Das gesellschaftliche Sein hat bekanntlich großen Einfluß auf das Bewußtsein. In einer kapitalistisch, patriarchalisch, durch die Herrschaft von Menschen über Menschen geprägten Gesellschaft wie der hiesigen, ist es daher naheliegend, daß die meisten Menschen davon ausgehen, daß herrschaftsfreie Gesellschaften („regulierte Anarchien“) nicht existierten, schlicht undenkbar sind. Bei vielen SozialwissenschaftlerInnen herrscht der Irrglaube vor, daß in der Vergangenheit existente herrschaftsfreie Gesellschaften entweder vorpolitisch und instabil, oder eben doch irgendwie herrschaftlich organisiert waren. Diese Vorurteile dienen der Herrschaftsstabilisierung und werden als historische und ethnologische „Argumente“ gegen den von Libertären geforderten Abbau von Herrschaftsstrukturen mißbraucht. Das Streben der heutigen AnarchistInnen nach Herrschaftsfreiheit wird als unsinnig und gefährlich verworfen, da Anarchie von den meisten Menschen immer noch mit „Chaos und Terror“ und nicht mit einer menschengerechten, freiheitlichen Ordnung ohne Herrschaft assoziiert wird.
Die Kultursoziologen Rüdiger Haude und Thomas Wagner setzen sich in ihrem Buch „Herrschaftsfreie Institutionen“ kritisch mit den oben skizzierten Vorurteilen auseinander und zeigen an Beispielen u.a. aus den Bereichen Verwandtschaftsstruktur, AnArchitektur und Spiel, daß gerade sogenannte „primitive Gesellschaften“ eine wunderbare institutionelle Phantasie besaßen, um die Herrschaftsfreiheit dauerhaft sicherzustellen.
Haude und Wagner knüpfen mit ihren Thesen und Erkenntnissen unter anderem an den Soziologen Christian Sigrist an, der mit seiner Studie über das Entstehen von Herrschaft ein herausragendes Werk zur herrschaftskritischen Soziologie und Ethnologie verfaßt hat. (1)
Im Vorwort der „Herrschaftsfreien Institutionen“ charakterisiert Sigrist die Aufsätze von Haude und Wagner als bedeutenden Beitrag zur Weiterentwicklung der vorliegenden Anarchie-Theorien: „Damit wird ein Niveau erreicht, von dem aus drängende Probleme neu analysiert werden können.“
Kritisiert werden muß Haudes und Wagners zum Teil unreflektierter Umgang mit Begriffen. So ist im Buch von „primitiven Anarchisten“ die Rede, egalitäre bzw. segmentäre Gesellschaften werden als „anarchistisch“ etikettiert. Abgesehen davon, daß ich den Begriff „primitiv“ im Zusammenhang mit egalitären Gesellschaften immer in Anführungsstriche setzen würde: Bei Bezugnahme auf egalitäre Gesellschaften würde ich die Verwendung der Begriffe „herrschaftsferne“ oder „herrschaftsfremde“, anstatt „anarchistische Gesellschaften“ vorschlagen. Der Begriff „Anarchist“, von dem sich der Terminus „Anarchismus“ ableitet, ist nämlich nicht wie der aus der griechischen Antike stammende Begriff „an-archie“ („ohne Herrschaft“) uralt. Er wurde erst in der französischen Revolution geprägt und diente zunächst als Schmähbegriff für politische GegnerInnen. Erst als ab 1840 in Europa der Anarchismus als soziale Bewegung entstand, übernahmen Menschen, die eine herrschaftsfreie Gesellschaft anstreben, den Begriff „Anarchist(in)“ als Selbstbezeichnung. Die Begriffe „anarchistisch“ und „Anarchist“ sind also historisch besetzt und mit einer ganz bestimmten sozialen Bewegung und Sozialgeschichte verknüpft. Sie müssen in diesem Kontext gesehen werden und können nicht einfach nur als Synonym für „herrschaftsfrei“ benutzt werden. (2)
Wagner und Haude leisten einen sehr guten Beitrag zur anthropologischen Begründung libertärer Praxis und Theorie. Ihr Buch ist eine wichtige wissenschaftliche Publikation zur Widerlegung von etatistischen, pseudosozialwissenschaftlichen Theorien. Und nicht zuletzt bieten sie auch für AnarchistInnen überraschende Erkenntnisse. Viele Aha-Erlebnisse erzeugen z.B. die Aufsätze über „An-architektur – Politische Aspekte der Siedlungsformen primitiver Gesellschaften“ und über „’Anarchistische Gleichmacher’ – Institutionelle Aspekte des Spiels in egalitären Gesellschaften“. Hier werden herrschaftsfeindliche Erkenntnisse offenbart, die uns Libertären auch bei der ideologiekritischen Bewältigung des Alltags im kapitalistischen Herrschaftssystem behilflich sein können. Ein Beispiel:
Mein sechsjähriger Sohn Deniz hatte sich „1, 2 oder 3“ angesehen. Eine fürchterliche, die kapitalistische Ideologie transportierende TV-Sendung, in der die Kinder spielend den Ellenbogen-Konkurrenzkampf einüben.
Dann habe ich mit ihm über die Sendung und über den Sinn von Spielen hier und in anderen Gesellschaften geredet. Schließlich habe ich ihm einen Abschnitt aus dem Kapitel „Spiele in egalitären Gesellschaften“ (S. 118 ff.) vorgelesen. Dort wird die Unvereinbarkeit von traditional-egalitärem und modern-hierarchischem Spielverständnis durch die Erzählung eines Angehörigen der herrschaftsfreien Mentawaier (Westküste Sumatras) veranschaulicht, der eine Begebenheit mit einem holländischen Offizier der Kolonialzeit wiedergibt: „‚Nur einmal waren wir nicht mit ihm zufrieden. Er sagte, wir sollten alle an die Küste kommen und Pfeil und Bogen mitbringen. Dort hatten sie alles schön verziert und warteten auf uns auf einem großen Platz. Wir bekamen zu essen und zu trinken, und dann legten sie eine Kokosnuß hin und sagten, wir sollten darauf schießen. Das taten wir auch, und wenn jemand traf, dann schrien sie, wie wenn wir einen Affen getroffen hätten und nicht eine Kokosnuß. Zum Schluß bekamen wir unseren Lohn und durften wieder nach Hause gehen. Nur was nach unseren Gedanken nicht stimmte, das war, daß wir nicht alle gleich viel bekamen. Ein paar bekamen eine ganze Menge, und ein paar bekamen überhaupt nichts. So waren wir alle im Herzen ein bißchen zornig. Aber was sollten wir machen? Sie sind eben so, wie sie sind‘ (Eichberg 1983: 39). Den bogenschießenden Mentawaier ist die hierarchische Honorierung von Leistungsergebnissen fremd. ‚Stattdessen begegnet man einem ‚anderen Sport‘, im Rahmen anderer sozialer Muster, ohne Sieger und ohne Häuptlinge, bzw. positiv: mit einer eigenen sozialen Zeit und einem eigenen sozialen Raum, Abbild einer gewissermaßen anarchischen Ordnung, der das koloniale Wett- und Preisschießen zutreffend als ein ‚Durcheinander‘ erscheint.‘ (41) Dieses Chaos entsteht dadurch, daß die im Spiel zeitweilig außer Kraft gesetzte egalitäre Ordnung nach primitiver Vorstellung wiederhergestellt gehört. Dauerhafte Hierarchie ist in diesem Weltbild, das ein ausgeprägtes Gleichheitsbewußtsein enthält, nicht normal, sondern ein Ausdruck von Unordnung, die Verwirrung hervorruft. (…) Was zählt, ist nicht das Ziel, der Gewinn oder Triumph, sondern der Prozess des Spielens selbst.“
Deniz hörte mir gespannt zu, wir diskutierten und am Abend bat er mich, ihm diesmal nicht aus einem seiner vielen Kinderbücher vorzulesen: „Lies doch noch was aus dem roten Buch vor.“
(1) C. Sigrist, Regulierte Anarchie, Europäische Verlagsanstalt eva, Hamburg 1994
(2) Zur Begriffsklärung von "Anarchie, Anarchismus, Anarchist" siehe B. Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998
Rüdiger Haude/Thomas Wagner: Herrschaftsfreie Institutionen. Studien zur Logik ihrer Symbolisierungen und zur Logik ihrer theoretischen Leugnung. Mit einem Vorwort von Christian Sigrist, Nomos Verlag, Baden-Baden 1999, 188 S., 48 DM