Angesichts der Tatsache, daß sich der Mythos, der sich um Bakunin gebildet hat, wesentlich auf seine abenteuerliche Lebensgeschichte gründet, ist es erstaunlich, daß bisher noch keine systematische Bakunin-Biographie in deutscher Sprache vorlag.
Zwar hat Max Nettlau bereits vor 100 Jahren ein monumentales Werk verfaßt, aber das ist bis heute unveröffentlicht und fristet als schwer entzifferbares Manuskript ein Archivdasein, während alle nachfolgenden Lebensdarstellungen von Brupbacher, Ricarda Huch, Wittkop oder die Zitatsammlung von Arthur Lehning (Unterhaltungen mit Bakunin) nicht den Anspruch erhoben, ein umfassenden Gesamtbild der Person zu liefern. Insofern füllt die Biographie von M. Grawitz, die 1990 im französischen Original erschien, tatsächlich eine Lücke.
Da Bakunin außerhalb anarchistischer Kreise heute eine weithin unbekannte Gestalt ist, ist es vermutlich sogar ein Vorteil, daß es sich um kein wissenschaftliches Werk, sondern um eine eher populäre, literarische, streckenweise romanhafte Darstellung handelt, kurzum, eine unterhaltsame Lektüre mit einigen ausgesprochen humoristischen Einlagen (etwa die Schilderung der Flucht Bakunins aus Sibirien).
Schade nur, daß der politische Denker Bakunin etwas zu kurz kommt. Wenn die Autorin Bakunin an einer Stelle als „einen der letzten großen Denker des 19. Jahrhunderts, auf jeden Fall aber einen der originellsten“ (S. 400/401) bezeichnet, kommt das einigermaßen überraschend, verwendet sie doch letztlich wenig Raum darauf, ein solches Urteil auch zu begründen. Viele seiner Schriften werden gar nicht oder allenfalls beiläufig erwähnt, seine Gedanken summarisch zusammengefaßt oder auf gelegentliche Zitate reduziert. Worin seine Originalität besteht, was er von anderen Denkern, die ihn beeinflußt haben (Hegel oder Proudhon) übernommen, was er verworfen, verändert, weiterentwickelt, neu entdeckt hat, davon ist kaum etwas zu erfahren. Symptomatisch, daß „Staatlichkeit und Anarchie“, vielleicht sein Hauptwerk, jedenfalls seine einzige Buchpublikation zu Lebzeiten, in einem Absatz abgehandelt wird, aus dem nicht mehr hervorgeht, als daß Marx das Buch gelesen, Lehning es als „ein wenig wirr“ bezeichnet habe, es aber – offenbar nichtsdestotrotz – „die Größe seiner Gedanken“ zeige (aber welcher bitte?). Ansonsten nichts über den Inhalt, nichts über seinen zentralen Stellenwert für die anarchistische Theoriebildung, nicht einmal etwas über die interessante Editionsgeschichte, die doch weit in die Biographie Bakunins während seiner letzten Lebensjahre hineinreicht und aufschlußreich ist für sein Verhältnis zu Rußland und zur russischen Emigration.
Daß eine Biographie Schwerpunkte setzt, ist nicht nur legitim, sondern geradezu unumgänglich. So nimmt bei Grawitz das letzte Lebensjahrzehnt Bakunins, etwa ab dem Zeitpunkt, als er sich als Anarchist zu verstehen und zu bezeichnen begann, etwa die Hälfte des Buches ein. Das ist sicherlich nachvollziehbar. Fragwürdiger sind andere Gewichtungen. Die für die Entwicklung Bakunins zentralen Jahre seines ersten Aufenthalts in Westeuropa – von seiner Ankunft in Berlin 1840 bis zur 1848er-Revolution in Paris – werden sehr kurz und eher oberflächlich abgehandelt, während seine Beteiligung am Lyoner Aufstand vom September 1870 unverhältnismäßig breiten Raum einnimmt. Vor allem die langen Ausführungen zur sozialen und politischen Situation der Stadt sprengen den Rahmen und verleihen dem Ereignis, mithin eine zweiwöchige Episode, eine Bedeutung, von der man sich fragen kann, ob sie ihm wirklich zukommt. Jedenfalls habe ich den Verdacht, daß weniger sachliche Notwendigkeit, als ein gewisser Lokalpatriotismus der Autorin oder einfach die Möglichkeit der Vor-Ort-Recherche für diese Detailgenauigkeit ausschlaggebend war.
Andererseits ist erfreulich, daß, meines Wissens zum ersten Mal, ausführlich die „seltsame“ Ehe Bakunins mit der Polin Antonia Kwiatkowska behandelt wird, die in der sibirischen Verbannung offenbar als Zweckbündnis eingegangen, immerhin bis zum Tod Bakunins andauerte – trotz der gewaltigen Unterschiede in Alter, Temperament, Bildung und Herkunft der beiden Partner, und auch unbeschadet der Tatsache, daß Antonia eine langjährige Beziehung zu Bakunins italienischem Freund und Kampfgefährten Carlo Gambuzzi unterhielt, aus der noch zu Lebzeiten Bakunins drei Kinder hervorgingen.
Alles in allem eine Biographie, die sicher nicht mit spektakulären neuen Einsichten aufzuwarten hat, sondern die eher Bekanntes zusammenträgt und zu einem farbigen Zeitpanorama aufbereitet. Dabei wird das gängige Bakunin-Bild durchweg bestätigt: der leidenschaftliche und impulsive Tatmensch, etwas sprunghaft und unsystematisch, aber mit einem unbestreitbaren Charisma, von einer aristokratischen Nonchalance in allen praktischen Fragen des Lebens und vor allem in Gelddingen mit einer, gelinde gesagt, laxen Einstellung.
Jedenfalls eine Gestalt, die keinen gleichgültig läßt, die neugierig macht und vielleicht zur weiteren Beschäftigung anregt, sowohl diejenigen, die aus den verstreutesten Quellen schon das eine oder andere über Bakunin wissen, als auch diejenigen, für die Bakunin bisher nur ein Gerücht gewesen ist. Außerdem, und das soll zuguterletzt nicht unerwähnt bleiben, hat der Verlag ein wirklich schönes Buch zustandegebracht, mit einem großen Abbildungsteil, Kurzbiographien zu den wichtigsten Zeitgenossen Bakunins im Anhang und einiges mehr. Aber lest selbst!
Madeleine Grawitz: Bakunin. Ein Leben für die Freiheit. Edition Nautilus, Hamburg 1999, 558 S., 68 DM.