Die USA - Weltmacht Nr. 1, imperialistische Großmacht, größte kriegsführende Nation. Doch es gab und gibt die andere USA, die USA der Frauenbewegung, der Schwarzenbewegung, der Native Americans und der AnarchistInnen - eine Geschichte, aus der nicht zuletzt auch GraswurzelrevolutionärInnen immer wieder schöpfen konnten. Eine Artikelserie in der GWR soll die vergessene Geschichte und Gegenwart der libertären Bewegungen in den USA wieder präsent machen. (Red. HD)
Sacco & Vanzetti – das sind mehr als die Namen zweier italienischer Immigranten, die einem Justizmord in Boston zum Opfer fielen. Sacco & Vanzetti – diese Namen sind das Symbol für eine weltweite Solidarisierung innerhalb der ArbeiterInnenbewegung der 20er Jahre. Sie sind das Symbol für viele ältere GenossInnen, durch das sie den Anarchismus als eine leidenschaftliche, hingebungsvolle, verzweifelte, aber auch zur Empörung fähige soziale Bewegung kennenlernten. André Bösiger, ein schweizer Maurer, der in einem Aktionsnetz für illegale Grenzübertritte zuerst spanische RevolutionärInnen in den 30er Jahren, dann algerische FreiheitskämpferInnen und französische Kriegsdienstverweigerer in den 50er Jahren über die französisch-schweizerische Grenze brachte – er erzählte mir, daß seine erste Demo als Jugendlicher im Jahre 1927 eine Solidaritätsdemo in Genf für Sacco & Vanzetti gewesen sei. Von da an sei er sein Leben lang Anarchist gewesen. Und so ging es vielen. Der Stoff wurde 1970 von Giuliano Montaldo verfilmt und Joan Baez sang den herzzerreißenden Titelsong dazu. Wem da nicht die Tränen kommen, weiß nicht, wofür das Leben lohnt gelebt zu werden!
1927, als Sacco & Vanzetti hingerichtet wurden, gab es den ersten internationalen Boykott gegen die USA. Der Wiener Anarchist Pierre Ramus rief in Erkenntnis und Befreiungdazu auf, keine US-amerikanischen Waren zu kaufen. In Paris nahmen die Taxifahrer keine US-amerikanischen TouristInnen mit.
Wie das? Noch bis zum ersten Weltkrieg hatten die USA den Ruf der Hoffnungsträgerin, sie galten als das sprichwörtliche Zufluchtsland für verarmte europäische ProletarierInnen. Die Solidarität mit Sacco & Vanzetti drehte dieses Bild zum ersten Male um. Es war ein Boykott der ArbeiterInnenklasse, nicht anti- amerikanisch, aber einer spontanen Empörung Ausdruck gebend – der Empörung über die Barbarei der Todesstrafe. In den Augen der Protestierenden hatte sich die USA als zivilisierte Nation verabschiedet, gerade als sie zur Weltmacht aufstieg. Die gewerkschaftlich und parteipolitisch organisierte ArbeiterInnenklasse in den USA hatte (mit Ausnahme der anarchosyndikalistischen IWW/ Industrial Workers of the World) versagt, als sie das antiitalienische Ressentiment in den US-Medien gegen Sacco & Vanzetti aufgriff und fortan nichts zu deren sozialer Verteidigung unternahm.
Vor rund 80 Jahren, am 24.12.1919, mißlang ein bewaffneter Raubüberfall auf einen Lohngeldtransporter einer Schuhfabrik in Bridgewater, einen südlichen Vorort von Boston. Am 15.4.1920 aber gelang ein Raubüberfall auf die Lohntüten einer weiteren Schuhfabrik, diesmal in South Braintree, dem südlichen Stadtende von Boston. Diesmal wurden dabei zwei Wachmänner ermordet.
Der Justizmord und seine Aktualität
Wegen dieser Überfälle wurden Sacco & Vanzetti vier Wochen später verhaftet, zum Tode verurteilt und sieben Jahre später hingerichtet, obwohl ihnen die Schuld niemals nachgewiesen werden konnte. Die Prozesse waren eine Farce: ZeugInnen der Anklage wurden zur Falschaussage verleitet, während italienische EntlastungszeugInnen, die zum Beispiel mehrfach beschworen, Vanzetti habe ihnen an den Tagen der Überfälle ganz woanders Fisch verkauft, aus rassistischen Gründen als unglaubwürdig eingestuft wurden. Richter Thayer und die reaktionäre Presse von Massachusetts verfolgten nicht die Täter – auf der Anklagebank saß der Anarchismus (1).
Viele machten sich damals schuldig, unter anderen auch der damalige Präsident der ehrwürdigen Havard University, der in einer außerordentlichen Untersuchungskommission das Urteil noch einmal bestätigte. Doch immerhin: es kommt selten vor, daß ein solch offensichtlicher Justizmord selbst offizielle Stellen Jahrzehnte später zur Einsicht bringt: Am 19.7.1977 erklärte der Gouverneur von Massachusetts, Michael Dukakis, den Fall nachträglich zum Justizverbrechen und rehabilitierte die Opfer.
Trotzdem hat das Establishment aus diesem Fall offenbar nichts gelernt: das Strafvollzugssystem der USA gehört nach wie vor zu den schlimmsten – es sind ca. 1,8 Mio. Menschen hinter Gittern. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung ist das der höchste Prozentsatz weltweit (2). Im Moment wird dieses riesige Gefängnissystem zudem privatisiert, was schon allein aus Kostenersparnisgründen zur weiteren Verschlechterung und Brutalisierung der Situation der Gefangenen beitragen wird. Und auch die Todesstrafe hat in den 90er Jahren eine traurige Renaissance in den USA erfahren. Eben erst hat der Oberste Gerichtshof den Antrag von Mumia Abu Jamal auf Neuaufnahme seines Verfahrens abgelehnt, ein neuer Hinrichtungstermin für den schwarzen Journalisten kann festgesetzt werden. Die Parallelen zwischen Sacco & Vanzetti und Abu Jamal sind vielfältig und springen sofort ins Auge: Abu Jamal ist zwar kein Anarchist, aber die Tat ist auch bei ihm keineswegs zweifelsfrei erwiesen und angeklagt ist ein schwarzer Aktivist und Journalist – ein politischer Prozeß mit stark rassistischen Tendenzen. Nach 80 Jahren hat sich also grundsätzlich nichts verändert. In einem Staat mit dem Anspruch, die Führungsmacht der zivilisierten Welt zu sein, regiert nach wie vor die institutionalisierte Barbarei.
Boston – damals und heute
Acht Jahre lang, von 1919-1927, war Boston eine Stadt im Ausnahmezustand – verursacht die ganze Zeit über weniger durch eine starke sozialistische Bewegung denn durch eine erzreaktionär-puritanische Oberschicht, die im altehrwürdigen Viertel „Beacon Hill“ residiert, das sich auf einem Hügel direkt hinter dem Sitz des Gouverneurs, dem State House, befindet. Die von Beacon-Familien geleiteten Banken von Boston hatten am ersten Weltkrieg prächtig verdient, der nachfolgende Friede brachte jedoch Spekulations- und Profiteinbußen. Außerdem drängten die rückkehrenden Kriegsfreiwilligen auf die weniger werdenden Arbeitsplätze und entwickelten dabei einen Rassismus, der sich insbesondere gegen italienische ImmigrantInnen richtete. Nach der russischen Revolution gründete die Angst der besitzenden Schichten vor einem linksradikalen Umsturz eher auf eigenen Projektionen und Phobien, denn auf irgendeiner realen Stärke und Solidarität der Ausgebeuteten. Das hielt die Beacon Society keineswegs davon ab, gerade in Boston eine Welle des „Weißen Terrors“ zu entfachen, die auch weltweit ihresgleichen suchte. Kriegsdienstverweigerer des Ersten Weltkriegs, unter anderem Emma Goldman und Alexander Berkman, wurden als Vaterlandsverräter bespuckt und nach Rußland abgeschoben. Niccola Sacco und Bartolomeo Vanzetti wurde im Prozeß ebenfalls ein Strick daraus gedreht, daß sie nach Mexiko flohen, als sie Gefahr liefen, für den Krieg rekrutiert zu werden. Doch damit nicht genug: 1919 inszenierten die Reichen von Beacon Hill mit ihren eigenen Geldern einen militanten Riot! Im „Boston Common“, dem Stadtpark, direkt vor dem State House gelegen, organisierten sie einen bezahlten Mob, der dann plündernd und marodierend durch die Straßen zog. Um die wahllose Zerstörung möglichst auszudehnen, bewegte die Beacon Society die Bostoner Polizei, an diesem Tag vollständig in ihren Unterkünften zu bleiben! Das Ergebnis war wie gewünscht: anderntags überschlug sich die bürgerliche Presse vor Horrordarstellungen, wie es würde, wenn in den USA der Sozialismus die Macht übernähme. In der Folge wurde jegliche Polizeiaufrüstung bewilligt und während der sieben Jahre des Prozesses gegen Sacco & Vanzetti glich Boston einer Polizeifestung.
Unmittelbar nach dem 22.8.1927, dem Tag der Hinrichtung, begann der bekannte sozialkritische US-Schriftsteller Upton Sinclair mit seinem 800-seitigen Monumentalroman – mit dem Titel „Boston“ – über Sacco & Vanzetti und ihren vergeblichen Kampf gegen die Bostoner Beacon Society (3). Wenige Monate später war Sinclair fertig, er hatte wie im Fieber seine Wut und seine Empörung herausgeschrieben. Es ist ein Stück Weltliteratur, ein dokumentarischer Roman, der ein beeindruckendes und umfassendes Bild der damaligen Auseinandersetzung gibt, auch was die Unterstützungskampagne für Sacco & Vanzetti betrifft, in der sich praktisch permanent die US- amerikanischen Gemäßigten, die alles legal Mögliche versuchten, und die italienischen AnarchistInnen bekämpften, die allein auf direkte Aktionen weltweit setzten. Sinclair beschreibt die Vorgänge aus der Perspektive einer altehrwürdigen Frau aus der Beacon Society (Cornelia Thornwell), die die Fronten wechselt, von Zuhause wegläuft und ein Leben unter ArbeiterInnen führt. Sie lernt die bedrückenden Arbeitsbedingungen und schließlich auch Bartolomeo Vanzetti kennen, bevor er zusammen mit Sacco festgenommen wird. Sie lernt die selbstlose Hingabe der italienischen Anarchisten im Alltag kennen und kann sie mit der Egozentrik der Upper Class konfrontieren. Später übernimmt sie mit ihrer Tochter die Gründung des Verteidigungskomitees für Sacco & Vanzetti. Berichtet wird über deren vergebliche Kämpfe und ihr permanentes Scheitern an den Barrieren des Gesetzes. Real ist an dieser Geschichte die Tatsache, daß viele Aktivistinnen der damaligen Suffragettenbewegung, der radikal-bürgerlichen Frauenbewegung, an den Solidaritätsaktionen teilnahmen – sozusagen in Stellvertretung der US-amerikanischen ArbeiterInnenklasse. Typisch für die soziale Basis des Verteidigungskomitees, das ihren Sitz im ersten Stock eines Hotels direkt gegenüber dem State House untergebracht hatte, war auch die Beteiligung von KünstlerInnen und Intellektuellen. Viele davon kamen extra aus New York, vor allem dem KünstlerInnenviertel Greenwich Village, angereist – was noch weiter zur Festungsmentalität der Bostoner reaktionären Kreise beitrug, weil es den Minderwertigkeitskomplex von Boston gegenüber New York nährte: die New Yorker DemonstrantInnen wurden despektierlich „New York Nuts“ (etwa: „New Yorker Nußköpfe“) genannt. Dieses Konglomerat von Frauenbewegten, KünstlerInnen und italienischen EinwandererInnen bildete schließlich eine der ersten „picket-lines“ in der Geschichte der USA, direkt vor dem von der Polizei besetzten State House, wo der damalige Gouverneur Fuller jegliches Gnadengesuch abgelehnt hatte. Eine „picket-line“ ist eine permanente Demonstration, die sich täglich wiederholt und bei der die Demonstrierenden schweigend mit Schildern oder Transparenten vor einem Objekt, hier dem State House, hin- und herlaufen. Mehrere Wochen vor der Hinrichtung begann damals diese picket-line und sie wurde trotz mehrfacher Verbote aufrechterhalten: viele wurden festgenommen, wieder entlassen und demonstrierten erneut – ein klassischer Fall zivilen Ungehorsams, der dann erst während der schwarzen BürgerInnenrechtsbewegung in den 60er Jahren zum üblichen Aktionsmittel wurde. Damals war die picket-line neu – und die täglichen Demonstrationen machten Boston und das US-Justizsystem zum Skandal, weltweit. Kurz vor der Hinrichtung wurde eine 10.000 Menschen zählende Demonstration über den Charles River zum Gefängnis von Charlestown, wo Sacco und Vanzetti gefangen waren, von einer Streitmacht aus Armee und Polizei gestoppt.
Eine Frage der nationalen Identität
In Boston ist Upton Sinclairs Roman heute in keinem Buchladen mehr erhältlich, weder in der City noch am Havard Square. Um Restexemplare der Hardcover-Ausgabe zu bestellen, muß man/frau vier Wochen warten. In den Annalen der Stadt ist die Erinnerung an die Zeit zwischen 1919 und 1927 getilgt. An keinem der historischen Orte wird an Sacco und Vanzetti erinnert.
Und doch ist die Erinnerung lebendig – jede Person über 50 Jahre, die wir in Boston nach Sacco und Vanzetti fragten, kannte den Namen und den Fall. Er hat Boston ein ganzes Jahrzehnt in Atem gehalten, das prägt das kollektive Gedächtnis. Das mußte nicht offiziell aufgeschrieben werden, es wurde mündlich von einer zur nächsten Generation überliefert. Im südlichen Stadtteil Dedham steht heute noch das Justizgebäude, das Dedham Court House, in dem damals der Prozeß stattfand. Und weiter südlich, in South Braintree, in der dortigen Pearl Street, wo das Verbrechen stattfand, für das Sacco & Vanzetti sterben mußten, kann sich noch jede/r daran erinnern. In der Pearl Street ist heutzutage keine Schuhindustrie mehr ansässig. Vor Jahren wurden die alten Industriegebäude abgerissen, am Ort des Verbrechens entstand eine Einkaufsmeile mit Parkplatz. Dort fragten wir örtliche BewohnerInnen – und alle kannten die Geschichte. Ein reaktionärer Alter sagte gar: „Ja, und ich sag euch, sie waren es! Mein Vater war Anwalt und er sah das Verbrechen zufällig als kleiner Junge, er hat sie damals erkannt!“ So weit treiben die Mythen – und so wird der Justizmord nationalistisch verarbeitet: was nicht sein darf, war auch nicht passiert. Die US-Justiz kann sich nicht irren, also hat sie auch damals nicht geirrt. Eine Welt würde zusammenstürzen, der Glaube an die Gerechtigkeit im System der USA!
Doch auch auf andere Weise bleibt der Fall lebendig. Ein Automechaniker, der seit 16 Jahren in der Pearl Street arbeitet, erzählte uns, immer wieder kämen Leute hierher, StudentInnen, ForscherInnen, HistorikerInnen. Sie wollten wissen, wo genau das Verbrechen stattfand und ob sich noch jemand daran erinnere, wie Eltern oder Großeltern davon erzählten. Sacco & Vanzetti sind nicht tot – in unserem kollektiven Gedächtnis werden sie nie sterben!
(1) vgl. zum Ablauf die jüngste deutschsprachige Publikation: Helmut Ortner: Zwei Italiener in Amerika. Der Justizmord Sacco & Vanzetti, Zambon Verlag, Frankfurt/M. 1993. Vgl. auch: Rassismus gegen Armutsflüchtlinge - Vor 70 Jahren: Justizmord an Sacco & Vanzetti, in: Graswurzelrevolution Kalender 1997, S. 76-85.
(2) vgl. Le monde diplomatique, Sept. 1999, S.1.
(3) Upton Sinclair: Boston, erstveröffentlicht 1928, dt. Erstveröffentlichung Berlin 1929, wiederaufgelegt in deutscher Sprache, Jossa Verlag, 1978. Heute kaum noch erhältlich, eher schon die aktuelle englischsprachige Ausgabe: Bentley Verlag, Cambridge, Massachusetts, 1978.