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„Das Zeichen Auschwitz läßt sich nicht tilgen“ (P. Levi)

| Antisemitismus-AG, Frankfurt/M.

Myriam Anissimov, Primo Levi. Die Tragödie eines Optimisten. Eine Biographie. Übersetzt von Barbara Lou Gerstner, Peter Punin (Anhang) u. Ronald Voullié. Philo Verlagsgesellschaft: Berlin 1999, 639 S., 59,80 DM.

Primo Levi, Gespräche und Interviews. Hrsg. von Marco Belpoliti. Aus dem Italienischen von Joachim Meinert. München, Wien: Carl Hanser Vlg 1999, 288 S., 39,80 DM.

Mit der jüngst erschienenen Biographie der in Paris lebenden Schriftstellerin und Journalistin Myriam Anissimov liegt nun endlich in deutscher Übersetzung – die Originalausgabe erschien 1996 in Frankreich – eine umfassende Studie über Leben und Werk des italienischen Schriftstellers, Chemikers und Auschwitz-Überlebenden Primo Levi vor. Bewegend beschreibt die Autorin darin die Tragödie eines Menschen, dem von den Nationalsozialisten einzig aufgrund seiner jüdischen Herkunft das Lebensrecht aberkannt wurde und dem schließlich, trotz seiner optimistischen Grundhaltung, die „Krankheit der Heimgekehrten“, wie er es in bezug auf die Überlebenden der Shoa selbst nannte, einholte als er sich 1987 in seinem Geburtshauses in Turin zu Tode stürzte.

Primo Levi, 1919 geboren, wuchs in einer assimilierten jüdischen Familie auf. Nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums, studierte er Chemie und promovierte 1941. Aufgrund der 1938 von Mussolini erlassenen antijüdischen Rassengesetze fand er nur unter Mühen eine berufliche Anstellung als Chemiker in einem Bergwerk, später in einem pharmazeutischen Unternehmen.

1943 landeten die Alliierten in Italien, brach der italienische Faschismus zusammen und besetzte die deutsche Wehrmacht Oberitalien. Primo Levi schloß sich daraufhin dem antifaschistischen Widerstand um die vorwiegend aus Jugendlichen und Intellektuellen bestehende Piemonter Partisanenbewegung „Giustizia e Libertà“ an. Mitte Dezember 1943 aufgrund einer Denunziation verhaftet, wurde er zunächst in das KZ Carpi-Fossoli bei Modena verschleppt und im Februar 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Während die meiste Kinder, Frauen und Männer unmittelbar nach der Ankunft in Auschwitz ins Gas geschickt wurden, kämpfte Primo Levi, dem die Nazis auf den linken Arm die Häftlingsnummer 174517 tätowierten, als Arbeitssklave in Auschwitz-Monowitz ums nackte Überleben.

Die detaillierte Beschreibung dieses zehnmonatigen Martyriums 1944/45 gehört zu den anrührendsten Kapiteln in Anissimovs Buch. Geradezu atemlos liest man, wie es überhaupt möglich war, diese Barbarei zu überleben. Primo Levi, von Scham- und Schuldgefühlen gequält, stellte sich wie viele andere Überlebende der Shoa nach seiner Befreiung wiederholt die Frage, wieso ausgerechnet er überlebte und Millionen Menschen in dieser Hölle umkamen: „Ist die […] Scham gerechtfertigt oder nicht? Es ist mir […] nicht gelungen, hierauf eine Antwort zu finden […] aber die Scham war vorhanden und ist es noch, konkret, lastend, fortdauernd.“(S. 218) Die anhaltenden Schuldgefühle gegenüber den ermordeten Opfern der Shoa, vermeintlich auf ihre Kosten überlebt zu haben, stürzten ihn am Ende seines Lebens in tiefe Depressionen.

Schwerkrank wurde Primo Levi Ende Januar 1945 von der Roten Armee in Auschwitz-Monowitz befreit. Er kehrte nach Turin zurück und arbeitete wieder als Chemiker, später als Generaldirektor der synthetische Emaillelacke produzierenden SIVA-Werke. Zugleich begann Primo Levi zu schreiben. Die schrecklichen Erfahrungen in Auschwitz bestimmten seine Entscheidung, Schriftsteller zu werden, maßgeblich. Bereits 1947 erschien Levis Bericht „Ist das ein Mensch?“, eines der zentralen literarischen Zeugnisse über die Shoa. Mit beeindruckender Nüchternheit dokumentierte er darin, was die Deutschen ihm und Millionen anderen in Auschwitz angetan hatten. Über sein Leiden und das ihn quälende Trauma schreibend sich zu vergewissern, ließ ihn bis zu seinem Freitod nicht verstummen. Anläßlich des zehnten Jahrestages der Befreiung vom Nationalsozialismus gemahnte er: „Sollen wir, die Überlebenden […] uns mit unserem Zeugnis, das die Geschichte trotz unserer Feinde hinübergerettet zu haben scheint, zurückhalten? Es gibt nur eine Antwort. Es darf kein Vergessen geben, kein Verschweigen. Wenn wir schweigen, wer wird dann reden? Bestimmt nicht die Schuldigen und ihre Komplizen. Unser Zeugnis wird fehlen, und in naher Zukunft wird die Geschichte der Bestialität der Nazis aufgrund ihrer eigenen Ungeheuerlichkeit der Legende angehören. Wir müssen also unbedingt sprechen, immer wieder sprechen.“ (S.393f.)

Zugleich wurde ihm gemeinsam mit anderen Überlebenden der Shoa – etwa dem österreichischen Schriftsteller Jean Améry, zur gleichen Zeit wie Levi in Auschwitz als Arbeitssklave inhaftiert und dort zeitweilig dessen Barackenkamerad – schmerzhaft bewußt, daß ihre traumatischen Erfahrungen mit dem schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte selbst engsten Familienmitgliedern und langjährigen Freunden, die nicht dem Vernichtungsdruck der Nationalsozialisten ausgesetzt waren, nicht zu vermitteln waren. In seiner Erstveröffentlichung „Ist das ein Mensch?“ schildert er einen in Auschwitz wiederkehrenden Traum: „Meine Schwester, einige nicht genau erkennbare Freunde von mir und viele andere Menschen sind da. Sie hören mir alle zu, und eben das erzähle ich: […] von dem harten Bett, von meinem Nachbar, den ich wegschieben möchte und den zu wecken ich Angst habe, weil er kräftiger ist als ich. Ich erzähle auch ausführlich von unserem Hunger, von der Läusekontrolle und von dem Kapo, der mich auf die Nase geschlagen und dann zum Waschen geschickt hat, weil ich blutete. Ein intensives, körperliches unbeschreibliches Wonnegefühl ist es, in meinem Zuhause und mitten unter befreundeten Menschen zu sein und über so vieles berichten zu können. Und doch, es ist nicht zu übersehen, meine Zuhörer folgen mir nicht, ja sie sind überhaupt nicht bei der Sache: Sie unterhalten sich undeutlich über andere Dinge, als sei ich gar nicht vorhanden. Meine Schwester schaut mich an, steht auf und geht, ohne ein Wort zu sagen.“ (S. 359)

Das Empfinden, das Jean Améry als Verlust des „Weltvertrauens“ beschrieben hat, traf exakt das Lebensgefühl der den NS-Lagern Entronnenen. Auch wenn die Welt außerhalb der Lager kaum Interesse daran bekundete, erschien Primo Levi die erzählende Erinnerung als einzige Möglichkeit, sich von dem Leid zu befreien. Auschwitz war die grundlegende Erfahrung seines Lebens, von der er erzählen mußte, lebenslang.

Zunehmend vertieften sich seine Zweifel, ob die berichtende Zeugenschaft über den Holocaust überhaupt das Erinnern bewahren kann: „Aus dem Abstand von Jahren läßt sich heute durchaus sagen, daß die Geschichte der Konzentrationslager fast ausschließlich von denen geschrieben wurde, die, wie ich, nicht den tiefsten Punkt des Abgrunds berührt haben. Wer ihn berührt hat, ist nicht mehr wiedergekommen, oder seine Beobachtungsgabe war durch sein Leid und das Nichtbegreifen gelähmt.“(S. 526)

Detailliert zeichnet die Biographin Myriam Anissimov Levis anhaltenden Kraftakt nach, die Erinnerung an die Shoa wachzuhalten. Seine Bücher: „Ist das ein Mensch?“ (1947), „Atempause“ (1963), „Das periodische System“ (1975), „Wann, wenn nicht jetzt?“ (1982), das den jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus dokumentiert; „Die Untergegangenen und die Geretteten“ über die Mechanismen des Vernichtungslagers und ihre Auswirkungen auf die Psyche der Häftlinge, der Roman „Der Ringschlüssel“ (1997), die Erzählungen und Gedichte, zeugen von einem erzählerischen Potential, das Inferno der Shoa mit großer Überzeugungskraft für die Nachwelt zu dokumentieren.

In der Frage, welche Lehren aus dem Massenmord am europäischen Judentum zu ziehen seien, wies er wiederholt daraufhin, zu welchen Greueltaten Menschen fähig sind. Zugleich bewahrte er sich aber seinen Glauben an einen Humanismus, der auf einem Erinnern basiert, das weder auf Rache noch vorschnelles Verzeihen abzielt, sondern Gerechtigkeit einfordert, ohne dabei die Opfer zu instrumentalisieren, einfordert. Das schloß auch sein Engagment gegen Antisemitismus und die Leugnung der Shoa mit ein. 1978 verfaßte Primo Levi einen Text für den Gedenkstein im Block der italienischen Häftlinge in Auschwitz, worin er sein Credo formulierte: „Besucher, betrachte die Überreste dieses Lagers und bedenke: Aus welchem Land du auch kommen magst, du bist kein Fremder. Sorge dafür, daß deine Reise nicht umsonst ist, daß unser Tod nicht umsonst ist. Dir und deinen Kindern vermittelt die Asche von Auschwitz eine Warnung. Möge die Frucht des Hasses, dessen Spuren du hier siehst, keine neue Saat tragen, weder heute noch jemals.“(S. 457)

Mit dieser voluminösen Biographie Primo Levis liegt eine empfehlenswerte Studie vor, die dokumentiert, wie ein Überlebender der Shoa seine Leidenserfahrungen und sein Denken nach Auschwitz schreibend in die Öffentlichkeit einzubringen versuchte, sich jedoch am Ende seines Lebens gescheitert sah und schließlich wie Paul Celan, Bruno Bettelheim, Tadeusz Borowski und Jean Améry nur einen ‚Ausweg ins Freie‘ erkannte: den selbstgewählten Tod.

P. S.: Eine treffliche Ergänzung zu Anissimovs Lebensdarstellung ist der soeben erschienene Auswahlband mit den wichtigsten Gesprächen und Interviews Primo Levis nach Themenkreisen geordnet: Leben, Bücher, Literatur, Shoa, Judentum und Staat Israel.