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Kriminelle Körper – Gestörte Gemüter

| Gerald Grüneklee

Ein spannender Beitrag über das widerspruchsvolle Verhältnis der Disziplinen Gerichtsmedizin und Psychiatrie, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die Kategorien Vernunft und Wahnsinn entwickelten, zu den Mythen und Taktiken gerichtskundiger Angeklagter, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vielfach noch an die Macht des Zaubers und der Hexerei glaubten. Vor dem Hintergrund einer Vielzahl von Fällen über den mißlungenen „Vollzug“ der „Ehepflichten“ (ein Vorwurf, der durchaus beide Geschlechter treffen konnte!), der Sodomie und der Homosexualität, der Notzucht und der sexuellen Gewalt relativiert sich das heute scheinbar „objektive“ Wissen über Krankheit und Gesundheit: denn daß die naturwissenschaftliche Erkenntnis abhängig vom Wandel der kulturellen Werte ist, zeigt Maren Lorenz eindrucksvoll. Ausgewogen waren Gerichtsbarkeit und Gutachter – durchgängig männlich besetzte Gremien – nie. Welche Folgen die Rechtssprechung für die Frauen hatte, offenbart sich insbesondere im Umgang mit Verwaltigungsklagen. Doch selbst bei Mordanklagen wurde unterschiedlich, zum Nachteil der Frauen gewertet, da diesen eine größere „Kaltblütigkeit“ unterstellt wurde. Wie andererseits auch Männer, die z.B. Suizidversuche begangen hatten, aus den Reihen der „gesunden Vernunft“, nach damaliger Anschauung eine männliche Domäne, ausgeschlossen werden konnten, zeichnet Lorenz ebenfalls nach. Besonders interessant wird das Buch dort, wo die Autorin dokumentiert, wie die betroffenen Männer und Frauen bisweilen durchaus nicht ungeschickt und unter Ausnutzung der zeitgemäßen Voreingenommehnheiten zu agieren versuchten, nachdem sich ihnen die Funktionsweise der Justiz zumindest ansatzweise erschlossen hatte.

Maren Lorenz: Kriminelle Körper - Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung. Hamburger Edition 1999, 495 S., 58 DM.