Ja, es gibt sie: die neue "anarchistische Literatur", die neue "anarchistische Poesie". Fast unbemerkt hat sie sich seit Anfang der 90er Jahre entwickelt, und jetzt tritt sie deutlicher ans Tageslicht. Besonderes Kennzeichen: Zwei von der bürgerlichen Entwicklung fein säuberlich getrennte Denkbereiche, Literatur und Politik, werden hier aufs engste verbunden.
Als spezifisch ‚anarchistische‘ Literatur hat sie den Anspruch, Texte zu produzieren, die dem libertären Kontext und seiner Gesellschaftskritik entsprechen. Als Teil der anarchistischen Bewegung versucht sie, ergänzend zu sein, Systemkritik nicht allein als rationalen Diskurs oder als praktischen Widerstand auf der Straße zu verstehen, sondern auch auf die künstlerische Sprachebene zu projizieren. Unter anarchistischem Vorzeichen wird so klargestellt, daß beides – Politik und Literatur – zwei sich notwendig ergänzende Leidenschaften eines wachen Bewußtsein sind.
Seit 1998 haben sich libertäre AutorInnen, die vormals jedeR für sich innerhalb der anarchistischen Bewegung aktiv waren, zusammengetan. Dabei entstand ein Netzwerk mit überregionalem Zusammenhang. Die AutorInnen, aus denen sich das Netzwerk derzeit zusammensetzt, kommen aus Kiel, Berlin, Freiburg, Hamburg, Münster, Osnabrück und Bielefeld. Sie gaben sich und dem Netzwerk den Namen „Fraktal“. Der Grund für diese Namensgebung ist vielfältig. So gibt es z.B. in der Organisationstheorie eine fraktale Denkrichtung, die sich von der Vorherrschaft einer deterministisch-linearen Weltanschauung und extrem arbeitsteiligen Organisationsformen lösen will. Basis fraktaler Organisationsformen sind demnach Prozesse, Teams und Netzwerke. In der Chaostheorie bezeichnet man andererseits Erscheinungen als „Fraktale“, die oft nicht durch Vergleiche erfaßbar, sondern nur sich selbst ähnlich sind. Der Name des Netzwerks steht jedoch nicht nur für Selbstorganisation bzw. „Selbstähnlichkeit“ oder Dynamik, sondern deutet zudem einen „Bruch“ an (vergleiche den Begriff „Fraktur“). Und damit verweist er auf dasjenige, was der Literatur der AutorInnen wohl gemeinsam ist: der angestrebte oder sprachlich vollzogene Bruch mit den Strukturen der Gegenwart.
Ein Stilmittel anarchistischer Literatur ist die Dekonstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, ihre Auflösung und permanente sprachliche Neukonstruktion: hier gehen das poetische Element und das Politische eine wechselvolle Beziehung ein, die ganz typisch für anarchistisches Denken ist. Was die Anarcho-Poesie praktiziert, ist anarchistische Gesellschaftsutopie. Derzufolge nämlich kann die anarchistische Gesellschaft nur eine Gesellschaft ohne starre Ordnungen sein, sie wird sich ständig auflösen und neu konstituieren, sie wird sich permanent verändern, ganz nach dem Willen der beteiligten Menschen. Diesen Aspekt einer permanenten Änderung spiegelt bereits die anarchistische Poesie. Sie existiert halt doch: die spezifisch libertäre Ästhetik:
"euphorisierte augenblicksgestaltung nur
losgelöst vom konstruierten
kontextwald und eingebunden
unumwunden
ich wie
in reeskalierte Weltbildpflege
verstrickt bin abrißbirne
meiner eigenen gerüste
wie ich rüste bleib ich rüstig
mit sartre der verHERRlichung der
LIEBE was entgegensetzen:
der mensch ist eine gemeine marmelade
nicht mehr und nicht
wesentlicher"(aus: Jens Petz Kastner, „Pille Palle Poems“)
"Habichelacht neulich
Rita Süssmuth mit Gießkannenstimme
Samstagnacht aufm 'Privaten'
brabbelt vom Rednerpult des Bundestages
zu irgendwelchen Hinterbänklern,
die sich räkeln fett und faul,
Führen dämliche Dialoge und Selbstgespräche
Und nuscheln, jaul jaul...
ganz schön plem plem die Damen und Herren, wa!
SAT 1 führt Kohl, Schröder, Scharping
als harmlose Trottel vor, irre!
Und wat sonst det Herz begehrt,
Habichelacht, aber so richtich
pechschwarz, nich!
Die regierenden als doofe Deppen blamiert
und setzen weder Polizei noch Justiz in Marsch
Tratri tra la la
Is allet Klamauk, wa? JA!
Ik hab ne Ader für Politiker-Verarsche, aber
Gestern hab ik mir an' Kopf gepackt
Wessen Geschäft betreiben diese Witzbolde eigentlich?
Heute kannste mit ANARCHISMUS Millionär werden
Wie sich die Zeiten ändern..."
"Es wird eine blaue Blume in meinem Kopf blühen.
Ich träume in deinem Schoß von der bunten
Sprachentwirrung
Menschen werden einander Menschen sein.
An deinen Lippen entlasten sich Zitronenfalter.
Auf Europa, deren kurdischer und kosovarischer Atemnot,
wird ein Garten blühen -
mit Zeder, Kirsche, Baobab, Gingko.
Am Grab des gelben Reiters,
hinter der Weltstadt,
wird das kleine Leben als kleines Leben
groß werden.
Deine Hände liebkosen das Weinen meiner Worte.
Es wird eine Blume in meinem Kopf blühen.
Eine blaue Blume."
"einbauküchen haben keine geheimnisse
straße-stadt.
ein fenster auf augenhöhe steht auf. ich schaue hinein. ein mann steht an der arbeitsfläche einer weißen einbauküche. seine rechte hand steckt in einer moulinette. eine digitaluhr, schwarz, liegt daneben. unsere augen berühren sich. er lächelt. sein linker zeigefinger drückt den schalter der küchenmaschine. Langsam, dann schneller wird sein arm bis zum ellenbogen in die maschine gezogen. eine linie blut rinnt an der weißen einbauküchenschranktür, hinter ihm, herunter, tropft in einem dünnen faden auf den grünen linoliumfußboden. tropf-tropf-klick. sein finger berührt den schalter erneut. er zieht den arm aus dem mixer. der arm ist ganz. nachdem er seine armbanduhr angelegt hat, schließt er das fenster. das letzte, was ich sehe, ist ein tropfen blut auf dem glas der uhr an seinem handgelenk. am näxten morgen sind meine haare rot."
"MACHT: NIX
1 Tach X
das is' noch nix!
Tach X 2
macht auch
nich' frei
Tach X 3
Wer hätt's gedacht?
Ein Serienanfang
is' gemacht.
Jeder Tach
ein neues X
durch die miesen
Bonzentrix !!!
X x X =
Alles geht:
in Bewegung kommt
was steht"
Ein junger Mann im Supermarkt auf der Suche nach Unterhosen: "40 DM wollten die dafür haben. Ich konnte es nicht fassen: 40 DM für eine einzige Unterhose, die dazu noch stockhäßlich ist. Für 40 Mark kann ich mich komplett einkleiden. Von wegen, der Kunde ist König. Es müßte heißen: Um hier einkaufen zu können, muß der Kunde schon König sein".
"NIEDER steht an einer Hauswand
Nicht Nieder mit dem Sonnenuntergang den Zahnärzten den Zähnen
sondern schlicht NIEDER denn es geht darum das Wirkliche zu zerreißen wie einen mißlungenen Schnappschuß"
"Allerorts wachsen Zentren und Peripherien, vollkommene Schaltkreise zwischen Kontoauszug und Telefonzelle, Blutdruck und Innenstadt. Die Städte werden größer und man lernt, die Schnittstellen mit wachsender Bildgeschwindigkeit zu nehmen, im Schnellauf Reißverschlüsse zu öffnen oder Baustellen zu passieren..." (aus: StadtSchluchten, Gedichte).
"Weder Befehlen noch Gehorchen
Weder Opfer noch Henker
Weder Gott noch Herr
Sondern:
Der Mensch, der vor der Sonne steht..."
Fraktal, Netzwerk libertärer AutorInnen, Gedichte und Prosa, Broschürenbeilage zur Zeitschrift Papillon Nr. 3, c/o Vapet-Verlag, Grottenstr. 14, 44789 Bochum
Jens Petz Kastner, Pille Palle Poems, Gedichte mit Collagen von Fritti Günther, Edition Blackbox, Bielefeld 1998, 36 Seiten, ISBN 3-00- 002186-8 (9,50 DM)
Raimund Samson (Hg.), HerzGalopp, Zeitschrift für Poesie und Lebenskunst, Bestelladresse: R. Samson, Otterhaken 8, 21107 Hamburg (5,50 DM)
Raimund Samson (Hg.), Die Wortfalle 2, Thema: Therapie, Texte aus dem Umgang mit der Psychiatrie; 64 Seiten, Bestelladresse: Otterhaken 8, 21107 Hamburg (5,50 DM)
Thorsten Hinz, Hommages, Gedichte, Karin Kramer Verlag, Berlin 1996 (19,80)
Ralf G. Landmesser (Hg.), KALENDA, Anarchistischer Taschenkalender, c/o Schwarzrotbuch Verlag, Rathenower Str. 23, 10559 Berlin (fürs Jahr 2000 jetzt bereits bestellbar für 15 DM plus Porto)
Jokkl, Am Rande dieser Stadt, 11 Stories mit 2 Zeichnungen von Fabian Müller, Edition Blackbox, Bielefeld 1998 (6,50-)
Michael Halfbrodt, Nieder, Poem zum deutschen Nationalismus, Edition Blackbox, Bielefeld 1994 (5,50-)
M. Halfbrodt, Schnee von Gestern, Poem, Edition Blackbox, Bielefeld 1994 (5,50-)
M. Halfbrodt, Generalstreik, Achtstundentag und erster Mai (Ein Kapitel aus der radikalen Arbeiterbewegung), Edition Blackbox, Bielefeld 1997 (5,50)
Louis Mercier Vega, Reisende ohne Namen, übersetzt von Halfbrodt, 186 S., Edition Nautilus, Hamburg 1998; ISBN 3-89401-282-X (29,80)
M. Halfbrodt, weitere Übersetzungen: Ulrich Vogt, Anarchismus und Surrealismus, Ed. Blackbox, Bielefeld 1997 (5,50-); Cornelius Castoriadis, Was heißt eigentlich "Arbeiterbewegung"?, Ed. Blackbox, Bielefeld '96 (5,50-)
Ralf Burnicki, StadtSchluchten, Gedichte, Edition Blackbox, Bielefeld 1996 (5,50)
R. Burnicki, Anarchie als Direktdemokratie, Eine Einführung; 96 S., Syndikat A - Medienvertrieb, Moers 1998; ISBN 3-00-002097-7 (14,80)