transnationales / antimilitarismus

Kosovo/a: Kein Frieden in Sicht

Es gilt jetzt, die radikale Opposition im Blick zu behalten

| Andreas Speck

Seit dem 10. Juni schweigen in Jugoslawien die Waffen - zumindest offiziell. Der Krieg der NATO gegen Jugoslawien wurde mit dem Einlenken Jugoslawiens beendet. Ein Militärabkommen zwischen der NATO und Jugoslawien auf der einen Seite, und zwischen der NATO und der UÇK auf der anderen Seite besiegelte formal diesen Waffenstillstand. Sieger dieses Krieges ist im wesentlichen die NATO, dicht gefolgt von der UÇK, die ihrem Ziel eines albanischen Kosovo/a näher gekommen ist. Die langfristigen politischen und gesellschaftlichen Folgen dieses Krieges lassen sich bisher kaum erahnen. Fest steht allerdings, daß die Arbeit für antimilitaristische Gruppen nach dem Krieg nicht leichter geworden ist. (Red.)

„Die Hauptaufgabe unserer Streitkräfte ist nicht, Friedensmissionen zu betreiben, sondern Kriege zu gewinnen“, so der erste Sicherheitsberater von US-Präsident Bill Clinton 1994 (1). Diese Aufgabe haben die US-Streitkräfte in Bezug auf Jugoslawien unzweifelhaft erfüllt, wenn auch im Verbund mit der NATO und verkleidet als „humanitäre Intervention“. Nach 79 Tagen Krieg und 35.219 Luftangriffen (2) ist die Bilanz verheerend.

Die UN-Wirtschaftskommission für Europa zitiert eine Gruppe unabhängiger jugoslawischer ÖkonomInnen zu den Zerstörungen in Jugoslawien. Demnach wurden durch die NATO-Bombardierungen zivile Güter im Wert von 30 Milliarden Dollar vernichtet, darunter mehr als 200 Fabriken, 190 Schulen, 50 Spitäler, 50 Brücken und 5 Flughäfen (3). Nach westlichen Schätzungen gab es in Jugoslawien insgesamt ca. 5.000 Tote, überwiegend unter der Zivilbevölkerung (4). Wenig Zerstörungen sah sich dagegen der jugoslawische Militärapparat ausgesetzt. Nach einem Bericht der Times wurden von den KFOR- Truppen im Kosovo/a lediglich die Wracks dreier zerstörter Panzer gefunden, dafür aber zahlreiche Panzerattrappen (5). Dies steht in eklatantem Widerspruch zu den Angaben der NATO: demnach wären mehr als 102 Flugzeuge, 427 Artilleriegeschütze, 269 Schützenpanzer, 151 Panzer, 283 andere Militärfahrzeuge, 16 Befehlsstellungen und 29 Munitionslager zerstört worden (6). Gegen wen richtete sich eigentlich dieser „humanitäre Krieg“?

Unerwartet schnell kehrten die Flüchtlinge in den Kosovo/a zurück. In ein Kosovo/a allerdings, das nicht nur von den Angriffen der NATO gezeichnet war, mehr noch von den Zerstörungen der jugoslawischen Militärs, Polizei und paramilitärischer Einheiten. Nach Angaben der UN waren mehr als 60.000 Häuser ganz zerstört worden, 100.000 Häuser sind nicht mehr bewohnbar. Allein in den ersten Wochen kamen 170 Menschen durch Minen oder noch nicht explodierte Splitterbomben der NATO ums Leben – 40 % davon durch Splitterbomben (7).

Schwerwiegender sind jedoch die Schäden an der Gesellschaft.

Das Ausmaß der Traumatisierungen läßt sich allenfalls erahnen, beschreiben läßt es sich nicht. Nahezu 40 % der kosovo-albanischen Bevölkerung waren während des Krieges aufgrund der serbischen Vertreibungspolitik geflohen, eine Zahl, die unvorstellbar ist. Auch jetzt noch sind viele Tausende albanische Gefangene in serbischen Gefängnissen – eilig verlegt während des Abzugs der jugoslawischen Militärs im Juni (8). Über ihr Schicksal ist wenig bekannt.

Doch es wäre zu einfach, die KosovarInnen nur als Opfer zu betrachten. Die UÇK trägt nicht nur ihren Anteil an der Eskalation des Konfliktes zum Krieg, sie spielt auch im Nachkriegs-Kosovo/a eine nicht gerade friedensfördernde Rolle.

Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) sind mittlerweile 180.000 SerbInnen und Roma aus dem Kosovo/a nach Südserbien oder Montenegro geflohen (9) – ohne daß ähnliche Bilder von Flüchtlingen über bundesdeutsche Fernsehbildschirme flimmern wie im Frühjahr diesen Jahres im Fall der kosovarischen Flüchtlinge. Von den 200.000 SerbInnen, die vor dem Einmarsch der KFOR im Kosovo/a lebten, sind nur noch ca. 20.000 geblieben – in der Provinzhauptstadt Pristina harren von ehemals 40.000 SerbInnen nur noch 2.000 aus (10). Von 30.-40.000 Roma befinden sich ebenfalls nur noch 6.-7.000 im Kosovo/a (11).

Human Rights Watch schreibt in einem ausführlichen Bericht:

„Ethnische AlbanerInnen haben sich an vielen Brandstiftungen und Plünderungen serbischen und Roma-Eigentums beteiligt, und, in einigen Fällen, an gewaltsamen Angriffen auf ihre NachbarInnen. Zurückkehrende Flüchtlinge, von denen viele ihren eigenen Besitz vor Juni durch Brandstiftung und Diebstahl verloren haben, waren insbesondere in die Vertreibung von SerbInnen und Roma aus ihren Häusern verwickelt. Die schwersten Ausbrüche von Gewalt wurden aber von Mitgliedern der UÇK ausgeführt. Obwohl die Führung der UÇK am 20. Juli eine Erklärung veröffentlichte, in der sie Angriffe auf SerbInnen und Roma verurteilte, und obwohl der politische Führer Hashim Thaqi öffentlich das Massaker an 14 serbischen Bauern vom 23. Juli verurteilte, bleibt unklar, ob diese Schläge und Morde von lokalen Einheiten der UÇK durchgeführt wurden, die ohne offizielle Zustimmung arbeiteten, oder ob sie eine koordinierte Politik der UÇK repräsentieren.“ (12)

Eines der Ziele des NATO-Angriffs war erklärtermaßen ein „multi-ethnisches“ Kosovo/a. Die aktuelle Entwicklung straft diese Erklärungen Hohn.

Schon vor dem Krieg war ein Dialog zwischen KosovarInnen und SerbInnen nicht leicht. Der bis Sommer 1998 überwiegend gewaltfreie Widerstand der KosovarInnen war stark nationalistisch geprägt, und anstatt Kontakte mit serbischen Oppositionsgruppen zu suchen, setzte man alle Hoffnung auf die „internationale Gemeinschaft“. Versuche des Dialogs wurden mit Argwohn betrachtet (vgl. GWR 228). Mit der zunehmenden Stärke der UÇK seit dem Massaker von Drenica im Frühjahr 1998 hat nicht gerade zu einer Zunahme der Dialogbereitschaft beigetragen, AktivistInnen, die sich für Dialog einsetzten, wurden teilweise sogar bedroht. Das gilt mehr noch nach dem Krieg und den zahlreichen Vertreibungen in diesem Jahr. Im Unterschied zu Bosnien, wo ebenfalls keine wirklich multi-ethnische Gesellschaft wieder aufgebaut werden konnte, gab es im Kosovo/a „eine lange Geschichte des Hasses. … Es gab keine einzige Zeit in der Geschichte, in der es friedliche Koexistenz gab“ (13).

Die UÇK gebärdet sich derzeit im Kosovo/a als moderate Kraft, gleichzeitig hintertreibt sie ihre eigene Entwaffnung und versucht, sich als regionale Ordnungskraft zu etablieren. Die UN-Übergangsverwaltung im Kosovo/a und die KFOR stehen dem entweder machtlos oder willenlos gegenüber.

Der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen für den Balkan, Carl Bildt, erklärte in einem Interview den Dayton-Vertrag im Hinblick auf ein multi-ethnisches Bosnien für gescheitert. Und recht nüchtern zieht er eine Bilanz der NATO-Luftangriffe: „Das erste Ziel war, den jugoslawischen Präsidenten zur Unterzeichnung des Abkommens von Rambouillet zu bomben. Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Das zweite Ziel war, eine humanitäre Katastrophe zu vermeiden. Dies gelang ebenfalls nicht. Später sollten mit den Luftangriffen die Bedingungen für die Heimkehr der Kosovo-Flüchtlinge geschaffen werden. Das ist gelungen. Ob wir aber wirklich eine bessere Zukunft und Stabilität auf dem Balkan geschaffen haben, kann erst in einigen Jahren beurteilt werden.“ (14) Zweifel sind angebracht.

Jugoslawien: Wandel wohin?

Seit dem Krieg ist in den westlichen Medien wieder häufiger über die serbische Opposition zu lesen. Und seit Ende des Krieges haben innnerhalb Serbiens Proteste gegen Milosevic massiv zugenommen. Am 19. August demonstrierten als vorläufiger Höhepunkt der Proteste in Belgrad 150.000 Menschen für den Rücktritt Milosevic’s (15), doch gleichzeitig zeigte diese Demonstration die Zersplitterung der Opposition. Das Thema Kosovo oder des serbischen Nationalismus spielt in der Opposition keine Rolle, sie „kümmert sich nicht um ihre eigene Verantwortung und das nationalistische Erbe“, wie Bojan Aleksov es in einer Veranstaltung von Patchwork und WRI ausdrückte (16).

Die Aussichten für Jugoslawien bzw. Serbien sind nicht gut. Ein Aspekt des Wandels scheint zu sein, daß sich die „Bundesrepublik Jugoslawien“, bestehend aus Serbien und Montenegro, weiter auflöst und sich allenfalls in einen lockeren Staatenbund umwandelt. Zynisch läßt sich schon jetzt behaupten, daß Serbien und Montenegro nicht mehr als die Geheimpolizei gemeinsam haben (17).

Die wesentlichen oppositionellen Kräfte sind Vuk Draskovic mit seiner „Serbischen Erneuerungsbewegung“ (SPO) und Zoran Djindjic und die Demokratische Partei als stärkste Kraft der „Allianz für den Wandel“. Beide spielten bereits während der Winterdemonstrationen im Winter 1996/97 eine führende Rolle (vgl. GWR 215), entzweiten sich jedoch danach. Während Draskovic später in die Regierung Milosevic eintrat und erst nach Beginn des Krieges das Handtuch warf, blieb die Demokratische Partei in der Opposition.

Frei von Nationalismus sind beide nicht. Während Draskovic’s Serbische Erneuerungsbewegung mit Recht als „ultranationalistisch“ bezeichnet werden kann (vgl. GWR 215), scheut sich aber auch die Demokratische Partei nicht vor Bündnissen mit NationalistInnen. Während der Winterdemonstrationen 1996 erklärte Zoran Djndjic: „Es ist … klar, daß wir in Serbien nie eine Politik ohne nationale Komponente betreiben könnten.“ (18) Das Parteiprogramm von 1995 fordert daher auch eine weitgehende Integration der bosnischen SerbInnenrepublik „Republik Srpska als ein erster Schritt in Richtung eines gemeinsamen Lebens der Mehrheit aller SerbInnen aus dem ehemaligen Jugoslawien“ (19). Gleichwohl bleibt Zoran Djindjic der Hoffnungsträger des Westens für ein Jugoslawien nach Milosevic, verspricht doch das Parteiprogramm die Integration Jugoslawiens in die globale Marktwirtschaft.

Die wirtschaftliche Situation ist ein wesentliches Hindernis für unabhängige Gruppen in Serbien. Mittlerweile hat Serbien Albanien den Rang als ärmstes Land Europas abgenommen, der Durchschnittslohn einer/s ArbeiterIn beträgt ca. 60 DM pro Monat. Ein Vertreter der unabhängigen Gewerkschaft Nezavisnost erklärte daher auf einer Tagung in Berlin resigniert, die Frage sei doch nur, „ob zuerst Wahlen stattfinden und dann der Bürgerkrieg, oder umgekehrt“ (20), eine Einschätzung, die auch von einer Vertreterin der Frauen in Schwarz im privaten Gespräch geteilt wurde.

Jede radikale Opposition ist weiter marginalisiert. Ihre Situation hat sich seit Ende des Krieges nicht wesentlich gebessert. „Wir sind keineswegs willkommen vom Regime, und wir sind auch nicht besonders beliebt unter der Bevölkerung“, erklärte Zorica Trifunovic von der Frauen in Schwarz bei einer Diskussion (21). Trotzdem beginnen auch diese Gruppen, sich erneut zu organisieren. Bereits im letzten Sommer gab es ein Bündnis von kleinen Gruppen, die gegen der Krieg zu mobilisieren versuchten. In mehr als 160 Städten mit über 10.000 EinwohnerInnen wurden damals Flugblätter mit dem Aufruf zur Kriegsdienstverweigerung verteilt (vgl. GWR 223). Die gleiche Gruppe von Leuten versucht jetzt unter dem Namen „Youth Social Action“ gegen Milosevic zu mobilisieren, wobei Teil der Aktion eine Unterschriftensammlung für den Rücktritt von Milosevic ist. Dies geschieht allerdings in dem Bewußtsein, daß nicht Milosevic allein das Problem darstellt, denn bei Beibehaltung der alten Strukturen sind grundlegende Veränderungen ausgeschlossen. Ziel der Aktionen ist, „die Leute zu ermutigen, darüber nachzudenken, was sie wirklich wollen, und wer ihre Interessen vertreten kann“ (22).

Die Zukunft Jugoslawiens ist unklar, die Inhalte der Proteste der Opposition sind wieder – wie bereits 1996/97 – ambivalent. Immer noch aktuell ist daher eine Einschätzung von Bojan Aleksov zu den Protesten von 1996/97: „Die Schuld und Verantwortung der Menschen in Serbien für den Krieg in Bosnien und Kroatien [und Kosovo/a, A.S.] ist offensichtlich. Die Entgiftung von Krieg und nationalistischer Einstellung ist ein langfristiger Prozeß, der nur in einer Gesellschaft möglich ist, in der grundlegende Menschen- und BürgerInnenrechte respektiert werden.“ (23) Davon ist Jugoslawien weiterhin weit entfernt.

Aufgaben transnationaler Solidarität

Während sich im Kosovo/a internationale Organisationen und humanitäre Einrichtungen die Klinke in die Hand geben, erhalten Serbien und Montenegro fast keine Hilfe. Doch auch im Kosovo/a klafft eine große Lücke, sobald es um den Aufbau oder die Stärkung radikaldemokratischer antinationalistischer Kräfte geht. Durch die zunehmende Bedeutung der UÇK nimmt ihr Spielraum eher ab als zu.

Das gilt auch für Serbien selbst. Die Situation von AntimilitaristInnen und Kriegsdienstverweigerern, von feministischen und anderen Gruppen, die sich dem nationalen Mainstream widersetzen, verlangt nach transnationaler Unterstützung. Diese Gruppen werden selbst dann, wenn Milosevic im günstigsten Fall (der derzeit realistisch erscheinenden Optionen) durch pro-westliche Gruppen gestürzt wird, weiterhin marginalisiert bleiben und – wie die Erfahrungen in den ehemaligen kommunistischen Staaten Osteuropas zeigt – mit massiven Schwierigkeiten zu rechnen haben, während das Interesse der sogenannten „internationalen Gemeinschaft“ schnell nachlassen wird.

Transnationale Solidarität sollte nicht nur Dialoginitiativen zukommen, die sich der Verständigung über ethnische Grenzziehungen hinweg verschrieben haben (so notwendig sie auch sind!), sondern auch die radikale Opposition im Blick behalten.

(1) Frankfurter Rundschau, 9. Juni 1999

(2) Frankfurter Rundschau, 19. Juni 1999

(3) Frankfurter Rundschau, 3. Juli 1999

(4) Frankfurter Rundschau, 12. Juni 1999

(5) Frankfurter Rundschau, 25. Juni 1999

(6) Frankfurter Rundschau, 6. Juni 1999

(7) Howard Clark, Vortrag beim WRI/Patchwork-Seminar "Das Antlitz des Militärs im Wandel", Steinkimmen, 9. August 1999 (die Mitschrift der Diskussion kann unter www.comlink.apc.org/patchwork eingesehen werden)

(8) Human Rights Watch: Human Rights Groups Demand Information on Thousands of Detainees and Missing Persons From Kosovo. 6. August 1999. Siehe auch Washington Post vom 10. Juli 1999

(9) Frankfurter Rundschau, 13. August 1999

(10) Frankfurter Rundschau, 21. August 1999

(11) Human Rights Watch: Federal Republic of Yugoslavia: Abuses Against Serbs and Roma in the New Kosovo. August 1999. www.hrw.org

(12) ebenda

(13) Bojan Aleksov, Vortrag beim WRI/Patchwork-Seminar "Das Antlitz des Militärs im Wandel", Steinkimmen, 9. August 1999 (die Mitschrift der Diskussion kann unter www.comlink.apc.org/patchwork eingesehen werden)

(14) Frankfurter Rundschau, 17. August 1999

(15) Frankfurter Rundschau, 21. August 1999

(16) Bojan Aleksov, Vortrag beim WRI/Patchwork-Seminar "Das Antlitz des Militärs im Wandel", Steinkimmen, 9. August 1999 (die Mitschrift der Diskussion kann unter www.comlink.apc.org/patchwork eingesehen werden)

(17) Frankfurter Rundschau, 28. August 1999

(18) Frankfurter Rundschau, 16. Dezember 1996

(19) Demokratische Partei Serbiens: Parteiprogramm, Belgrad, 15. April 1995.

(20) Frankfurter Rundschau, 28. August 1999

(21) Zorica Trifunovic: Vortrag beim WRI/Patchwork-Seminar "Das Antlitz des Militärs im Wandel", Steinkimmen, 9. August 1999 (die Mitschrift der Diskussion kann unter www.comlink.apc.org/patchwork eingesehen werden)

(22) Zorica Trifunovic, 9. August 1999

(23) Bojan Aleksov: Keine Illusionen. graswurzelrevolution Nr. 215, Januar 1997