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AnarchaFeminismus

Auf den Spuren einer tabuisierten Verbindung

| Johanna

Angesichts des patriarchalen "Backlash" ist das Buch von Silke Lohschneider eine ermutigende Herausforderung.

Die Anarcha-Feministinnen und ihre sozialrevolutionären Entwürfe sind bis heute weitgehend ein Tabu geblieben.

Die Autorin geht den Spuren dieser Tabuisierung nach. Konturen sowie Strukturen des anarcha-feministischen Engagements werden von ihr aufgezeigt. Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich auch mit bisher weniger berücksichtigten Anarchistinnen, beispielsweise mit der russischen Sozialrevolutionärin Vera Figner oder der Pariser Kommunardin Louise Michel. Im Gegensatz zu männlichen anarchistischen Theoretikern und Zeitgenossen versuchten die libertären Feministinnen zumeist bewußt, Theorie und Praxis zu verbinden, besonders im Hinblick auf die soziale Frage. Die Anarcha-Feministinnen „thematisierten die spezifisch weiblichen Lebensbedingungen, Probleme und Benachteiligungen ihrer Zeitgenossinnen.“ Sie forderten die ökonomische Unabhängigkeit der Frau, berufliche Selbstverwirklichung, sexuelle Befreiung, Geburtenkontrolle, Auflösung der Ehe als Zwangsform. Exemplarisch zeigt sich das am vielseitigen Lebenswerk der bekannten Anarchistin Emma Goldman. Zu ihr schreibt die Autorin: „Die Grundlage von Goldmans anarchistischen Positionen bildete die Ablehnung von Staat, kapitalistischem Wirtschaftssystem und Religion als unterdrückerische Institutionen, die ihrem Ziel, der größtmöglichen Freiheit des Menschen, entgegenstanden.“ Die Erkenntnis, daß staatliche Machtapparate sowie die ausbeuterischen Mechanismen des kapitalistischen Systems die Entfaltungsfreiheit der Menschen vehement beschneiden, bildet bis heute eine wesentliche Grundüberzeugung der anarcha- feministischen Position. Statt politischer Aktion wie der Teilnahme an Wahlen oder einem Engagement in Parteien propagierte Goldman „die direkte Aktion, (…) aber auch ein bewußtes Verhalten im persönlichen Umfeld.“

Welchen Stellenwert nimmt nun die Verbesserung der weiblichen Lebensbedingungen innerhalb des gesamten politischen Befreiungsprozesses ein? Obwohl Goldman „die Befreiung der Frauen als Teil der Befreiung aller Menschen“ sieht, fordert sie speziell für ihre Geschlechtsgenossinnen die radikalen Befreiung aus allen Zwängen des patriarchalischen und kapitalistischen Systems. Die Tatsache der Unterdrückung der Frauen darf nicht als Nebenwiderspruch angesehen werden, „der sich mit der Abschaffung des Staates von selbst erledigt.“ Und Goldman fordert: wenn Frauen wirklich frei sein wollen, müssen sie sich „von der Emanzipation emanzipieren.“ Unter „Emanzipation“ versteht sie „die gesellschaftliche Gleichstellung“ der Frauen. Diese aber kann für sie nicht das Ziel der Befreiung sein. Die Konzentration auf eine äußerlich erfolgreiche Integration in die vom kapitalistischen System beherrschte Arbeitswelt würden den Frauen Kraft und Fähigkeiten für ihre eigentlich wichtigen Befreiungsprozesse rauben. Aus diesem Grund lehnt Goldman die „Herangehensweise der Frauenbewegung ab, die eine Gleichstellung der Frauen innerhalb des kapitalistischen Systems anstrebt.“

Inwiefern sind die damaligen Anarcha-Feministinnen heute noch aktuell? Ein zentraler Aspekt in aktuellen feministischen Diskussionen ist die Kategorisierung des Geschlechts in ‚Sex‘ und ‚Gender‘. ‚Sex‘ meint dabei das biologische Geschlecht, ‚Gender‘ das soziale oder kulturelle Geschlecht, also die in einer Kultur mit dem biologischen Geschlecht verknüpften Erwartungen und Handlungsmöglichkeiten. Die Konstruktivistinnen unter den Feministinnen gehen davon aus, daß geschlechtsspezifische Stereotype und Verhaltensweisen Resultate der jeweiligen Sozialisation und deshalb veränderbar (dekonstruierbar) sind. Sie arbeiten u.a. an Entwicklungsmodellen, die eine Gesellschaft zum Ziel haben, „in der die Geschlechtszugehörigkeit keine Rolle mehr spielt und Menschen sich individuell, aufgrund ihrer Persönlichkeit“ frei entfalten können. Für diesen Prozeß der Dekonstruktion fordern die Konstruktivistinnen folglich „die Einbeziehung anderer Unterdrückungsverhältnisse in feministische Theorien.“

An diesem Punkt eröffnet sich die Diskussion mit anarcha-feministischen Ansätzen eigentlich wieder neu. Auch ihnen ging es nicht primär um die bloße Gleichstellung der Frauen im Hinblick auf Integration. Auch sie haben ein Ziel vor Augen, in der sich die Menschen frei von geschlechtsspezifischen Stereotypen und Erwartungen entfalten können. Sie haben jedoch klar erkannt, daß eine Veränderung der Verhältnisse zugleich die Analyse und radikale Transformation des kapitalistischen Systems beinhalten muß.

Vorreiterinnen beim Aufbau einer libertär-sozialistischen Gesellschaft waren in diesem Sinne die spanischen Anarchistinnen (ca. 1927-1939). Die Feministinnen innerhalb der libertären Bewegung Spaniens befanden sich in der bedrückenden Situation, daß „Sexismus (…) nicht als eigenständiger Unterdrückungsmechanismus anerkannt“, sondern als Phänomen behandelt wurde, „das sich mit der sozialen Revolution von selbst erledigen werde.“ Die Organisationsstrukturen der libertären Gewerkschaft Spaniens (CNT) etwa erlaubten es nicht, daß Anarcha- Syndikalistinnen ihre autonomen Interessen vertreten konnten. Es wurde in einem Umfeld agitiert, „dem kaum Frauen angehörten.“ Beispielsweise wurden „proletarische Frauen (…) nicht als Gruppe mit spezifischen Problemen angesehen, sondern man ging davon aus, daß sie dieselben Interessen hätten wie die Männer.“ Frauen wurden zwar theoretisch in anarchistische Konzepte mit einbezogen, Unterschiede in Sozialisation und Lebenssituation zwischen den Geschlechtern wurden jedoch nicht berücksichtigt. Es ging sogar soweit, daß anarchistische Männer die Ursachen für das fehlende „Engagement der Frauen (…) als ein Zeichen für die Minderwertigkeit der Frauen“ sahen.

Speziell die Anarcha-Feministinnen, die bereits vor 1936 in separaten Frauengruppen innerhalb der CNT organisiert waren, wehrten sich. Sie gründeten eine eigene Zeitschrift, „Mujeres Libres“ (Die freien Frauen). Und sie gründeten eine gleichnamige autonome Organisation. Auf ihrem ersten nationalen Kongreß 1937 gaben sich die „Mujeres Libres“ eine landesweite Struktur. Mit der anarchosyndikalistischen Bewegung Spaniens wollten sie jedoch verwurzelt bleiben. Sie verstanden sich als autonom innerhalb der Gewerkschaft, welche landesweit föderativ organisiert war. Sicher ist, daß die Gruppen der „Mujeres Libres“ regen Zulauf hatten. „So wuchsen sie zu einer Organisation mit über 20.000 Mitgliedern in etwa 150 lokalen Vereinigungen.“

Primäres Ziel ihrer organisierten Bildungsarbeit war die Förderung des Selbstbewußtseins von Frauen, damit sie „ein selbständiges Leben führen könnten“, jedoch auch damit sie zu „Akteurinnen einer revolutionären Bewegung werden.“ Unter dem Slogan ‚Capacitatión‘ (Befähigung) boten sie in Dörfern und Städten allgemein- und berufsbildende Kurse für Frauen an. Da die Analphabetinnenrate unter den armen Frauen sehr hoch war, ging es ihnen zunächst um Alphabetisierungskampagnen. Die Bildungsprogramme erweiterten sie auf möglichst viele Bereiche: handwerkliche Ausbildung, Soziologie, Wirtschaft, Fremdsprachen, aber auch Kinder- und Gesundheitsfürsorge. Obwohl die „Mujeres Libres“ sich vorrangig als Organisation für Arbeiterinnen verstanden, erhielten sie auch Zuwachs von Frauen aus der bürgerlichen Mittelschicht. Kernanliegen blieb jedoch die Unterstützung und Ausbildung mittelloser Frauen sowie ungelernter Arbeiterinnen. „Einen großen Stellenwert in der revolutionären Arbeit der Mujeres Libres hatte die Kampagne gegen die Prostitution.“ Die Gruppen richteten Zentren für Prostituierte ein, um moralische Unterstützung, medizinische Versorgung, berufliche Ausbildung und materielle Hilfe bieten zu können.

Die „Mujeres Libres“ waren in erster Linie eine basisdemokratische Organisation, die allen Mitgliedern die Möglichkeit zur öffentlichen Meinungsäußerung gab. Da sie nicht autoritär organisiert waren, hatten sie keine erzwungen einheitliche Position, „was unter der angestrebten Befreiung der Frau zu verstehen sei.“ Am deutlichsten zeigt sich das wohl in dem Dilemma, daß „führende Theoretikerinnen der Mujeres Libres den Standpunkt vertraten, Frauen dürften sich nicht auf ihre Funktion innerhalb der Familie reduzieren lassen“ , während die anarchistische Ministerin Federica Montseny die spanischen Frauen zum Kinderkriegen aufrief. Ihre Einstellung war durchaus typisch für die Mehrzahl der spanischen Anarchistinnen, selbst für viele Mitglieder der „Mujeres Libres“.

Silke Lohscheider: AnarchaFeminismus. Auf den Spuren einer Utopie. Unrast Verlag, Münster, erscheint voraussichtlich im November 1999, ca. 200 S., 24,80 DM.