feminismus

Von Jungfrauen und Schlampen

Zwangsheterasexualität und radikaler Feminismus

| Marilyn Frye Übersetzung: Gita Tost

In ihrem 1990 erschienen Essay "Willful Virgin or Do You Have to Be a Lesbian to Be a Feminist?" (Muß frau Lesbe sein um Feministin zu sein?) versucht die Philosophin und Dozentin für Women's Studies Marilyn Frye die oft gestellt Frage nach dem Verhältnis von Feminismus und Lesbianismus zu beantworten. Dabei analysiert sie den Zusammenhang von Patriarchat und Zwangsheterosexualität; von sexistischer und rassistischer Gewalt; entlarvt Heterosexismus als soziale Konstruktion und beantwortet die Eingangsfrage mit einem deutlichen Nein. Sie spricht sich gegen die Gleichsetzung von Lesbisch-Sein mit Radikal-Sein (dürfen) aus, weil dies nur eine billige Entschuldigung für Nichtlesben wäre, nicht radikal sein zu müssen oder zu dürfen. Ihr Essay wird an dieser Stelle zum Plädoyer für eine neue, radikalfeministische Hetera-Identität, die aber nach Ansichts Fryes erst noch erträumt, geschaffen und ausprobiert werden muß. Ich selbst bin der Ansicht, daß bereits viele (Hetera- und Bi-)Frauen versuchen, genau diesen Weg zu gehen, weshalb ich den schwer erhältlichen Artikel (nur einen Tag unter Lesesaal-Aufsicht!) mit Fryes Vision in Ausschnitten übersetzt habe und im folgenden für sich selbst sprechen lassen will.

Ich glaube, daß alle feministische Theorie und Praxis letztlich zu der Ansicht führt, daß einer der zentralen konstituierenden Faktoren und Schlüsselmechanismen des weltumspannenden Phänomens männlicher Dominanz und der Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen die nahezu universelle weibliche Heterosexualität ist. […] Ohne (hetero-)sexuelle Gewalt, ohne (hetero-)sexuelle Belästigung und ohne die Heterosexualisierung sämtlicher Aspekte des weiblichen Körpers und Verhaltens gäbe es kein Patriarchat, und jede andere Form oder Manifestation von Unterdrückung, die sonst noch existiert, würde nicht die Form, das Ausmaß und die Dynamik haben wie der Rassismus, Nationalismus usw., die wir heute kennen. […]

Weibliche Heterosexualität ist keine biologische Bestimmung und auch nicht nur die erotische Anziehung, die eine einzelne Frau zu einem anderen menschlichen Lebewesen verspürt, das zufälligerweise männlich ist. Heterasexualität ist ein System sozialer Institutionen und Praktiken, die vom patriarchalen Verwandtschaftssystem definiert und überwacht werden, vom bürgerlichen Gesetz und von religiösen Regeln, von einem nachdrücklich durchgesetzten Sittenkodex, sowie von gründlich eingetrichterten Werten und Tabus. Diese Definitionen, Regeln, Werte und Tabus drehen sich um Männerbündelei und um die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen. Sie dienen nicht der Liebe, menschlicher Wärme, Trost, Spaß, Genuß oder tiefem Wissen voneinander. Wenn irgendeiner dieser Werte innerhalb der Grenzen patriarchaler Institutionen und Praktiken auftaucht, dann deshalb, weil Freude, Zuwendung, Genuß und Anerkennung wachsen wie Löwenzahn und schwer auszurotten sind, und nicht weil Heterasexualität natürlich wäre, oder gar das natürliche Zuhause solcher Werte. […]

Das Wort ‚Jungfrau‘ bezeichnete ursprünglich nicht eine Frau, deren Vagina noch unberührt war von einem Penis, sondern eine freie Frau: nicht verlobt, verheiratet, gebunden, nicht im Besitz eines Mannes. Es bezeichnete eine Frau, die sexuell und daher auch sozial autonom war. Im patriarchalen Universum gibt es keine Jungfrauen in diesem Sinne. Sogar kleine Mädchen werden als Besitz ihrer männlichen Verwandten und als potentielle Ehefrauen betrachtet. Daher müssen Jungfrauen (im ursprünglichen Sinne) undenkbar sein, unaussprechlich, unmöglich. Radikalfeministische Lesben beanspruchen eine solche, positiv bewertete Jungfräulichkeit und haben Wege gefunden, sie zu leben, indem sie den patriarchalen Anspruch, Realität und Bedeutsamkeiten zu definieren, kreativ mißachteten.

Die Frage, die auf der Hand liegt, lautet: Gibt es eine mögliche Perspektive für alle Frauen, patriarchal- fremdbestimmte Definitionen ihrer Wirklichkeit auf gleiche Weise kreativ zu mißachten und stattdessen vielfältige Formen von positiv gelebter Jungfräulichkeit zu erfinden und zu verkörpern, die auch dauerhafte, erotische, ökonomische und partnerschaftliche Verbindungen und ein Zusammenwohnen mit Männern beinhalten können? Solche Jungfrauen sind innerhalb des Patriarchats genausowenig denkbar wie Lesben. Wenn sie trotz dieser Unmöglichkeit anfangen zu existieren, werden sie ein Leben führen, das sexuell, sozial und politisch genauso befremdlich und unnatürlich wirken wird wie das Leben radikalfeministischer Lesben. Was wir uns an dieser Stelle vorstellen müssen sind Frauen, die bereit sind, ausgewählte Verbindungen mit Männern einzugehen, die aber wilde, ungezähmte Frauen sind, die sich selbst hier und jetzt erschaffen. […]

Diese Jungfrauen kleiden und schmücken sich nicht mit dem Krimskrams, der in ihrer Kultur weibliche Unterwerfung unter einen von Männern definierten Begriff von Weiblichkeit bedeutet und der ihren Körper zum Sinnbild dieser Unterwerfung macht: sie machen sich nicht ‚attraktiv‘ im Sinne der Weiblichkeitskonventionen und Mode ihrer jeweiligen Kultur; und darum sagen Leute, die für ihre natürliche Schönheit blind sind, sie seien häßlich. Sie erhalten sich so viel finanzielle Flexibilität wie sie nur können, um sicherzustellen, daß sie notfalls jederzeit zur Unabhängigkeit zurückkehren können, wenn ökonomische Abhängigkeiten drohen, sie an eine Beziehung zu ketten, die sie nicht mehr wollen. Sie kämen genausowenig auf die Idee, Sex zu haben, der keinen Spaß mache, wie nackt im Regen herumzulaufen, wenn nicht aus Spaß. Ihre sexuellen Begegnungen sind keine Kriegsschauplätze, auf denen sich Leute mit Schwänzen zu Männern stilisieren, während Leute mit Mösen zu Frauen gemacht werden.

Diese Jungfrauen, die sich aus freien Stücken mit Männern verbinden, versuchen nicht, die Fiktion aufrechtzuerhalten, daß ihre Lieblinge die besseren Männer seien. Wenn sie von Leuten bedroht werden, die sich von ihnen bedroht fühlen, berufen sie sich nicht auf ihre Verbindungen zu Männern, um dadurch zu beschwichtigen und zu beweisen, daß sie keine Männerhasserinnen sind. Sie begeben sich nicht in männlichen Schutz. Sie üben keinen Druck aus auf ihre Töchter, Mütter, Schwestern, Freundinnen oder Schülerinnen, sich in gleicher Weise wie sie selbst auf Männer zu beziehen, um dadurch in ihrer eigenen Wahl bestätigt zu werden. Sie kämen nie auf die Idee, einen Mann zu einer feministischen Veranstaltung mitzuschleppen, die nur für Frauen ausgeschrieben ist, sondern sie genießen, schaffen und verteidigen Frauenfreiräume.

Diese Jungfrauen, die sich mit Männern verbinden, lassen sich weder von männlicher Zustimmung oder Mißbilligung manipulieren, noch von übergroßem Tamtam um – vermeintliche oder echte – Bedürfnisse von Männern und Kindern. Sie sind immun gegen Homophobie und können mit der Drohung, in den Ruch des Lesbischen zu geraten, weder eingeschüchtert noch zur Anpassung gezwungen werden. Sie haben es nicht nötig, respektabel zu sein.

Diese Jungfrauen verweigern sich der Institution Ehe, und sie weigern sich, die Hochzeiten anderer zu unterstützen oder daran teilzunehmen – auch nicht an der ihres Lieblingsbruders. Sie sind hartgesottene Ehegegnerinnen. Sie kommen unter enormen Heiratsdruck, aber sie geben nicht nach. Sie betrachten die Ehe nicht als Privileg. Sie lassen sich nicht einmal durch Steuer- und Versicherungsvorteile bestechen oder zur Ehe verlocken. Auch nicht, wenn sie und ihre Partner älter werden und besorgter um ihre Gesundheit und ihre finanzielle Situation.

Diese Jungfrauen pflegen starke, verläßliche, kreative, tragfähige, unterstützende und intensive Freundinschaften. Statt von der Verpflichtung, Männer zu beschwichtigen, zu päppeln und zu erziehen, werden ihre Visionen und ihr Engagement von dem grundlegenden Bedürfnis getragen, Frauen zu ermächtigen, sowie Freundinschaften und Solidarität unter Frauen zu stärken.

Diese Jungfrauen, die sich mit Männern verbinden, wissen, daß sie nicht sie selbst sein können, wenn sie dabei im Schrank sitzen: sie leben offen als lose Weibsbilder und kompromißlose Schlampen – eine unübersehbare Erscheinung auf der sozialen und politischen Bühne. Sie machen sich selbst sichtbar, unüberhörbar und für andere greifbar. Sie schaffen eine Gemeinschaft von Schlampenschwestern und lesbischen Jungfrauen, und sie unterstützen sich gegenseitig in ihrer Wildheit. Zusammen machen sie Gaudi und Rabatz. Sie schaffen sich Möglichkeiten, Wärme, ein Zuhause, Gesellschaft und Intensität zu erleben – mit oder ohne Männer. Sie schaffen Wert und Bedeutung, so daß sie – wenn der Druck, sich an die patriarchale Heterasexualität anzupassen, extrem wird – einen Rückhalt und eine Widerstandsgemeinschaft haben, die ihnen den Rücken stärkt und mit ihnen zusammen nach neuen und besseren Lösungen sucht als denjenigen, die eine Anpassung verspricht.

Sie sind schöpferisch tätig: sie schreiben, dichten, musizieren, malen, geben Zeitungen heraus, sammeln Wissen, Fähigkeiten, Mittel und Methoden, und sie sind politisch aktiv. In ihren Zeitungen artikulieren sie ihre Visionen, ihre kulturellen und politischen Unterschiede, ihre vielfältigen Werte; sie beschimpfen sich, sie unterstützen sich, sie nehmen Anteil aneinander. […]

Einige Frauen haben gehofft, daß frau schonLesbe sein muß, um eine wahre, extreme, radikale, aufrührerische Feministin sein zu können, weil sie dann – da sie selbst keine Lesben sind und auch um nichts in der Welt Lesben werden würden – eine Entschuldigung hätten dafür, nicht radikalfeministisch zu denken oder zu handeln oder gar Männer zu verschrecken. Vieles, was gemeinhin als weibliche Angst vor Lesbianismus durchgeht, ist in Wirklichkeit Angst vor Männern – Angst davor, was Männer aufmüpfigen Frauen antun könnten. Aber eine solche Entschuldigung für gemäßigten und sicheren Feminismus will ich nicht liefern.

‚Muß frau Lesbe sein um Feministin zu sein?‘ ist nicht ganz richtig formuliert. Die Frage müßte heißen: ‚Kann eine Frau heterasexuell sein und gleichzeitig radikale Feministin?‘ Ich sehe das so: du mußt keine Lesbe sein, um einen radikalen Feminismus zu verkörpern und zu leben; aber du kannst auch keine Hetera sein in der üblichen patriarchalen Bedeutung dieses Wortes – du kannst nicht irgendeine Variante einer patriachalen Gattin sein. Lesbe hin oder her – um einen konsequenten und umfassenden Feminismus zu leben, mußt du eine Ketzerin sein, eine Abweichlerin, eine ungezähmte Frau, ein unmögliches Wesen. Du mußt Jungfrau sein.“

Original: "Willful Virgin or Do You Have to Be a Lesbian to Be a Feminist?" (1990) in: Marilyn Frye, Willful Virgin. Essays in Feminism (1976- 1992). The Crossing Press, USA.