeit entfernt, gar nicht zu reden von einer Bilanz die sofort höchstrangig untersucht würde, wenn Fakten relevant für die Bestimmung dessen wären, was „Gewohnheitsrecht“ ist.
So könnte auch ziemlich glaubhaft argumentiert werden, daß die weitere Zerstörung der Regeln der Weltordnung irrelevant ist, gerade so, wie sie ihre Bedeutung in den späten 30ern dieses Jahrhunderts verloren hatten. Die Verachtung der führenden Weltmacht gegenüber dem Rahmen der Weltordnung hat sich dermaßen gesteigert, daß es nichts mehr zu diskutieren gibt. Eine Analyse der internen dokumentierten Aufzeichnungen zeigt, daß diese Haltung bis in die frühesten Tage zurückverfolgbar ist, sogar bis hin zum ersten Memorandum des neugegründeten Nationalen Sicherheitsrates im Jahre 1947. Während der Jahre unter Kennedy wurde diese Haltung erstmals öffentlich ausgesprochen. Die wesentliche Neuerung der Jahre unter Reagan und Clinton ist, dass die Mißachtung internationalen Rechts und der Charta mittlerweile ganz offen vor sich geht.
Sie ist auch mit sehr interessanten Argumentationen gestützt worden, die auf den Titelseiten zu lesen waeren, und an erster Stelle schulischer und universitärer Lehrpläne stünden, wenn Wahrheit und Ehrlichkeit als wichtige Werte angesehen würden. Mit brutaler Deutlichkeit erklärten die obersten Behörden, daß der Internationale Gerichtshof, die UN und andere Institutionen irrelevant geworden seien, da sie nicht länger den Vorgaben der USA folgen würden, wie sie es noch in den ersten Nachkriegsjahren getan hätten.
Man könnte dann die offizielle Position vertreten. Das wäre eine ehrliche Position, zumindest wenn sie von der Weigerung das zynische Spiel der selbstgerechten Pose, und des Hochhaltens der verabscheuten Prinzipien internationalen Rechts, als hochgradig selektive Waffen gegen wechselnde Feinde einzusetzen, begleitet würde.
Während die Reagan-Anhänger bereits zu neuen Ufern aufbrachen, hat unter Clinton die Mißachtung der Weltordnung so zugenommen, daß sogar den Falken zuzurechnende Analytiker in Besorgnis geraten. In der aktuellen Ausgabe von Foreig Affairs, dem führenden Journal der herrschenden Elite, warnt Samuel Huntington davor, dass Washington einen gefährlichen Kurs einschlägt. In den Augen eines Großteils der Welt, wahrscheinlich sogar fast der gesamten, wie er schreibt, sind die USA dabei „zur verbrecherischen Großmacht zu werden“, die als „größte, einzelne äußere Bedrohung ihrer Gesellschaften“ angesehen würden. Die „Theorie internationaler Beziehungen“ der realistischen Schule, so fährt er fort, sagt voraus, daß es zu Koalitionen kommen könne, um ein Gegengewicht gegen diese verbrecherische Großmacht zu setzen.
Aus pragmatischen Gründen sollte deshalb diese Position überdacht werden.
Amerikaner, die ein anderes Bild ihrer Gesellschaft bevorzugen, könnten für ein Überdenken aus anderen als pragmatischen Gründen plädieren.
Wie beantwortet all dieses die Frage, was man im Kosovo tun soll? Es läßt sie unbeantwortet. Die USA haben einen Kurs gewählt, der, wie sie ausdrücklich anerkennen, die Greueltaten und Gewalt „vorhersagbar“ eskalieren lassen; ein Kurs der auch einen weiteren Schlag gegen das Regime internationaler Ordnung führt, welches den Schwachen wenigstens ein Minimum an Schutz vor räuberischen Staaten bietet. Auf lange Sicht sind die Konsequenzen jedoch nicht vorhersagbar.
Eine glaubwürdige Beobachtung ist, daß „jede Bombe die auf Serbien fällt und jeder ethnischer Mord im Kosovo vermuten läßt, daß es für Serben und Albaner kaum möglich sein wird Seite an Seite in einem wie auch immer gearteten Frieden zusammenzuleben“ (Financial Times, 27.3.99). Es wurde bereits bemerkt, daß einige der möglichen Langzeitergebnisse außerordentlich häßlich sind.
Ein Standardargument ist, daß wir etwas tun mußten: wir konnten nicht einfach untätig dabeistehen als die Greueltaten weitergingen. Das ist niemals wahr.
Eine Möglichkeit besteht immer darin, dem hippokratischen Prinzip zu folgen: „Zuallererst, füge kein Leid zu“. Wenn es keinen Weg gibt, bei diesem Prinzip zu bleiben, dann tue nichts.
Es gibt immer Wege, die in Betracht gezogen werden können. Diplomatie und Verhandlungen sind nie am Ende. Es ist wahrscheinlich, daß, nachdem die Vorwände des Kalten Krieges ihre Effektivität verloren haben, das Recht auf „humanitäre Intervention“ in den kommenden Jahren regelmäßiger in Anspruch genommen wird, vielleicht berechtigterweise, vielleicht nicht. In einer solchen Ära mag es lohnend sein, den Ansichten hochrespektabler Kommentatoren Beachtung zu schenken, ganz zu schweigen vom Internationalen Gerichtshof, der ausdrücklich in dieser Materie urteilte, dessen Entscheidung aber von den Vereinigten Staaten abgelehnt wurde und über dessen Kernpunkte nicht einmal berichtet wurde.
Es dürfte schwer sein respektablere Stimmen als Hedley Bull oder Leon Henkin in den wissenschaftlichen Disziplinen der internationalen Angelegenheiten und des internationalen Rechts zu finden. Bull warnte vor 15 Jahren davor, daß „einzelne Staaten oder Staatengruppen, die sich zu autorisierten Richtern des Wohlergehens der Welt aufschwingen, unter Mißachtung der Ansichten anderer, tatsächlich eine Bedrohung der internationalen Ordnung, und damit des wirksamen Vorgehens auf diesem Gebiet, darstellten“. In einem Standardwerk zur Weltordnung schreibt Henkin: „[der, L.S.] Druck, der das Verbot der Anwendung von Gewalt aushöhlt, ist bedauerlich, und die Argumente, mit denen die Anwendung von Gewalt in diesen Fällen gerechtfertigt wird, sind gefährlich und überzeugen nicht (…)
In der Tat kommen Verletzungen der Menschenrechte nur allzu häufig vor und wenn es erlaubt wäre, ihre Verletzung durch den Einsatz äußerer Gewalt zu beheben, gäbe es praktisch kein Gesetz den Einsatz von Gewalt irgendeines Staates gegen irgendeinen anderen Staat zu verhindern. Ich denke, die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte und dem Beheben anderer Ungerechtigkeiten, muß durch andere, friedliche Maßnahmen durchgesetzt werden, und nicht dadurch, daß der Aggression Tür und Tor geöffnet werden und die grundsätzlichen Fortschritte im internationalen Recht, die Ächtung des Krieges als Mittel der Politik und das Verbot des Einsatzes von Gewalt, zerstört werden.
Anerkannte Prinzipien des internationalen Rechts und der Weltordnung, bindende Vertragsauflagen, Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes, all dieses führt nicht automatisch zur Lösung bestimmter Probleme. Jede Angelegenheit muß für sich betrachtet werden. Diejenigen, die nicht die Standards von Saddam Hussein annehmen, müssen viele Beweise erbringen, um die Androhung und den Einsatz von Gewalt durchzusetzen und damit die Prinzipien der internationalen Ordnung zu verletzen. Vielleicht können diese Beweise erbracht werden, aber das muß gezeigt werden, nicht nur mit leidenschaftlicher Rhetorik vorgetragen werden. Die Konseqünzen solcher Verletzungen müssen genauestens bewertet werden, insbesondere was wir unter „vorhersagbar“ verstehen. Und für diejenigen, die wenigstens ein bißchen ernsthaft sind, gilt, daß die Gründe für das Vorgehen analysiert werden müssen, wiederum nicht einfach durch Verherrlichung unserer Führer und ihres „moralischen Kompasses“.
Anmerkungen
Der Text ist in der amerikanischen Fassung entnommen aus dem /APC/LABR/NEWSLINE. Wir danken sehr herzlich Lars Stubbe für die Übersetzung und Roland Brunner für die Zurverfügungstellung des Textes!