Gunnar Heinsohn: Lexikon der Völkermorde. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1999, 469 S., 19,90 DM
„Verbrennt euch die Zunge nicht, sagt nicht Deutschland.“ (Ernst Jandl)
Am Ausgang des gewalttätigsten Jahrhunderts der an Grausamkeiten nicht armen Menschheitsgeschichte, mit seiner ‚Erfindung‘ und Durchführung der industriellen Massentötung von Millionen Jüdinnen und Juden durch den Nationalsozialismus Bilanz zu ziehen, ist bedrückend. Ein jüngst erschienenes Handbuch über die Völkermorde des 20. Jahrhunderts samt der (fast ausschließlich männlichen) HaupttäterInnen hat sich dieser nicht leichten Aufgabe angenommen.
Sein Herausgeber Gunnar Heinsohn vom „Raphael-Lemkin-Institut für Xenophobie- und Genozidforschung“ (1) an der Universität Bremen legt ein „opferorientiertes“ (S. 9) Lexikon vor: „Genozid bzw. genozidal steht für Völkermord im Sinne der Völkermordkonvention von 1948, also für Morde aus ethnischen, nationalen, rassischen und religiösen Motiven.“ (S. 10)
Für die in dem Begriff „Genozid“ nicht enthaltenen Megatötungen hat Rudolph J. Rummel (2) 1992 den Begriff „Demozid“ geprägt, der über die UN-Konvention gegen Völkermord 1948 hinausgeht und „sich auf alle vorsätzlich oder bewußt fahrlässig menschen- bzw. regierungsgemachten Megatötungen außer Krieg“ (S. 110), also staatlichen Massenmord an ZivilistInnen, bezieht, d.h. Ermordung des politischen Gegners, Vernichtung durch Arbeit, Deportation, Entzug medizinischer Versorgung, Flächenbombardements usw..
Zu begrüßen ist dieses Nachschlagewerk, dem Heinsohn einen Abriß über die Völkermordforschung samt quantitativer Gesamtübersichten voranschickt (3), auch deshalb, weil die einzelnen Genozide nicht relativiert werden.
Allerdings wird deutlich herausgestellt, daß das von den NationalsozialistInnen verfolgte Ziel, sämtliche Mitglieder einer Gruppe, nämlich die Jüdinnen und Juden, auf dem gesamten Erdball zu ermorden, die Singularität dieses Menschheitsverbrechens ausweist.
Wiederholt hat Heinsohn darauf hingewiesen, daß Hitler mit dem Genozid am Judentum auf die „Ausmerzung der jüdischen Ethik“ abzielte:
„Ich vertrete die Auffassung, daß der Mord an den Juden (…) der Versuch gewesen ist, die Ethik des Judentums zu beseitigen, die ihren überwältigenden Kerngedanken in dem aus der Opferverwerfung resultierenden Recht auf Leben hat. (…) Hitler wollte letzten Endes das gesamte – also nicht nur das europäische – Judentum vernichtet sehen, weil er hoffte, daß mit dem Verschwinden der Juden auch die Thoragesetze des Lebensschutzes sowie der Liebes- und Gerechtigkeitsgebote aus der Welt wären. Die Judenbeseitigung sollte das Recht auf Töten wiederherstellen. Auschwitz war ein Völkermord für die Wiederherstellung des Rechtes auf Völkermord.“ (4)
Neben Rußland, China und der Türkei gehört Deutschland zum „furchtbaren Großquartett der Serientäter unter den Völkermördern“ des 20. Jahrhunderts (S. 38).
Greifen wir ein Beispiel aus dem Lexikon heraus: Unter den Stichworten „Hutus / Ruanda 1994“ und „Tutsis / Ruanda 1994“ liest mensch Kurzbeschreibungen eines Völkermordes, bei dem es, ähnlich wie bei den ArmenierInnen in der Türkei im Ersten Weltkrieg, darum ging, „sämtliche Mitglieder einer Gruppe in einem umgrenzten Territorium zu ermorden.“ (S. 20) Zwei weitere Besonderheiten markieren den Völkermord der Hutus an den Tutsis in Ruanda 1994: das „Ausmorden der Tutsis“ ist „der erste Genozid, der (…) als Bürgerkrieg inszeniert“ (S. 334) wurde. Ihr Nichteingreifen rechtfertigten die USA und Frankreich im UN-Sicherheitsrat, indem sie absichtlich nicht von einem Genozid sprachen, sondern diesen als Bürgerkrieg verharmlosten. Innerhalb weniger Wochen des Jahres 1994 wurden etwa 600.000 Tutsis und mindestens 200.000 demokratische Hutus ermordet. Finden wir bei allen anderen Massenmorden in diesem Jahrhundert fast ausschließlich männliche Täter, so nahmen hier neben ca. 80% aller männlichen Hutus über 15 Jahren auch viele Frauen und Kinder an den Massakern mit der Machete teil, ein billiges Massenprodukt aus China, die obendrein leicht zu führen ist (Stichwort Machete, S. 241). „Vor allem das Herausschneiden oder Durchbohren der Vaginas von als ’schöner‘ geltenden Tutsifrauen hat die Vorstellung in Frage gestellt, daß genitale Gewalt nur von Männern kommen könne.“ (S. 50) (5)
Erstaunt liest mensch unter dem Stichwort „Eigentümer“ (adlige Besitzerschichten, Bauern, Händler und Unternehmer), daß dies mit 40-50 Millionen Opfern vor allem in der Sowjetunion und in China die zahlenmäßig „größte Opfergruppe des 20. Jahrhunderts und der gesamten Menschheitsgeschichte“ sei (S. 125), die allerdings durch die Völkermordkonvention der Vereinten Nationen von 1948 nicht geschützt ist (S. 354ff.) (6).
Das Handbuch empfehlen wir vor allem denjenigen, die angesichts von Völkermord und regierungsamtlichem Massenmord gerade aufgrund der Imperative „Nie wieder Krieg!“ und „Nie wieder Auschwitz!“ sich um andere als militärische Mittel bemühen, um Genozide und ethnische Vertreibungen bereits im Vorfeld zu verhindern.
(1) Der in Polen geborene Jurist Raphael Lemkin (1900-1959) ist der Autor der UN-Völkermordkonvention 1948 (siehe Lexikoneintrag, S. 235ff.)
(2) Rudolph J. Rummel: Democide: Nazi Genozide and Mass Murder. New Brunswick, New Jersey 1992.
(3) S. 37ff. In diesem Zusammenhang weist er auf ein entsprechendes, vierzigbändiges Projekt über "Rußland: Das 20. Jahrhundert" hin (S. 43). Bereits erschienen ist eine Studie über die Ermordung der Kronstädter Matrosen (1921).
(4) Gunnar Heinsohn: Warum Auschwitz? Hitlers Plan und die Ratlosigkeit der Nachwelt. Reinbek 1995, S. 18. Die Deutschen sollten ein "Recht auf Völkermord von neuem einüben" (S. 171), mit dem Ziel einer "vom Tötungsverbot befreiten Nation." (S. 172)
(5) Rwanda: Not so Innocent: When Women Become Killers. African Rights, London 1995.
(6) siehe Einträge "Klassenmord" (S. 221), "Kulaken" (S. 228f) und "Ökonomizid" (S. 271).