transnationales / antimilitarismus

Saukalt, kein Bett, ein Betonklotz mit Holz

Interview mit dem Kriegsdienstverweigerer und Anarchisten Osman Murat Ülke

| Interview: Ralf Dreis

Osman Murat Ülke ist türkischer Kriegsdienstverweigerer, Anarchist und Mitglied des ISKD-Verein der KriegsgegnerInnen Izmir. Am 15.10.1970 wurde er in der Nähe von Gummersbach/ Deutschland geboren. Bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr war er in der BRD aufgewachsen und 1985 in die Türkei übergesiedelt. Am 17.5.1994 wurde er zum ersten Mal nach einer Pressekonferenz in Istanbul zur Kriegsdienstverweigerung verhaftet. Am 1.9.1995 verbrannte er seinen Wehrpass. Am 7.10.1996 wurde er wegen Wehrpassverbrennung verhaftet. Seitdem verbrachte er mit Unterbrechungen sein Leben im Gefängnis und seit 1997 ohne Unterbrechung im Militärgefängnis. Am 9.3.1999 ist er überraschend nach anderthalb Jahren Haft freigelassen worden.

Du bist jetzt seit ca. zweieinhalb Monaten aus dem Knast. Wieso kam es jetzt zu dieser doch überraschenden Freilassung?

Eigentlich wurde ich ja periodisch freigelassen und dann in immer neuen Verfahren wegen ‚wiederholter Befehlsverweigerung‘ neu verurteilt. Dabei wurde dann die Strafe von erst zwei auf drei, später vier Monate erhöht. Am Anfang, also 1996, wurde ich auch tatsächlich nach dem Absitzen der Strafe entlassen. Ich erschien dann zum nächsten Prozess, wurde erneut verurteilt und inhaftiert. Der Grund für mein Erscheinen vor Gericht war, daß ich als Kriegsdienstverweigerer auch dort unsere kontinuierliche Haltung zu diesem Thema beibehalten wollte und wir uns insofern von denjenigen unterscheiden, die sich dem Wehrdienst durch Wohnortwechsel entziehen. (ca. 300.000 in der Türkei) Nach zwei Freilassungen und Neuinhaftierungen jedoch, wurde ich als potentieller Deserteur mit Begleitung direkt in die Kaserne geschickt, wodurch es zu diesem Kreislauf Militärknast – Verfahren – Militärknast kam.

Nach langer Recherche meiner AnwältInnen war dann klar, daß die direkte Überführung in die Kaserne – und damit Knast – nach dem türkischen Militärstrafrecht in meinem Fall nicht erlaubt ist, da es sich bei mir juristisch um Befehlsverweigerung und nicht um Desertion handelt.

Du warst also defakto aufgrund einers Formfehlers die anderthalb Jahre im Knast.

Sozusagen, ich war fälschlich als Deserteur registriert, und es dauerte sechs Prozesse und viel Hin- und Hergeschreibe bis auf allen beteiligten Ämtern die sogenannte Desertion in den Papieren getilgt war. So kam es dann beim Prozeß am 9. März zu meiner Entlassung; natürlich mit der Auflage, mich in zwei Tagen in der Kaserne zum Dienst zu melden.

Die insgesamt mehr als zwei Jahre, die Du inhaftiert warst, hast Du in Militärgefängnissen verbracht. Was unterscheidet diese vom normalen Knast?

Generell läßt sich sagen, daß die Gefängnisleitung die Lage im Militärknast sehr viel besser unter Kontrolle hat. Der Knast ist Teil der Kaserne. Die Gefangenen tragen Einheitskleidung, es gibt Zwangsarbeit, Durchzählen, militärischen Drill. Hinlegen, Aufstehen, Fernsehen – alles geschieht nach Befehl. Darüber hinaus ist oft Prügel absolut normal. In Eskishir – da hatte ich Glück – ist der Standard relativ hoch, es wird z. B. nicht geprügelt. In Zivilgefängnissen gibt es grob zwei Kategorien. Die politischen Gemeinschaftszellen und die „normalen” Zellen. In den politischen Zellen gibt es natürlich ein ganz anderes Miteinander und dadurch viele Vorteile. Die Gefangenen leisten gemeinsam Widerstand, auch wenn sie aus verschiedenen Organisationen sind. Der Kampf gegen den Staat geht auch dort weiter, und natürlich besteht Solidarität untereinander. In den Knästen ohne politische Gefangene existieren dagegen noch weniger Rechte, da dort das Bewußtsein für gemeinsame Kämpfe fehlt. Auch herrscht dort eine sehr viel hierarchischere Kultur. Und die traditionellen Männerbilder dominieren uneingeschränkt. Mein Fall ist ja eigentlich ein politischer. Da es aber für Kriegsdienstverweigerer keinen Paragraphen gibt im türkischen Strafrecht, saß ich als normaler Befehlsverweigerer im Militärknast.

Wie wurdest Du persönlich behandelt?

Ich war zuerst im Mamak Militärgefängnis in Ankara inhaftiert, was ein berühmt-berüchtigter Knast ist. Nach dem Militärputsch 1980 saßen dort politische Gefangene, die alle gefoltert wurden. Er untersteht direkt der militärischen Führung. Ich wurde zuerst sehr schlecht aufgenommen, weil ich als erstes die Einheitskleidung verweigert habe. Man sperrte mich in eine Isolationszelle, später in einen unterirdischen Bunker ohne Licht. Saukalt, kein Bett, nur ein Betonklotz mit Holz drauf. Das war der Versuch, meinen Willen zu brechen. Ich habe darauf mit einem Hungerstreik geantwortet, was sie sehr überrascht hat. Nach 24 Tagen Haftstrafe hatte ich mir meine Position erkämpft. Vieles habe ich meinen Freunden zu verdanken, die mich jeden Tag besuchten, und der Tatsache, daß ich sehr viel Post erhielt. Später in Eskisehir gabs dann immer für Wochen keine Briefe oder Besuchsverbot. Man hat immer wieder versucht, schon erkämpfte Rechte einzuschränken. Wichtig war immer, auf der Hut zu sein. Am meisten nagte es am Selbstbewußtsein und der Psyche, wenn etwas gegen mich lief und ich nicht direkt dagegen angehen konnte.

Dein Fall ist ja noch nicht abgeschlossen. Wie stellt Ihr Euch im ISKD das weitere Vorgehen vor?

Da ich ja in der offiziellen Erwartung freigelassen wurde, mich am 11. März 1999 in der Kaserne zu melden, gelte ich seitdem als Deserteur und kann jeden Moment verhaftet werden. Wir erwarten allerdings nicht, daß dies zum jetzigen Zeitpunkt geschieht. Dem Militär ist klar, daß sie meinen Willen nicht brechen werden. Da andererseits in den türkischen Medien sowieso nicht mehr über den Fall berichtet wird, stört es nicht, wenn ich draußen bin. Es kann natürlich sein, daß ich bei einer Routinekontrolle geschnappt werde. Dagegen versuche ich mich ein wenig zu schützen. Ich bin nirgends gemeldet, verlasse Izmir nicht allzu oft und versuche, allgemein vorsichtig zu sein.

Was ich mir schwierig vorstelle. Ich bin erst seit einer Woche im Land und treffe an jeder Ecke auf Bullen. Auf dem Land, und sogar auf dem Strand, patrouilliert überall die Armee.

Ja, das beeinträchtigt natürlich den Alltag. Du kannst nicht locker nach Mitternacht irgendwo sitzen und trinken, und wenn ich nachts in eine dunkle Straße gehe und ein Auto höre, dann schaue ich sofort, was das für ein Auto ist. Klar macht die Bullenpräsenz nervös, aber man gewöhnt sich an alles. Einige im ISKD hätten allerdings gerne mehr Vorsichtsmaßnahmen, da eine erneute Inhaftierung für uns politisch nicht mehr effizient ist. Der Fall ist bekannt wie nur irgend möglich, und das Medienembargo wirkt. Der Generalstab sorgt dafür, daß es eingehlten wird. Die Medien haben Angst, über KriegsgegnerInnen zu berichten. Nach diesen Erfahrungen sehen wir für andere Verweigerer vor, daß sie nach einer Verurteilung und ihrer Freilassung nach voraussichtlich zwei bis drei Monaten nicht wieder vor Gericht erscheinen.

Gibt es denn andere Verweigerer?

Ja, es gibt sie, aber momentan werden sie nicht verhaftet. Sozusagen drückt sich das Militär davor. Vedat Sencir z. B. hat schon 1990 verweigert und 1997 mit Selbstanzeige daran erinnert. Ergebnis waren drei Prozesse, von denen er zwei gewonnen hat, während der dritte noch läuft. Es gibt andere, die ebenfalls nicht inhaftiert werden, und ein ganz normales Leben in der Legalität führen. Das Militär versucht uns totzuschweigen, und wir verfügen nicht über die Mittel, mehr in die Öffentlichkeit zu gehen.

Am 24.3.1999, also kurz nach Deiner Freilassung, begann unter Beteiligung der Türkei der Natokrieg gegen Jugoslawien. Gab es dazu Aktionen von KriegsgegnerInnen?

Kaum. Es gab keine größeren, ernstzunehmenden Aktionen oder Demonstrationen. Die gibt es sowieso fast nur noch an Jahrestagen wie dem 1. Mai. Ich denke, das liegt daran, daß der Spielraum von Jahr zu Jahr immer enger wird. Immer mehr dominiert eine hysterisch-nationalistische Stimmung, was u. a. durch den Wahlerfolg der MHP zum Ausdruck kam. Darüber waren viele sehr erstaunt, was wiederum mich sehr erstaunt hat. Seit Jahren ist die ganze Berichterstattung der Medien und die Art und Weise, wie Ereignisse kommentiert werden, derart reaktionär, daß sich alles immer mehr nach rechts verschiebt. Die sich selbst als ‚rechte Mitte‘ bezeichnenden Parteien sind selbst mittlerweile ultrarechts. Die MHP ist darüber hinaus in der glücklichen Lage, daß ihr einerseits der Staat heilig ist, sie andererseits die Stimmen der sich benachteiligt Fühlenden einfangen kann. Alle, die wütend auf das System sind, ohne systemkritisch zu sein, finden in der MHP ihre Partei.

In dieser ‚hysterisch-nationalistischen Stimmung‘ begann auch der Prozeß gegen Öcalan. Beeinflußt der Prozeß Eure Arbeit als ein Teil der legalen, nicht bewaffnet kämpfenden Linken? Wie verhaltet Ihr Euch zum Krieg in Kurdistan?

Ich denke nicht, daß der Öcalan-Prozeß beeinflußt. Aber natürlich ist er ein gefundenes Fressen für die Medien, für die Propagandamaschine. Öcalan verzapft jeden Tag was Neues, wodurch alle möglichen Gruppen und Menschen beschuldigt werden, was stark die chauvinistische Propaganda anregt. Aber das ist nichts Neues. Selbst vor seiner Verhaftung gab es das. Unser Verhältnis zum Krieg in Kurdistan ist klar. Wir treten für eine gewaltfreie Lösung des Konfliktes ein, scheren die beiden Kriegsparteien jedoch nicht über einen Kamm, und setzen auch nicht die Gewalt der PKK mit der des Staates gleich. Die PKK ist nicht die Initiatorin des Konfliktes, sondern eine Folge der staatlichen Politik. Das macht sie für uns allerdings nicht sympathischer oder unterstützenswerter. In der Vergangenheit haben wir an bestimmten Punkten mit der HADEP zusammen gearbeitet. Das waren Kontakte sehr pragmatischer Natur, nicht ohne Spannungen. Für die HADEP waren wir wichtig als eine nicht-kurdische Stimme aus dem Westen der Türkei, die ebenfalls die Armee kritisiert. Obwohl auf beiden Seiten immer klar war, daß zwischen den Positionen große Unterschiede existieren, war die Empörung bei der HADEP groß, wenn wir in Radiosendungen gesagt haben: „Geht nicht zur Armee, geht auch nicht in die Berge.” Relativ viel Raum wurde uns auch in der Özgür Gündem und in den Nachfolgezeitungen eingeräumt. Die kritischen Stellungnahmen in Bezug auf die PKK wurden jedoch nicht gedruckt. Doch zurück zu Öcalan. Natürlich ist der Prozess das Thema Nr. 1 und wird sowohl vom Staat als auch von den Medien instrumentalisiert. Doch das geschieht hier bei vielen Themen. Ein Beispiel dafür sind die Probleme mit Griechenland. Wann immer es nötig erscheint, werden diese Konflikte innenpolitisch benutzt.

Du erwähnst Griechenland. Seit dem Beginn der Nato-Bombadierungen gegen Rest- Jugoslawien wird dort eine regelrechte Kriegsangst mit engem Bezug zur Türkei verbreitet. Ein griechisch-türkischer Krieg wird im Zusammenhang mit der türkischen Minderheit in Thrakien und den Grenzstreitigkeiten in der Ägäis für möglich gehalten.

Also die türkische Tagesordnung ist momentan derartig mit anderen Themen vollgepackt, daß Griechenland gar nicht vorkommt. Öcalan-Prozess, Regierungsbildung, davor die Wahlen und der Krieg in Jugoslawien. Auch früher, wenn Griechenland auf der Themenliste ganz oben stand, gab es keine Kriegsangst in der Bevölkerung. Der Generalstab selbst ist wohl auch nur am Feindbild Griechenland interessiert, da er sich über solche Feindbilder legitimiert. Und da gibt es außer Griechenland noch Armenien, Irak, den Iran und Syrien. Alle diese Feindbilder haben jedoch in den letzten Jahren gegenüber dem inneren Feind Islam an Wichtigkeit verloren.

Außer als Kriegsgegner bezeichnest Du Dich auch als Anarchist. Nun ist der Anarchismus in der Türkei ein relativ neues Phänomen. Wie steht’s um die Bewegung und wie reagiert der Staat auf die neue Herausforderung?

Ich arbeite schon seit Jahren nur noch im antimilitaristischen Bereich, bin allerdings auch Anarchist. Der Beginn der anarchistischen Bewegung – oder besser Szene – fällt auf das Jahr 1987 mit der Gründung der monatlich erscheinenden Zeitschrift Kara. Seitdem ist die Szene allerdings nicht viel größer geworden. Erst jetzt in den letzten zwei Jahren kann man von einem Anwachsen sprechen. So nehmen inzwischen auch anarchistische Gruppen mit ihren schwarzen Fahnen an den 1. Mai Demonstrationen teil. Eine tatsächliche Bewegung ist jedoch noch nicht in Sicht. Positiv ist, daß jetzt türkeiweit eine zweiwöchentliche anarchistische Zeitung mit dem Namen Efendizisler (Die Herrenlosen) erscheint. Mir ist jedoch nicht bekannt, ob sie von einer größeren, organisierten Gruppe herausgegeben wird und inwieweit das Projekt in der Szene verankert ist. Seit über 10 Jahren ist es wohl so, daß Leute kontinuierlich arbeiten und immer wieder relativ viele junge Menschen dazustoßen, von denen sich jedoch nur die wenigsten längerfristig organisiseren. Es ist eher ein Subkultur-Anarchismus, mehr individueller Aufstand als Bewegung. Allerdings gibt es jetzt auch einen anarchistischen Verlag, den Chaos-Verlag, in Istanbul, der gute Grundlagenarbeit macht und sowohl anarchistische Klassiker als auch Neuerscheinungen verlegt. Eine deutliche Repression des Staates kann ich nicht sehen. Die Szene ist wohl einfach noch zu unwichtig.