Vom ZDF am 19. Juni zur Demonstration gegen den Kölner Gipfel der G7-Staaten befragt, antwortete Kanzler Schröder gutgelaunt: "Die wollen doch das gleiche wie wir: Schuldenerlass für die Armen!" Leichter konnte bisher noch kein Repräsentant der G7-Staaten die Gegenaktivitäten zur Nebenveranstaltung des Regierungsspektakels selbst erklären.
Der Grund dafür lag nicht nur im reibungslos funktionierenden Co-Management zwischen Staats- und Polizeimaschinerie einerseits und Medienindustrie andererseits, unter deren eilfertiger Regie „öffentlich“ nur das werden konnte, was der Verlautbarungspolitik des Kanzleramts genehm war. Er lag auch in der Schwäche aller Teile der Opposition, der es zu keiner Zeit gelang, die Selbstinzenierung der Macht sichtbar und nachhaltig infragezustellen.
Abgesehen vom Alternativgipfel zur G7-Show blieben die TeilnehmerInnenzahlen sämtlicher Veranstaltungen deutlich hinter den Erwartungen zurück; auf der Gegenseite hatten 12.000 PolizistInnen in einer den ganzen Juni andauernden flächendeckenden Besetzung der Kölner Innenstadt jede Möglichkeit eines aktiven Regelverstosses vorab ausgeschlossen. Dabei waren die ursprünglichen Erwartungen der die Mobilisierung tragenden Gruppen ganz andere gewesen. Daß im Juni sowohl die Regierungschefs der EU (3. – 6. Juni) als auch die der G7-Staaten (18./19. Juni) in Köln zusammentreffen wollten, sollte zum Anlaß der seit Jahren größten Manifestion einer breiten Opposition werden. Nicht nur zu den beiden Gipfelterminen, sondern den ganzen Monat über sollten „Alternativen zur herrschenden Weltordnung“ debattiert und demonstriert werden – auf zwei international vorbereiteten Massenkundgebungen, auf zwei Gegen- oder Alternativkongressen, durch ein „Widerstandscamp“, durch die Mitwirkung einer Interkontinentalen Karawane, einen weltweit vorbereiteten ‚Aktionstag‘ und in einer Vielzahl kleinerer Aktivitäten zwischen den beiden Gipfeln. Hintergrund dieses Programms war der erwartete und dann auch eingetretene Regierungswechsel im September 1998. Nicht, daß irgendjemand sich Illusionen über die Politik einer rotgrünen Regierung gemacht hätte. Nur: der Regierungswechsel selbst wurde – in der Folge derjenigen in England, Frankreich und Italien – als Symptom einer tiefgreifenden Hegemoniekrise des neoliberalen Projekts gedeutet.
Gleichsam im Windschatten eines erstmals seit nahezu zwanzig Jahren wieder sozialdemokratisch regierten Europa sollte sich die Linke wieder zurückmelden, um den „Wechsel“ einzufordern, der gesellschaftlich offensichtlich gewünscht, von der rotgrünen Koalition aber nicht einmal im Ansatz angepeilt wurde. Träger dieser autonomen Gegenöffentlichkeit wollte das ‚Bündnis Köln 99‘ werden, zu dem sich – O-Ton der Selbstdarstellung – der „emanzipative Teil der Zivilgesellschaft“ zusammenschloss. Dieser reichte dann von den Jugendorganisationen der SPD und der Grünen über VertreterInnen der Gewerkschaften und der Kirchen, Kampagnen wie den ‚Euromärschen‘ und ‚Kein Mensch ist illegal‘, Nicht-Regierungs- Organisationen wie WEED und medico international, Bürgerinitiativen wie dem BUND, dem Netzwerk Friedenskooperative und dem Komitee für Grundrechte und Demokratie bis hin zu den verschiedenen Gruppen des ‚Bundesweiten Linksradikalen Anti-EU/Anti-G7-Plenums‘ (LIRA). Früh schon kam es zur definitiven Trennung des LIRA vom Rest des Bündnisses, wenig später kam es in beiden Zusammenschlüssen zu weiteren Spaltungen. Diese Spaltungen waren allerdings nicht der wesentliche Grund für das letztendliche Scheitern der Mobilisierungen. Vielmehr stellte sich spätestens nach dem Jahreswechsel heraus, dass die angenommene Hegemoniekrise des von den Sozialdemokratien bruchlos fortgesetzten neoliberalen Projekts gar nicht vorlag. Den letzten Beweis erbrachte der nun tatsächlich von niemandem erwartete Krieg gegen Jugoslawien. Alle Spekulationen über eine in den Gegenaktivitäten zum Doppelgipfel erreichbare Öffnung der Gesellschaft nach links waren schon in den ersten Kriegstagen Makulatur geworden: In dem Augenblick nämlich, wo hingenommen werden musste, dass nicht einmal die militärische Verwüstung Jugoslawiens durch die rotgrün dominierte EU bzw. die NATO die erreichte Entpolitisierung der Gesellschaft zu knacken vermochte. Der Rest war dann eben genau das, was übrig blieb. Am 29. 5. zogen 35.000 Menschen durch Köln, um gegen den EU-Gipfel zu demonstrieren.
Was von der blossen Zahl her noch ganz beeindruckend scheint, schrumpft aufs angemessene Format, wenn realisiert wird, dass nur die Hälfte der DemonstratInnen aus der BRD kamen: So erfreulich die internationale Mobilisierungsfähigkeit der Euromärsche auch ist, so enttäuschend zugleich die dadurch eben nicht aufzuhebende Schwäche der lokalen Kampagne. Der Gegenkongress, eine auf Diskussion angelegte Arbeitskonferenz einschliesslich eines ‚Europäischen Erwerbslosenparlaments‘, wurde von den Medien weitgehend ignoriert. Noch schwächer erwartungsgemäss die massgeblich von der Ökologischen Linken, der Roten Hilfe und der Bremer Gruppe ‚Perspektive‘ organisierte linksradikale Demonstration am 3. 6. Die 3.500 DemonstrantInnen hätten sicherlich mehr von ihrer Reise nach Köln gehabt, wenn sie den radikalen Block der Demonstration vom 29. 5. verstärkt hätten, statt weitab von der Innenstadt nur für sich zu demonstrieren. Auf dem parallel angesetzten linksradikalen Kongress kulminierte das Sektierertum in einer weiteren Spaltung, weil die LIRA-Mehrheit ein eigenständiges ‚antinationales‘ Forum verhindern wollte, dass dann eben ausserhalb des Kongresses durchgeführt wurde – und immerhin mehr TeilnehmerInnen vorweisen konnte als der LIRA-Kongress.
Der federführend von den Nicht-Regierungs-Organisationen WEED und medico international sowie der Kampagne ‚Kein Mensch ist illegal‘ vorbereitete ‚Alternative Weltwirtschaftsgipfel‘ am 17./18. Juni war wenigstens von den BesucherInnenzahlen her erheblich erfolgreicher. Zusammen mit den TeilnehmerInnen der vom ‚Anti-MAI- Komitee‘ und dem NRO-Frauenforum schon am 16. Juni durchgeführten Veranstaltungen kamen weit mehr als 800 Menschen zusammen – die VeranstalterInnen hatten höchstens 600 erwartet. Allerdings gingen die Planungen auch hier nicht auf. Der Kongress war nicht als Arbeits- und Diskussionskonferenz angelegt, sondern stark auf die z.T. prominenten ReferentInnen ausgerichtet. Damit wurde zunächst einmal auf eine markante Beachtung in den Medien spekuliert, die in Grenzen auch erreicht wurde. Darüber hinaus aber sollten die aus aller Welt eingeladenen Linksintellektuellen wenigstens Umrisse eines neuen emanzipativen Projekts artikulieren – die eingangs erwähnte Hegemoniekrise des Neo-Liberalismus vorausgesetzt.
Angesichts des ungehinderten Durchmarschs der NATO- bzw. der EU-Regimes im Jugoslawienkrieg war davon keine Rede mehr. Sowohl den eher reformistisch als auch den eher radikal eingestellten ReferentInnen blieb jetzt kaum mehr als die Wiederholung der altbekannten Resultate ihrer altbekannten Analysen von der Marginalisierung linker Alternativen im Fortgang des schlechten Bestehenden.
Dass unter solchen Umständen überhaupt 10.000 Menschen zur Demonstration am 19. 6. kamen, konnte da schon als Erfolg gewertet werden. Allerdings gilt hier derselbe Vorbehalt wie schon zur Demonstration der Euromärsche: nur die Hälfte der DemonstrantInnen war dem Aufruf des ‚Bündnis Köln 99‘ gefolgt, die andere einem Aufruf kurdischer Organisationen gegen die Entführung Abdullah Öcalans. Auch hier ist nicht die Internationalität einer Linken in Deutschland das Problem, im Gegenteil. Fatal ist die dabei offenbar werdende Schwäche der Gegengipfelmobilisierung als solcher: die 4.000 KurdInnen und ihre deutschen und türkischen UnterstützerInnen wären an diesem Tag auch in Frankfurt oder Hamburg zusammengekommen, während andersherum eben nicht gesagt werden kann, dass ohne die Entführung Öcalans 10.000 Menschen in Köln demonstriert hätten.
Alles negativ also, nichts in Sicht? Nicht ganz. Im Gegenzug nämlich auf die sektiererischen Tendenzen, die einerseits im Bruch zwischen dem ‚Bündnis Köln 99‘ und dem LIRA, andererseits in beiden Bündnissen selbst sichtbar wurden, muss als positiv vermerkt werden, dass sich über diese Spaltungen hinweg eineArt Zentrum herauskristallisiert hat, in dem bei Anerkennung der gegebenen Unterschiede in Organisationsform, Tätigkeitsfeld und ‚Linie‘ eine offene und solidarische Zusammenarbeit möglich war. Hier fiel auf, dass sowohl der Organisationsfetischismus früherer Tage als auch damit verbundene Scheinalternativen wie die zwischen ‚Reform und Revolution‘ in einer freien und experimentellen Haltung überwunden waren. Das ist ein Fortschritt, der nicht geringgeschätzt werden darf und die erste Voraussetzung für die Konstitution einer erfahrungsoffenen und folglich pluralen Linken bildet – jenseits realpolitischer Selbstaufgabe und verbalradikaler Kraftmeierei. Innerhalb dieses Kreises bildete sich denn auch der Wunsch heraus, diese Zusammenarbeit in einem längerfristig angelegten Diskussionsprozess fortzusetzen. Dessen Ziel wird darin liegen, die Alternativen herauszuarbeiten, die in der Gipfelmobilisierung nicht durchbrachen. Einigkeit besteht auch darüber, dies entlang der Problemstellungen zu versuchen, die auch das Thema des Alternativkongresses waren: Gegenstrategien zu den Machtverhältnissen des globalisierten Kapitalismus, Widerstand gegen den doppelten Angriff, den neoliberale Politiken einerseits über die Folgen der Erwerbslosigkeit, andererseits über die Verschärfung von Arbeitszwang und Zwangsarbeit vorantragen, praktische Solidarität mit den MigrantInnen aller Länder gegen Nationalismus, Rassismus und Krieg. Einigkeit besteht schliesslich auch darüber, dass der Sinn einer solchen Zusammenarbeit nicht in der Bildung einer zentralisierenden Einheitsorganisation besteht, sondern darin, jeweils vor Ort und in gegenseitiger Unterstützung wieder handlungsfähig zu werden. Denn die entscheidende Lehre von Köln liegt sicherlich in der Einsicht, dass die gegenwärtige Linke gesellschaftlich relevante Kampagnen deshalb nicht durchführen kann, weil ihr die lokale Verankerung fehlt – im Stadtteil, in den Betrieben, in den Schulen und Universitäten, in der Zersplitterung der laufenden Lebens und quer zu den Spaltungen des Sozialen. Dort muss mit dem Neuaufbau begonnen werden.