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Eine neue Grundlagenstudie zur libertären Pädagogik

| Ulrich Klemm

Obgleich die systematische Diskussion des Verhältnisses von Anarchismus und Pädagogik seit den 80er Jahren eine Kontinuität aufweist, ist sie nach wie vor eher dürftig. Wissenschaftliche Monographien sind die Ausnahme und konnten bislang nur wenige Aspekte dieser Pädagogiktradition aufarbeiten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Dissertation von Heribert Baumann (1982) über die deutsche Tradition 1919 bis 1933, die beiden Arbeiten von Ulrich Klemm über die libertäre Reformpädagogik Tolstois (1984) und den Freiheitsbegriff in der libertären Pädagogik (1994), die institutionen- und personengeschichtliche Arbeit des schweizer Erziehungswissenschaftlers Hans-Ulrich Grunder über Paul Robin, Sébastian Faure und Jean Wintsch (1986, 2. Aufl. 1993), die Dissertation von Stefan Blankertz über Paul Goodman (1983, 2. Aufl. 1988) sowie seine Habilitationsschrift über die angelsächsiche (libertäre) Schulkritik (1989). Ergänzend bzw. vorbereitend zu diesen Studien erschienen von diesen Autoren in den 80er und 90er Jahren eine Reihe von Artikeln in pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Fachzeitschriften, Sammelbänden und anarchistischen Zeitschriften wie der Graswurzelrevolution, der Direkten Aktion und dem Schwarzen Faden.

In diesem Diskussionskontext erschien 1998 als Dissertation von Markus Heinlein eine neue und bemerkenswerte Studie. Der Autor bietet mit seiner Zielrichtung und seinem Forschungsinteresse einen Erkenntnisgewinn für den aktuellen Diskurs um libertäre Pädagogik. Es geht ihm um den Ertrag des klassischen Anarchismus für die Entwicklung und Herausbildung einer libertären Pädagogik. Heinlein konzentriert sich dabei auf Godwin, Bakunin und Kropotkin, die er als drei unterschiedliche Vertreter des klassischen Anarchismus versteht und die mit ihren Positionen sowohl für die allgemeine Theoriebildung des Anarchismus als auch für seine pädagogischen Implikationen idealtypisch zu differenzieren sind.

Anarchismus wird dabei von Heinlein als ein Ergebnis der bürgerlichen Aufklärung definiert, gleichsam als ihre Radikalisierung und Negation. Er stellt damit einen klaren definitorischen Bezugrahmen für seine Arbeit her, den er sozial- und philosophiegeschichtlich nach einer libertären Pädagogik befragt. Heinlein nimmt für den klassischen Anarchismus des 18. und 19. Jahrhunderts eine Dreiteilung vor, die sich gut für seine pädagogische Systematisierung eignet: Godwin als Vertreter eines individuellen, Bakunin als Vertreter eines revolutionären und Kropotkin als einer eines reformerischen Anarchismus. Mit dieser konzeptionellen Dreiteilung kann Heinlein überzeugend auch drei pädagogische Ansätze darstellen, die die klassische anarchistische Pädagogik prägen. Godwins Pädagogik ist bestimmt durch eine „Autonomie der Vernunft“ (S. 159), die das Kind als Subjekt in den Mittelpunkt stellt und Erziehung als ein Instrument der Unterdrückung sieht. Nach Heinlein entpuppt sich Godwin hier als „Höhepunkt und Ende einer Aufklärungsphilosophie“ (S. 159) und ist in seiner Pädagogik geprägt durch einen „aufklärungsphilosophischen Optimismus“ (S. 321).

Bakunin ist weniger als Godwin von einem originär pädagogischen Interesse geleitet. Sein pädagogisches Konzept ist eine radikale Bildungskritik, die sich aus seiner Gesellschaftskritik ableitet und auch eine Kritik an autoritären Elementen der Aufklärungsphilosophie und -pädagogik enthält. In seinem postrevolutionären Entwurf finden klassische Elemente einer libertären Pädagogik Eingang wie die der Koedukation, der ganzheitlichen Bildung von Kopf, Herz und Hand und der Rationalität.

Im Kontext von Kropotkins anthropologischen Ansatz der „gegenseitigen Hilfe“ entwickelt er eine „éducation intégrale“, eine ganzheitliche Erziehung, die in einen polytechnischen Bildungsansatz mündet. Kropotkins „konstruktiver Anarchismus“ (S. 323) wird zu einem pragmatischen Ansatz für libertäre Politik und Pädagogik, der libertäre Veränderungen nicht erst als das Ergebnis revolutionärer Ereignisse sieht, sondern auch in real existierenden autoritären Verhältnissen für möglich hält.

Heinlein bietet eine überzeugende Rekonstruktion der ideengeschichtlichen Ursprünge libertärpädagogischer Theorie. Daß er nicht zu einer Reflexion pädagogischer Praxis kommt, hängt mit der Anlage seiner Arbeit zusammen und mit der relativen Praxisferne der diskutierten Anarchisten. Eine solche Praxisanalyse könnte jedoch sehr gut auf Heinlein aufbauen bzw. anschließen. Ein zweiter ergänzender Hinweis zu Heinleins Studie gilt dem Pädagogikansatz von Max Stirner, der mit seinem radikalen Individualismus über Godwin hinausgeht und gleichsam ein viertes Konzept im Kontext des klassischen Anarchismus bietet. Vor allem wenn Heinlein den Anarchismus auf der Folie der bürgerlichen Aufklärung diskutiert, wäre es naheliegend gewesen, auch Stirner zu berücksichtigen – zumindest hätte er etwas ausführlicher erwähnt werden müssen. Wir finden bei Stirner eine radikalisierte anarchistische Theorieofferte, die noch mehr als bei Godwin, Bakunin und Kropotkin Implikationen für eine pädagogische Diskussion bietet. „Wille statt Wissen“ wird bei Stirner zum Axiom einer libertären Pädagogik, die zu einer Art Anti-Pädagogik wird. Zu Stirners Erziehungs- und Bildungsdenken gibt es, im Gegensatz zu Godwin, Bakunin und Kropotkin, in den letzten Jahren auch eine erziehungswissenschaftliche und libertäre Diskussion – jüngst vgl. Das Themenheft „Max Stirner und die Pädagogik“ im Rahmen der Vierteljahresschrift des Max- Stirner-Archivs Leipzig „Der Einzige“ (Nr. 2/6 1999) – die an dieser Stelle hätte eingebunden werden können.

Fazit: Die Studie von Heinlein ist in der Anlage ebenso spannend wie neu und die Ergebnisse originell. Sie stellt einen wichtigen Eckpunkt in der historischen und systematischen Diskussion um eine libertäre Pädagogik dar und bietet Anschlußmöglichkeiten für eine weiterführende Auseinandersetzung. Darüberhinaus kann mit dieser Arbeit die pädagogische Sensibilität in der klassischen anarchistischen Ideengeschichte nachgewiesen werden. Damit stellt Heinleins Arbeit auch den gelungen Versuch dar, eine libertärpädagogische Position im Kontext der allgemeinen Pädagogikgeschichte zu verorten und resonanzfähig an den erziehungswissenschaftlichen Diskurs zu machen.

Markus Heinlein: Klassischer Anarchismus und Erziehung. Libertäre Pädagogik bei William Godwin, Michail Bakunin und Peter Kropotkin. Ergon Verlag, Würzburg 1998, 348 S.