Daß Dada "irgendetwas" mit dem Anarchismus zu tun habe, "irgendwie" anarchisch, ja anarchistisch gewesen sei, gehört mittlerweile zum festen Bestandteil der Feuilletonweisheiten. Aber wo genau liegt der Zusammenhang?
Bei oberflächlicher Betrachtung nichts leichter zu beantworten als das: Dada war Zerstörung, Negation, Anti-Kunst und Anti-Alles und beim Anarchismus verhält es sich, wie das bürgerliche Gerücht vermeldet, ebenso. Ergo…
Hubert van den Bergs Dissertation „Avantgarde und Anarchismus“ beansprucht nicht weniger, als eine vollständige Bestandsaufnahme der Beziehungen zwischen Dadaismus und Anarchismus zu sein, die alle verfügbaren Quellen auswertet. Dabei ergibt sich, sozusagen nebenbei, auch eine grundsätzliche Revision des gängigen Dada-Bildes. Die bisherige Forschungsliteratur zum Dadaismus habe sich, so van den Bergs Vorwurf, allzusehr von den nachträglichen Deutungen ehemaliger Dadaisten leiten lassen, die von den Originalquellen aber nur zum Teil bestätigt würden. Vor allem hätten im Gegensatz zur weitverbreiteten Sicht Dadas als eine Art fröhlicher Nihilismus konstruktive Zielsetzungen deutlich überwogen. Was nun das Verhältnis um Anarchismus betrifft, so fällt die Bilanz recht mager aus: keiner der züricher oder berliner Dadaisten kann als Anarchist im engeren Sinne verstanden werden, nur bei zweien, Hugo Ball und Raoul Hausmann, läßt sich überhaupt eine intensivere Beschäftigung mit anarchistischen Theorien nachweisen. Auf politischer Ebene ist sogar eine allmähliche Distanzierung vom Anarchismus zu beobachten. Dabei handelt es sich um ein weit über den Dadaismus hinausreichendes Epochenphänomen. Übte der Anarchismus vor dem 1. Weltkrieg als einzige linkspolitische Alternative zur Sozialdemokratie eine deutliche Anziehung auf die radikale Künstlerboheme aus, so erwuchs ihm aus den SPD-Abspaltungen (Spartakus, USPD, KPD, KAPD) während und nach dem Weltkrieg eine linke Konkurrenz marxistischer Provienz, der sich viele radikale Künstler vor allem der expressionistischen Generation zuwandten. Verantwortlich für diesen Einflußverlust des Anarchismus war seine unklare Haltung zum Krieg sowie seine Unfähigkeit, eine wirksame Anti-Kriegsbewegung auf die Beine zu stellen.
Hingegen ist gerade in Bezug auf einige der ästhetischen Schlüsselkonzepte der Dada-Programmatik ein nachhaltigerer, wenngleich verborgener anarchistischer Einfluß nachweisbar. Allerdings wird hier die Luft bereits sehr dünn, denn es handelt um eine ihrerseits wiederum sehr vermittelte und gebrochene Aufnahme von Ideen, die eher als Erweiterungen anarchistischer Überlegungen in bestimmte Randbereiche (Sprache, Psychologie, Sexualität, Ontologie) zu verstehen sind, denn als genuin anarchistisch. Das gilt für den Einfluß der Sprachkritik Landauers auf Hugo Balls Überlegungen zum Lautgedicht, die Kategorie der „inneren Notwendigkeit“ des Malers Wassili Kandinski zur Begründung einer neuen, nicht- gegenständlichen Kunst, die „schöpferische Indifferenz“ des stirnerianischen Philosophen Salomo Friedlaender sowie das Konzept des „Erlebens“ aus den Theorien des anarchistischen Psychoanalytikers Otto Gross als Grundlage einer dadaistischen Geisteshaltung bzw. einer neuen „dynamischen“ Einstellung zum Leben.
Beschränkt sich van den Berg ganz auf die dadaistische Programmatik und zieht Kunstwerke nur punktuell heran, so setzt sich Dieter Scholz in seiner Dissertation „Pinsel und Dolch“ gerade das Ziel, der Verarbeitung anarchistischer Ideen in den bildkünstlerischen Werken der Moderne nachzuspüren.
Das Verhältnis von Kunst und Anarchismus wird anhand von drei Fallbeispielen untersucht: Courbets Gemälde „Das Atelier des Malers“ von 1855, verschiedenen Gemälden und Graphiken der neo-impressionistischen Malergruppe der 1890er Jahre sowie von Collagen der berliner Dadaisten Raoul Hausmann und Johannes Baader.
Die Stärke des Buches liegt zweifellos in der Fülle der Informationen, einschließlich kleinerer Exkurse etwa zur Herkunft der schwarzen Fahne oder zur Gefängnisarchitektur, sowie in einer Reihe präziser und aufschlußreicher Bildbeschreibungen.
Diese Vorzüge können allerdings nicht über die grundsätzliche Schwäche des Buches hinwegtäuschen, daß diese vielen Informationen letztlich Einzelbeobachtungen bleiben, aus denen keine verallgemeinernden Schlußfolgerungen zum Verhältnis von Kunst und Anarchismus gezogen werden. Dies hätte allerdings ein theoretisches Konzept erfordert, das bei Scholz völlig fehlt, um die im Hinblick auf avantgardistische Kunstformen eigentlich interessante Frage beantworten zu können: wie lassen sich rein formalästhetische Innovationen mit anarchistischen Ideen im Kunstwerk überhaupt vermitteln, besteht doch ein Wesensmerkmal der modernen Kunst darin, sich von allen außerkünstlerischen Bezügen freizumachen? Wie ist dieser Widerspruch zu lösen, ohne ihn dadurch zu beseitigen, daß man sich mit der Aufstellung vordergründiger Analogien begnügt? Leider kommt Scholz über eben solche Trivialitäten nicht hinaus, etwa wenn er die neoimpressionistische „Suche nach den optischen Grundlagen harmonischer Gestaltung“ (S. 164) parallel setzt zu den sozialutopischen Entwürfen einer harmonischen Gesellschaft im Anarchismus, oder „Stirners Überzeugung, daß alles benutzbar sei“ als Beleg herhalten muß für die dadaistische „Forderung nach neuem künstlerischem Material“ (S. 358/59). Auf einem derartigen Niveau der Verallgemeinerung ließe sich wohl alles mit allem in Verbindung bringen. Wird bereits für neoimpressionistische Gemälde eine Synthese künstlerischer Radikalität mit anarchistischer Weltanschauung eher behauptet als belegt, so wirken erst recht die Interpretationen dadaistischer Collagen mehr überzogen als überzeugend und verraten die Hilflosigkeit des Autors beim Versuch, gewaltsam Bezüge zu konstruieren, wo sinnvollerweise keine mehr zu erkennen sind. Wenn der Anfang eines Lautgedichts von Raoul Hausmann: „Kp’eri um Ip’erioum nm‘ periii“ gedeutet wird als: „Das Reich (lateinisch: Imperium) der Kommunistischen Partei (kp) möge untergehen (lateinisch: perire)“(S. 370), so wirkt das schon einigermaßen grotesk, wenn nicht schlicht albern.
Tatsächlich lassen sich auf programmatischer Ebene durchaus Beziehungen zwischen anarchistischen und ästhetischen Ideen herstellen, bei Courbet ebenso wie bei Signac oder Hausmann, allerdings sagt das noch nichts darüber aus, ob diese auch in nachvollziehbarer Weise bildkünstlerisch umgesetzt sind. Es sei denn, man tilgt kurzerhand den Abstand zwischen Theorie und Praxis und erklärt jede Absicht bereits für verwirklicht.
Im Unterschied zu den Auffassungen des Autors bin ich geneigt, aus seinem Material eher umgekehrte Schlußfolgerungen zu ziehen. Ein einigermaßen plausibler Zusammenhang zwischen ästhetischen Strategien und politischen Ideen läßt sich nur dann begründen, wenn künstlerische Innovationen, etwa der Maltechnik, mit einer eher traditionellen politischen Bildsymbolik kombiniert werden. Siedelt man politische Aussagen ganz auf der Ebene des Stils an, landet man unweigerlich bei beliebigen Ausdeutungen, die den Werken äußerlich bleiben.
Hubert van den Berg: Avantgarde und Anarchismus. Dada in Zürich und Berlin. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 1999, 509 S., 98 DM.
Dieter Scholz: Pinsel und Dolch. Anarchistische Ideen in Kunst und Kunsttheorie 1840-1920. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1999, 477 S., 78 DM.