In Deutschland über Pop zu reden ist immer so eine Sache. Die überaus löblichen Kritiken für die kitschige aktuelle Blumfeld-CD haben es wieder mal gezeigt: Da klafft eine Kluft zwischen Anspruch und Niveau der Kritik und ihrem Gegenstand, der im hiesigen nationalen Rahmen einfach nicht so groovy und hybrid daherkommen will, wie wir das aus dem Angloamerikanischen gewohnt sind.
Aber da Pop bekanntlich ein inter- oder transnationales Geschäft ist, sind die interessanten Fragen auch gar nicht auf die nationale Referenz angewiesen. Und zudem haben „unsere“ ExpertInnen auch ihre Pendants oder Vorbilder in verschiedenen Cultural Studies betreibenden Schulen all over the world. Dazu gehört sicher auch George Lipsitz aus San Diego/Kalifornien. Dangerous Crossroads heißt sein aktuelles Buch und handelt, außer im lesenswerten Extra-Vorwort zur deutschen Ausgabe, zum Glück kein bißchen von Deutschland.
In Deutschland sind in den vergangenen Jahren verschiedene Positionierungen vorgenommen worden, die immer wieder um die Frage nach der Möglichkeit von linker, emanzipatorischer Politik im Pop kreisten. Während für die traditionelle oder auch die antinationale Linke (z.B. konkret, Bahamas) dieses Kreisen von vornherein sinnlos war, scheint es für die als „Poplinke“ Verschmähten (z.B. Die Beute, Spex) erst jetzt, Ende der 90er und im Angesicht der Neuen Mitte als Projekt fraglich zu werden. Lipsitz hingegen ist da noch euphorischer. Bei ihm wird Popkultur als der potentielle Ort gefeiert, an dem ein dritter Weg beginnt: Als Reaktion auf weltweite Migrationsbewegungen geht’s von hier aus einer Welt entgegen, die mit den falschen Alternativen von Markt vs. Staat aufräumt. Pop kann laut Lipsitz optimal Stellung beziehen, einerseits gegen Assimilationsdrohungen, die immer auf Homogenität abzielen, und gegen ein statisches Modell von Multikulturalismus andererseits, das das Fremde fremd und zur Folklore werden läßt.
In Popmusik sieht Lipsitz immer kulturelle Praktiken, die es vermögen, Glamour an Gleichberechtigung zu koppeln. Selbst für umstrittene Projekte zwischen Popstars und indigenen MusikerInnen hat Lipsitz meist mehr als ein offenes Ohr und ein gutes Wort übrig. So zeichnet er zum Beispiel die Diskussionen um die Multikulti-Events von Paul Simon oder David Byrne nach. Der Vereinnahmung und dem Abschleifen der entscheidenden musikalischen wie kulturspezifischen Kanten zugunsten einer besseren kulturindustriellen Verwertbarkeit hält Lipsitz letztlich immer die positive Seiten des Austauschs und der Vermischung entgegen. Bei aller Stereotypenproduktion rechnet Lipsitz der Populärkultur immer an, in ihren utopischsten Momenten denjenigen Gruppen Versöhnung zu versprechen, „die durch Unterschiede der Macht, der Möglichkeit und der Erfahrung gespalten sind“. Politisch gesprochen heißt das: Die postkoloniale, kulturelle Praxis und ihre strategischen Neubearbeitungen von Identitäten kann zum Ausgangspunkt werden, von dem dann neue Koalitionen gegen die diskreditierten Modelle von konservativer freier Marktwirtschaft und Sozialdemokratie geschmiedet werden können. Ein Programm, das von „Postmodernen“ wie Judith Butler oder Stuart Hall stammen könnte, und das in Lipsitz‘ Sprechart „strategischer Anti-Essentialismus“ heißt: Die Chicano-Band Los Lobosist nur eines von zahlreichen, faszinierenden Beispielen, an denen Lipsitz seinen Ansatz erläutert: vorübergehend jemand werden, der ich nicht bin, um so auf viel kräftigere Weise zu bestätigen, wer wir sind, um von da an etwas Neues werden zu können. Nicht nur mit dieser Stratgie für Minderheitenpolitik bewegt sich Lipsitz auf postmodernem Terrain. Auch seiner Zeitdiagnose steht das Label Postmoderne ohne weiteres zu. Mehr und mehr fallen demnach heute kultureller und geographischer Ort auseinander. Und Lipsitz´ Schilderungen sind ein Plädoyer dafür, die daraus entstehenden Möglichkeiten zu nutzen und nicht kulturpessimistisch als Niedergang von etwas vermeintlich Ursprünglichem zu deuten. Letztlich geht es ihm um nichts geringeres, als darum, das Problem der Gerechtigkeit nicht dem Staat zu überlassen.
Bei seinen sympathisch unakademisch gehaltenen Analysen von Rai-, Reggae- oder Bhangramuffinkulturen kommt Lipsitz immer zu dem Schluß, daß die Rastlosigkeit des Kapitals auf der Suche nach neuen Investitionsmöglichkeiten letztlich auch Menschen über ehemalige Grenzen hinweg vereint. Durch eine „eindrucksvolle Vielfalt kultureller Praktiken und Ausdrucksformen sind vibrierende, dynamische und nicht-elitäre öffentliche Räume entstanden“. Aber gibt es diese Räume wirklich? Oder sind sie eine Utopie, mit der Pop – wie andere auch – immer schon gespielt hat? Das Versprechen, statt Teil einer lokalen, unterdückten Minderheit zu sein, der globalen Majorität anzugehören, ist ja nicht gerade neu und hat ArbeiterInnen- oder Jugendbewegung, Intellektuelle und Frauenbewegungen oder eben Popsubjekte lange motiviert. Für wie viele (oder wie wenige) dieses Versprechen allerdings auch tatsächlich, materiell eingelöst wird, schreibt Lipsitz nicht oder läßt es dezent unter den turntable fallen. Insofern schliddert auch dieser Theoretiker in die Falle, in die die Rede über Postmoderne so oft tappt: Zwischen Erwünschtem und Erreichtem wird nicht mehr hinreichend differenziert. Die kultursoziologische Begeisterung über Vielfalt und Hybridität geht zu Lasten einer sozialstrukturellen Betrachtung, also der Frage, wer sich diese neuen Lebensformen wann, wo und überhaupt leisten kann. Popdiskurs im Kontext globaler Umstrukturierung ist immer auch die Beschäftigung mit Herrschaft. „Kollisionen geschehen an den Crossroads um uns herum – an den Kreuzungen, Kreuzwegen, Überschneidungen, Schnittmengen. Man kann sich an solchen Orten verirren. Die Wegkreuzung ist ein gefährlicher Platz. Aber wie schon die Alten der Yoruba in Westafrika ihren Kindern beizubringen pflegen: Der Trickster am Kreuzweg ist auch der Meister der Möglichkeiten“. Um diese Möglichkeiten geht es. Denn ob der Mut zum Mischmasch eine Option für soziale Befreiung ist oder die karnevaleske Geste von ein paar metropolitanen Semi-Intellektuellen, ist doch ein – im wahrsten Sinne – mächtiger Unterschied.
Literatur
George Lipsitz: Dangerous Crossroads. Popmusik, Postmoderne und die Poesie des Lokalen, (Deutsch von Diedrich Diederichsen), St. Andrä-Wördern 1999, Hannibal-Verlag, ISBN 3-85445-166-0, 260 S., 39,80DM.