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Cake Walk

oder Eine katalanische Reise in die Anarchie

| Susanne Dehmel

Rudolf Lorenzen: Cake Walk oder Eine katalanische Reise in die Anarchie. Roman. Rotbuch Verlag, Hamburg 1999. 586 Seiten. 49,- DM

„Politische Unruhen sind immer mit erheblichen privaten Einbußen verbunden“, darin ist sich die illustre Gesellschaft aus Staatsräten, Textilfabrikanten, Generälen und Gutsherren einig. Zumal dann, wenn man auf die Ankunft der Musiker, die einen von der Langeweile erlösen, warten muß und das Personal immer noch keinen Ersatz für die ausgefallene Kühlmaschine besorgt hat. In der Lagune, wo die Bourgeoisie außerhalb der vom Pöbel beherrschten Stadt gelassen auf das Ende der Unruhen wartet, wird der Martini warm.

Eine gehörige Portion Ironie, die bisweilen in blanken Zynismus umschlägt, kennzeichnet diesen historischen Roman über ein Spanien, das lange vor dem Bürgerkrieg von politischen Unruhen und einer dekadenten Führungsschicht gekennzeichnet war. Im Barcelona des Jahres 1909 war das Volk kriegsmüde. Die verheerende Niederlage im spanisch-amerikanischen Krieg hatte den Verlust von Kuba, Costa-Rica und den Philippinen zur Folge: Spanien keine Kolonialmacht mehr. Unter Alfons dem XIII. hatte sich das Ringen um nationalstaatliche Einflußsphären nach Nordafrika verlagert: Marokko sollte für Ausgleich sorgen. Für den verlustreichen Kampf gegen die dort beheimateten Berber, die Ryf-KabylInnen, wurden Reservisten in der nordöstlichen Provinz Katalonien einberufen. Wer Geld hatte, konnte sich gegen eine kleine Summe freikaufen. Aber in der reichen, weil industriell entwickelten katalonischen Hauptstadt gab es genug Arbeiter, die das Wenige nicht aufbringen konnten. Es kam zu einer Revolte, die unter dem Namen „semana tragica“, die Blutige oder auch Tragische Woche, in die Fußnoten der spanischen Geschichte eingegangen ist. Dieser Aufstand in Katalonien war nur einer von vielen Revolten und Streiks, mit denen das Volk für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen kämpfte.

Anläßlich der Blutigen Woche notierten die Chronisten später: „Das Resultat war eine fünftägige Herrschaft des Pöbels, in der die Gewerkschaftsführer jegliche Kontrolle über ihre Leute verloren und 22 Kirchen und 34 Klöster niedergebrannt wurden“. Der Aufstand wurde von Innenminister La Cierva niedergeworfen, der 175 Arbeiter erschießen ließ. Zu den Hingerichteten gehörte damals auch der Anarchist Francisco Ferrer, einer der Begründer der freiheitlichen Pädagogik, er hatte die Escuela Moderna ins Leben gerufen.

Ein Sonntagabend im Juli 1909, Barcelona am Vorabend des Aufstands, das ist die Ausgangssituation von Lorenzens Roman Cake Walk. In der Öffentlichkeit herrscht eine Atmosphäre gedämpfter Unruhe. Die Züge kommen verspätet an, man munkelt gelegentlich von Krieg oder Unruhen, oder sucht sich irgendwie zu beschwichtigen. Streikende Arbeiter blockieren im Hafen die ‚Reina Luisa‘, um Munitions- und Reservistentransporte nach Marokko zu verhindern. Noch bevor die Revolte offen ausbricht, ist deren Scheitern gewiß: Ein Pfaffe, eigens dazu ausgebildet, den noch zu Verhaftenden bei Folter und Hinrichtung seelsorgerischen Beistand zu leisten, hat es vom Kommandanten der berüchtigten Festungsgarnison Mont de Montjuich erfahren: „Das Volk dürfe drei Tage seinen Übermut auskosten. Dann aber sei Schluß“. Ab Donnerstag wird verhaftet, verhört, gefoltert, hingerichtet – und getröstet.

CakeWalk, das ist eine Kindermusik von Claude Debussy und ein afro-amerikanischer „Negerjazz“ (325), der Ende des 19. Jahrhunderts zum europäischen Modetanz wird. An eine Art grotesken Tanz erinnert auch das Verhalten, daß Lorenzen seine über 40 Akteure bisweilen aufführen läßt. Die herrschende Klasse etwa vertreibt sich in sicherer Entfernung die Zeit bis zum Ende der Wirren mit albern-eitler Selbstbespiegelung. In den Pausen ihrer zügellosen Ausschweifungen spielt sie das kleine Welttheater und belustigt sich am bevorstehenden Sieg der Konterrevolution: „Paff!, Paff!, Paff!, wie die Kinder ahmen sie die Gewehrsalven der Garnison nach. Aber während die Bourgeoisie schon im voraus die Särge der Aufständischen bejubelt, deutet sich ihr Untergang von ganz anderer Seite an: Längst wirtschaften Gutsverwalter in die eigene Tasche, verfallen Rohstoffpreise, führen Finanzspekulation und noch unentdeckte Betrügereien an den Rand des Bankrotts.

Nein, das Volk mit seinen sporadischen Revolten wurde zu keiner Zeit als ernsthafte Bedrohung empfunden. Noch bevor ein eher zufällig ausgelöster Schuß das Chaos in Form von Randalen, Spontanexekutionen und Vergewaltigungen einleitet, ist das Scheitern des Aufstands gewiß. Denn die Akteure „wissen noch nicht, daß sie allein sind und daß die kommende Woche deshalb sem na tragica heißen wird, weil alle allein bleiben, weil sich kein Anführer findet und jeder Einzelne lernen muß, sich mit anderen zu solidarisieren – was aber nicht glückt“ (24).

Errico Malatesta war derjenige, der auf dem Londoner Anarchistenkongreß verkündet hatte, das Volk brauche für seine Befreiung keinen Führer, die Kraft der Solidarität reiche aus, die Ketten zu sprengen. Aber Lorenzens Blutiger Woche mangelt es nicht nur an Solidarität. Sie war keine organisierte Erhebung, kein geplanter Anarchistenaufstand, sondern eine spontane Entladung ohne längerfristige Ziele. Dem kurzzeitigen Aufbegehren folgt schon bald die Ratlosigkeit: „Streik und Meuterei sind ihnen gelungen, was nun sollen sie anfangen mit so einem Sieg? Die Deserteure haben ihre Freiheit – und was nutzt sie ihnen?“ fragt der Erzähler (184).

Lorenzen, der aus seinem Nihilismus keinen Hehl macht, gibt implizit eindeutige Antworten. Sein Menschenbild ist geprägt von Fatalismus in einer dem Untergang geweihten Welt, in der jeder, wenn überhaupt, dann nur für sich selber kämpft. Humanität, Gemeinschaft, Hoffnung oder Solidarität bleiben Fremdworte, und selbst die, die auf einer Seite kämpfen sollten, verraten sich gegenseitig. Nutzlos ist jeder Befreiungsversuch, sei er bezogen auf Herrschaft oder auf die Bewältigung der persönlichen Vergangenheit. Revolution führt in der Sicht des Autors doch nur dazu, daß sich das Volk gegenseitig abschlachtet. Eine Herrschaft würde nur abgelöst von einer neuen, die ebenso rasch wie die vorige der Dekadenz verfiele. Quer durch alle Gesellschaftsschichten, aus denen Lorenzen seine Charaktere rekrutiert, gilt in CakeWalk: Der Mensch an sich ist unfähig, etwas Positives zu bewirken. Zu sehr sind die Figuren in ihre Vergangenheit verstrickt, zu viel Leid wurde ihnen angetan, auch wenn sie sich nur selten dem offenen Selbstmitleid ergeben.

Im Wechsel von Dialog und Rückblenden in Form von Erinnerungen schafft Lorenzen plastische Lebensläufe. Und es sind vor allem die Frauen, deren innere Monologe von Leid getränkt sind. Fast alle weiblichen Hauptfiguren von der amerikanischen Revolutionstouristin und Spionin Miß Alabama, über die alternde Diva und Generalsgattin Morocha bis hin zur Infantin Hyazinthe Florida: Alle sind sie schon in frühester Jugend mißbraucht und vergewaltigt worden.

Den anderen passiert es jetzt gerade, im Juli 1909. Diese Szenen beschreibt der allwissende Erzähler mit einer distanzierten Kälte und ohne Mitleid.

Eines der Opfer aus verarmter Adelsfamilie redet sich ein, „wieviel schlimmer alles hätte kommen können, wenn jetzt ein Anarchist auf ihr läge“ (319). Die Schwiegereltern der Entjungferten fänden es hingegen besser, sie wäre tot.

Kein Trost, nirgends.

Die „Katalonische Reise in die Anarchie“, so der Untertitel des Romans, transportiert wieder einmal die Idee vom Anarchisten als ewigem Bombenleger, von Chaos, Gewalt und Untergang, wenn das Volk gegen sein Unterdrückung aufbegehrt. Man darf getrost davon ausgehen, daß Lorenzen sich mit den konstruktiven Aspekten von Anarchie (an archia = ohne Herrschaft) gar nicht auseinandergesetzt hat. Und das liegt nicht daran, daß es in jener Epoche der spanischen Geschichte keine gegeben hätte. Aber dem genialen Erzähler geht es nicht um Historie. Die dient vielmehr nur als Kulisse für das Sittengemälde einer verkommenen und orientierungslosen Gesellschaft, die sinnbildlich für Europa und das ganze Jahrhundert steht.

Unaufgeregt, in einem langen ruhigen Fluß verknüpft der Autor Geschichtliches, Erdachtes, Mythen und vor allem Schicksale. Im Vordergrund des Geschehens stehen aber nicht die Aufständischen, also Arbeiter oder desertierte Reservisten. Es sind vielmehr nur mittelbar oder gänzlich Unbeteiligte, die von ihrem Logenplatz die semana tragica zur Kenntnis nehmen: die Bourgeoisie.

Über Anarchie, ihre Anliegen oder gar Theorien erfährt die LeserInnenschaft nur, daß es keine geben soll.