In den GWR-Ausgaben 237, 239 und 240 wurde über Marx, Proudhon, Geld und Mehrwert kontrovers diskutiert. Eine der aufgeworfenen Fragen war, ob es einen libertären Marx gibt. Der folgende Beitrag setzt die Diskussion fort und erinnert an die Antworten, die zeitgenössische und nachfolgende anarchistische ProtagonistInnen auf diese Frage gaben. Aktuell ist diese historische Diskussion schon deshalb, weil sich nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus der Marxismus wieder als systemoppositionell, zuweilen sogar rechthaberisch (DDR-Nostalgie, Sowjetunion war doch besser als heute usw.) geriert und damit in die systemkritische Konkurrenz zum Anarchismus tritt. Aus Platzgründen mußten wir den Beitrag geringfügig kürzen. (Red. HD)
Das Kapital ist die größte Leistung von Marx, davor hatte auch Bakunin großen Res(t)pekt. Bakunin übersetzte dieses Werk selber ins Russische. Johann Most gab eine volksverständliche Zusammenfassung heraus, welche von Marx redigiert wurde. Es liegt mir also fern, AnarchistInnen gegen Marx ins Feld zu führen. Interessanter ist es, Marx gegen den libertär-verklärten Marx anzuführen, denn welchen Sinn macht es, Marx als libertär zu verklären? In GWR 239, S. 15, Fußnote 4 wird sich bezogen auf „die für den Verkauf gesellschaftlich, durchschnittlich notwendige Arbeitszeit.“ Doch: „Marx verneint dies (…) im zweiten Band des Kapitals.“ Richtigerweise wird zum Schluß gefragt: „Warum sollten hier also andere Maßstäbe angesetzt werden wie beim Transport.“ Die eigentliche Frage lautet: Warum erkannte dies Marx nicht? Fehler sind menschlich, ja sogar nützlich, denn wir können aus ihnen lernen. Marx hat aber ebenso große geistige Fehlleistungen abgeliefert. Seine Entwicklung über die Jahrzehnte hinweg ist voller Widersprüche. Dies beschreibt Daniel Guérin in Anarchismus und Marxismus– einer Schrift, die für die Auseinandersetzung während der StudentInnenbewegung wichtig war – sehr prägnant:
„Der junge Marx, Humanist und Schüler des Philosophen Feuerbach, entwickelt sich anschließend zu einem rigiden wissenschaftlichen Determinismus. Der Marx der ‚Neuen Rheinischen Zeitung‘, der nur Demokrat genannt werden wollte, und der die Verbindung mit der fortschrittlichen deutschen Bourgeoisie suchte, ähnelt in nichts dem Marx von 1850, Kommunist und sogar Blanquist, Besinger der permanenten Revolution, der unabhängigen, politischen kommunistischen Aktion und der Diktatur des Proletariats. Welch ein Unterschied auch zwischen den Abschnitten im Kommunistischen Manifest 1848, die forderten, daß der Staat die Gewalt über die gesamte Ökonomie erlange und den späteren Erklärungen, in denen der Staat durch die „assoziierten Produzenten“ ersetzt wird. Der Marx der folgenden Jahre, der die internationale Revolution auf wesentlich später verschob und sich in die Bibliothek des Britischen Museums einschloß, um sich umfassenden wissenschaftlichen Studien zu widmen, ist noch einmal völlig anders als der aufständische Marx von 1850, der an eine allgemeine, unmittelbar bevorstehende Erhebung glaubte. Der Marx von 1864-69, der zunächst hinter den Kulissen die Rolle des heimlichen und machtuninteressierten Beraters der in der I. Internationale zusammengeschlossenen Arbeiter gespielt hatte, wird ab 1870 plötzlich ein sehr autoritärer Marx, der von London aus den Generalrat der Internationalen dirigiert. Der Marx, der Anfang 1871 vor einer Erhebung in Paris heftig warnt, ist nicht derselbe wie der, der nachher in seiner berühmten Adresse unter dem Titel Bürgerkrieg in Frankreichdie Commune von Paris in den Himmel hinein lobt, von der er – nebenbei bemerkt – einige Züge idealisiert. Schließlich ist der Marx, der in der gleichen Schrift versichert, die Commune habe den Verdienst, den Staatsapparat zerschlagen und durch die kommunale Macht ersetzt zu haben, keineswegs der selbe Marx wie der, der in seinem Brief über das Gothaer Programm unbedingt beweisen will, daß der Staat nach der proletarischen Revolution noch für eine relativ lange Zeit überleben müsse. Wir könnten all diese Widersprüche und diesen Zickzackkurs durch die Jahre hindurch verfolgen. Es kann nunmehr wohl keine Frage mehr sein, daß der ursprüngliche Marxismus, derjenige von Marx und Engels, kein einheitlicher Block ist. Wir müssen ihn einer kritischen Prüfung unterziehen und können nur Teile von ihm übernehmen, die zu unserem libertären Kommunismus in keinem Widerspruch stehen.“
Wir können eben nur Bruchteile übernehmen. Die ökonomische Kritik des Kapitalismus von Marx ist umfassend und wissenschaftlich. Aber ebenso stehen viele seiner Geisteshaltungen im krassen Widerspruch zu den anarchistischen.
Auf dem Misthaufen der Geschichte
Erich Mühsam schrieb in Bismarxismus: „Der Marxismus – Landauer weist in seinem herrlichen Aufruf zum Sozialismusnachdrücklich darauf hin – beschäftigt sich in allen seinen theoretischen Schriften nirgendwo mit dem Sozialismus, er erschöpft sich in der Analyse und Kritik des Kapitalismus. Indem er aber ausgeht von der Hegelschen Lehre der Vernünftigkeit alles Seienden und die unausweichliche Notwendigkeit der kapitalistischen Periode behauptet, ja, ihre Fortentwicklung bis zum Kulminationspunkt in die Zukunft hinein zur Grundlage seiner Revolutionslehre macht, bejaht er zunächst alle Voraussetzungen des Kapitalismus, und so bejaht er den Staat, den Zentralismus, das Autoritätsprinzip, alles, worauf der Kapitalismus ruht. Das Proletariat kann nicht zu Freiheit und Sozialismus kommen, ehe es nicht in seinem eigenen Befreiungskampf die Lehren verwirft, die die Stützen jedes Staatsglaubens sind: Autorität und Disziplin, Zentralismus und Bürokratismus, Positivismus und Fatalismus. Die Wissenschaft, sagt Bakunin, hat das Leben zu erhellen, nicht zu regieren. Führerin im Kampf sei dem revolutionären Proletariat nicht die anfechtbare Wissenschaft des Marxismus, der nichts anderes ist als Bismarxismus, sondern der unanfechtbare religiöse Glaube an sein Recht und seine Kraft, der Haß gegen die Ausbeutung und der Wille zur Freiheit!“
Hier wird Bakunin nicht gegen, sondern eigentlich für Marx erklärlich. Marx und Engels, die beiden eitlen Gockel, haben schon vorzeitig, auf dem „Misthaufen der Geschichte“, ihre Endlagerungsgrube gescharrt. Zu den Verbiegungen von Marx hielt Johann Most in Marxereien und Eseleienfest:
„Nichts wäre aber ein größerer Irrtum, als die etwaige Annahme, daß die Ära der Irrtümer heutzutage abgeschlossen sei. Wir sagen nicht zuviel, wenn wir behaupten, daß neun Zehntel aller jetzt lebenden ‚Kultur'(?)-Menschen von einer Eselei in die andere fallen, ohne auch nur zu ahnen, wie sehr sie bis über die beiden Ohren in Irrtümern befangen sind. Man könnte über dieses Thema eine Bibliothek von hundert anderthalbfüßigen Folianten schreiben, und man würde trotzdem nicht erschöpfen, so ungeheuerlich verrückt ist die durchschnittliche Denkweise der meisten sogenannten Marxisten. Wo man hinblickt, stößt man auf verkehrte Auffassungen, demgemäß auch auf blödsinnige Schlußfolgerungen, kurzum, auf total unlogische Kreuz- und Quersprünge verhunzter Gehirne.“
Wozu ebenso zu rechnen ist, Marx zum obersten Libertären zu verklären!
Stereotypen Marx’scher Anarchismuskritik
Der in GWR 239 zitierte Satz: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ sollte als erstes mal auf Marx selber bezogen werden. Marx‘ Fähigkeit und Leistung war das Verfassen des Kapital. Und was war das Bedürfnis von Marx? Stirner verbal auszuschalten und vernichten zu wollen. Max Stirners philosophische Fähigkeit drückte sich im Werk Der Einzige und sein Eigentumaus. Wir heutigen AnarchistInnen sollten jede/n nach seinen/ihren Fähigkeiten beurteilen und auch beschränken. Es geht nicht um Personen, sondern um Positionen!
Wie verstand Marx Stirner? Gar nicht! Stirner ist äußerst schwierig zu verstehen, durch seine eigene Terminologie. Engels hatte Kontakt zu Stirners „Freien“ in Berlin und war anfänglich nicht unbeeindruckt. Nachdem er aber endgültig zum Sprachrohr von Marx mutierte, änderte sich dies schlag-Artig. In der Deutschen Ideologie – der Schrift gegen Stirner – wurde erstmalig das Grund-Strickmuster marxistischer Anarchismuskritik entwickelt. In einer der Sekundärliteraturen zu Stirner, A.M. Bonanno’s Max Stirner und der Anarchismus, ist dies folgendermaßen beschrieben:
„Und mit welchen Mitteln droschen sie (Marx/Engels, d.A.) auf ihn (Stirner, d.A.) ein! Kein noch so mieses Register der Denunzierung, der Verfälschung, des Lächerlich-Machens und in den Dreck-Ziehens, das die beiden erhabenen Begründer des ‚wissenschaftlichen Sozialismus‘ nicht gezogen hätten, um auf über 300 Druckseiten eine Handvoll Totschlagargumente zu variieren: ‚Sankt Max (Stirner, d.A.)‘, der hohlste und dürftigste Schädel unter den Philosophen, habe das zweifelhafte ‚Verdienst, der Ausdruck der deutschen Kleinbürger von heute zu sein, die danach trachten, Bourgeoisie zu werden.‘ Es fehle ihm gänzlich an wissenschaftlichem Durchblick und proletarischem Klassenbewußtsein, demzufolge weigere er sich doch tatsächlich, sich um ‚den praktischen Zusammenhang‘ der bestehenden Mächte und Verhältnisse ‚zu bekümmern, ihn kennenzulernen und nach ihm zu richten (!).‘ Mit bloßen ‚Fieberphantasien‘ im Kopf müsse Stirners subjektiver Voluntarismus zwangsläufig in Don-Quichotterien enden und überhaupt beweise das Konzept, die ganze Gesellschaft in freiwillige Gruppen aufzulösen, ’nur seinen eingerosteten Konservatismus‘ (hahahaha, d.A.). In der Tat sind das bereits so gut wie alle Stereotypen, die bis heue von marxistischer Seite gebetsmühlenhaft gegen den Anarchismus ins Feld geführt werden. Der schriftstellerische Aufwand, den Marx und Engels dabei betrieben, läßt sich – zumal bei Stirner – durch rein ‚politische‘ Rivalitäten bzw. Machtkämpfe allein freilich nicht erklären. Die destruktive Inbrunst, mit der sie hier zu Werke gingen, und der zwischen derben Späßen und originellen Redewendungen z.T. unverblümt auflodernde Haß deuten eher auf notdürftig kaschierte Hilflosigkeit hin. In dem von Marx und Engels ausgearbeiteten ‚historischen Materialismus‘ war kein Platz für die anarchistischen Provokationen Stirners: dessen beharrliches Eintreten für individuelle Autonomie und Selbstbefreiung, seine grundsätzliche Staatsfeindlichkeit und Ideologiekritik lagen quer zu ihren Thesen vom Primat der Ökonomie und des Produktivkraftfortschritts für die gesellschaftliche Entwicklung, von der ‚historischen Mission des Proletariats‘ und der Notwendigkeit zur Eroberung der politischen Macht im Staate. Auf diesem Boden ließ Stirner sich nicht einfach ‚widerlegen‘ oder überbieten. Um ihr gerade mit großen geistigen Anstrengungen aufgerichtetes Ideengebäude nicht sofort wieder einstürzen zu sehen, blieb Marx und Engels daher keine andere Wahl, als Stirner mit allen Mitteln auszuschalten. Gefangen im eigenen Alleingültigkeitsanspruch mußten sie ihn mit ihrer ‚Kritik‘ förmlich vernichten. Die Begründung marxistischer Anarchismuskritik in der ‚Auseinandersetzung‘ mit Stirner entpuppt sich daher zu nicht geringem Teil als Abwehrreaktion gegenüber einer als existentiell erfahrenen Verunsicherung. Daß sich dasselbe Reaktionsmuster später vom rein literarischen Gebiet auch in den praktischen Bereich verlängern und zu einer wesentlichen Antriebskraft marxistischer Machtpolitik werden sollte, ist bekannt. Die Intrigen gegen Bakunin und seine Freunde im Rahmen der I. Internationale waren ebenso wie der bolschewistisch-stalinistische Vernichtungskrieg gegen die anarchistischen Bewegungen in der russischen und der spanischen Revolution die konsequente Fortführung des an Stirner prototypisch vollzogenen Eliminierungsrituals: individuelle Autonomie als das bei Strafe des eigenen Untergangs auszuschaltende ‚Fremde‘ – Terror gegen Linksopposition als das zur materiellen Gewalt gewordene Ringen der autoritären Psyche um Integrität!“
Marx ist nicht erst verbogen worden vom Arbeiterbewegungsmarxismus (GWR 239), er legte die Grundlagen selber. Und das erwähnte Primat der Ökonomie ist der Dreh- und Angelpunkt des Marx’schen Weltbildes. Ebensowenig wie sich das Universum um die Erde dreht (wie es uns die Kirche einreden wollte), dreht sich das Leben um die Ökonomie (wie es uns die Kapita-Listigen und die Staatskapita-Listigen einreden wollen). Ein gewisser Dr. H. Oberdörffer verfaßte die völlig krasse Schrift mit dem Titel Diktatur der Arbeit, nicht des Proletariats (nur wer arbeitet, darf fressen), womit dieser Gedanke endgültig auf die Spitze getrieben wurde und nicht mehr steigerungsfähig ist. Hier möchte ich nur G. Bataille’s Die Aufhebung der Ökonomie, 1985, empfehlen, zumindest als Ansatzpunkt (1). Auf der anderen Seite war Marx aber auch nicht konsequent: zwar behauptete er das Primat der Ökonomie, aber Frauenarbeit, Hausarbeit, Erziehungsarbeit wurden keineswegs als solche anerkannt, nur als Reproduktionsarbeit für den Mann, was die feministische Marx-Kritik etwa von Christel Neusüß in Die Kopfgeburten der Arbeiterbewegung aufgezeigt hat.
Marx gegen den freiheitlichen Sozialismus
Beim anarchistischen Geschichtsforscher Max Nettlau finden wir folgende Beschreibung des Verhältnisses von Marx zum freiheitlichen Sozialismus und seiner VertreterInnen:
„Nur ein Mann, in welchem die Autorität eine ihrer buntesten und giftigsten Blüten produzierte, fühlte inmitten dieses philosophisch-politisch-ökonomischen Zuges zur Freiheit hin den herostrategischen Trieb, die Freiheit mit all seinen reichen geistigen Mitteln zu bekämpfen, Karl Marx, der vom Ehrgeiz besessen war, Proudhon zu vernichten, wie er Stirner zu vernichten unternahm und Feuerbachs Licht auslöschen wollte, wie er jeden der kleineren Helfer der Freiheit, die Brüder Bauer und Karl Grün zu zertreten suchte, wie er sich Heß zum unwilligen Sklaven machte und F. Engels veranlaßte, seine etwas freiere Züge zeigende Vergangenheit mit dem dichtesten Schleier zu bedecken und seine anerkannte geistige Existenz erst vom Zusammentreffen mit Marx ab zu datieren, wie er endlich einen lebenslänglichen Kampfmit Bakunin führte und auch Proudhon 1865 auf den Grabhügel schmähende Worte nachschleuderte. Ebenso ausdauernd verfolgte Marx die bisher, wie wir sahen, im Sozialismus sehr starken Freiwilligkeitsströmungen, das Heraustreten aus der heutigen Gesellschaft, wie es Fourier, Owen, Thompson, alle Assoziationisten Frankreichs, Englands und Amerikas beseelte und stempelte sie zur Utopie, seiner Wissenschaft gegenüber. Die kämpfende autoritäre Revolution, für die Blanqui sein Leben im Kerker zubrachte, interessierte ihn aber praktisch ebensowenig, und er wußte nur eine Abart der Demokratie zu bilden, woraus dann die Sozialdemokratie entstand und, da sie die geringsten Anforderungen an die sozialistische Energie und Intelligenz des einzelnen stellte, den größten Umfang gewann. Was hatte der Sozialismus getan, daß er sich seiner freiheitlichen Entwicklung mit so tödlicher Feindschaft in den Weg stellte? Ich habe nur diese psychologische, im Charakter von Marx begründete Hypothese, daß es ihn ärgerte, als er sich 1842 dem Sozialismus zuwendete, Proudhon an erster Stelle zu sehen und daß er so der intensivste Antagonist jeder freiheitlichen Richtung im Sozialismus wurde.“ (aus: Max Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. 1: Der Vorfrühling der Anarchie, Bibl. Thèleme, 1993, Neuauflage)
Oscar Wilde schrieb einmal: „Ehrgeiz ist die letzte Zuflucht des Mißerfolges.“ Das läßt sich in diesem Falle besonders gut auf Marx beziehen. Was die psychologische Komponente bei Marx betrifft, empfiehlt es sich, mal das Buch von Volker Elis Pilgrim, Adieu Marx, zu lesen. Auch wenn man/frau nicht jeder Schlußfolgerung Pilgrims folgen mag, so bietet es doch umfangreiches Material, um Marx analysieren zu können.
Marxismus führt zur Errichtung großer Nationalstaaten
Max Nettlau strich folgende Stelle bei Bakunin mit folgenden Worten hervor: „Im übrigen führt diese Stelle glänzend den Nachweis, daß staatlicher Sozialismus und Internationalismus sich stets ausschließen und nur Anarchie und Internationalismus vereinbar und tatsächlich untrennbar sind.“ In einem Brief An die spanischen Brüder der Allianz(Frühjahr 1872, Locarno) berichtete Bakunin über den Bruch zwischen autoritärem Staatssozialismus des Herrn Marx und den AnarchistInnen:
„Daher gibt es die beiden entgegengesetzten Systeme: das anarchische System von Proudhon, das wir erweitert, entwickelt und von all seinem metaphysischen, idealistischen, doktrinären Ansatz befreit haben, indem wir klipp und klar die Materie in der Wissenschaft und die soziale Ökonomie in der Geschichte als Grundlage aller weiteren Entwicklungen annahmen. Und das System des Chefs der deutschen Schule der autoritären Kommunisten. Folgendes sind die Grundlagen dieses Systems: Wie wir selbst wollen die autoritären Kommunisten die Abschaffung des Privateigentums. Sie unterscheiden sich von uns hauptsächlich dadurch, daß sie Expropriation aller durch den Staat wollen, wir dagegen wollen dieselbe durch die Abschaffung des Staates und des natürlich vom Staate garantierten juridischen Rechts. Deshalb proklamierten wir auf dem Basler Kongreß (1869) die Abschaffung des Erbrechts, während jene sich dort derselben widersetzten, indem sie sagten, diese Abschaffung werde unnötig, sobald der Staat der einzige Besitzer werde. – Der Staat, sagen sie, muß der einzige Grundbesitzer und zugleich der einzige Bankier sein. Die Staatsbank, die heute bestehenden Privatbanken ersetzend, darf allein die nationale Arbeit mit Geld versehen, so daß tatsächlich alle Arbeiter, Land- und Industriearbeiter, Lohnarbeiter des Staates werden. (…) Wir haben dieses System aus zwei Ursachen zurückgewiesen: zuerst weil es, statt die Staatsmacht zu vermindern, sie durch Konzentration aller Macht in den Händen des Staates vermehrt. Sie sagen zwar, ihr Staat werde der Volksstaat sein, regiert von Versammlungen und Beamten, die direkt vom Volk gewählt und der Volkskontrolle unterworfen sind. Das ist das parlamentarische, das Repräsentativsystem, das des allgemeinen Stimmrechts, korrigiert durch das Referendum und die direkte Volksabstimmung über alle Gesetze. Wir wissen aber, was von der Aufrichtigkeit dieser Vertretungen zu halten ist. Klar ist, daß das System von Marx wie das von Mazzini (italien. Befreiungsnationalist, d.A.) zur Errichtung einer sehr starken sogenannten Volksmacht führt, das heißt zur Herrschaft einer intelligenten Minderheit, die allein fähig ist, die bei einer Zentralisation unvermeidlich sich ergebenden verwickelten Fragen zu erfassen, und folglich zur Knechtschaft der Massen und ihrer Ausbeutung durch diese intelligente Minderheit. Das ist das System der ‚revolutionären Autoritäten‘, der aufgezwungen und von oben geleiteten Freiheit – das heißt, es ist eine schreiende Lüge. Unser zweiter Grund, dieses System zurückzuweisen, ist, daß es direkt zur Errichtung neuer großer Nationalstaaten führt, die getrennt und notwendigerweise rivalisierend und gegeneinander feindlich sind, zur Negation der Internationalität, der Menschlichkeit. Denn falls sie nicht die Prätention haben, einen einzigen universellen Staat zu gründen – ein absurdes und von der Geschichte verurteiltes Unterfangen -, müssen sie notwendigerweise nationale Staaten gründen oder, was noch wahrscheinlicher ist, große Staaten, in denen eine Rasse, die mächtigste und intelligenteste, andere Rassen knechten, unterdrücken und ausbeuten würde, so daß die Marxianer, ohne es sich zu gestehen, unvermeidlich zum Pangermanismus gelangen.“
Die Weitsicht Bakunins erklärt sich nicht etwa aus irgendwelchen „göttlichen oder metaphysischen Quellen“, sondern aus seiner Fähigkeit, der Logik zu folgen, auf der Basis des wissenschaftlichen Rationalismus. Zum einen zeigte schon das „freie“ Amerika, daß eine „Rasse“, die weiße, alle anderen unterdrückte und gezielt ausrottete. Zum anderen wies schon Marx in seinen Schriften ein menschenverachtendes Bild auf, wenn man/frau liest, wie er über andere Lebensformen urteilte. Es waren nicht erst die ArbeiterbewegungsmarxistInnen, die diese Tendenzen einbrachten. Wie wenig dieser Marxismus den Versuchungen des Nationalen gewachsen war, zeigte sich besonders deutlich in der Zeit zwischen 1918-33. Otto-Ernst Schüddekopf hat dies in seinem Buch Nationalbolschewismus in Deutschlandzusammengetragen und erläutert, wie stark diese nationalistische Bewegung innerhalb der staatssozialistischen wirkte. Dann kam die nationalsozialistische Schreckensherrschaft.
In dem Restteil des zerstörten Reiches, wo das staatssozialistische Experiment in einem Gartenzwergsozialismus verendete, kam es nur noch kurze Zeit (‚Wir sind das Volk‘) zu reformerischen Ideen, den Staatssozialismus weiterzuentwickeln. Nachdem dann die nationalbolschewistischen Erben die nationalistische Parole: „Wir sind einVolk“ herausgab, war dies das Grablicht des deutschen, demokratischen und republikanischen Staatssozialismus. Die Nationale Volksarmee wurde geschluckt und war ein weiterer Schritt in den heutigen rotgrünen Militarismus. Und als sich der Superstaat UdSSR, nach staatssozialistischer Entwicklungstheorie endlich und endgültig auflöste, zerfiel es zu dem, was es in Wirklichkeit immer geblieben ist: Rußland wurde wieder orthodox- nationalbolschewistisch und die abbrechenden Staaten sind dies ebenfalls oder fundamentalistisch-religiös.
Was hat Marx uns für die Zeit nach der Revolution zu bieten? C. Northcote Parkinson, der für seine ätzende Satire auf des selbstzweckhafte Wuchern von Verwaltung und Bürokratie berüchtigt ist, schrieb in Goodbye Karl Marx, S.53f.:
„Wenn der Kapitalismus, wie Marx behauptet hat, aus Gründen seiner inneren Widersprüche und Spannungen zum Scheitern verurteilt ist und das Proletariat ein kommunistisches Utopia errichten wird, so dürfen wir wohl fragen, was dann geschehen soll. Wieso soll es nicht möglich sein, daß auch der Kommunismus scheitert und geradewegs in eine Diktatur mündet? Was soll an einem kommunistischen Regime so dauerhaft sein, daß es nicht einen Niedergang erlebt wie andere Herrschaftsformen auch? Die Entwicklung der Gesellschaft kommt doch nicht zum Stillstand. Und selbst wenn – wie können wir wissen, an welchem Punkt oder in welchem Stadium? Warum sollte der Staat verwelken? Müssen wir nicht vielmehr vermuten, daß die Verstaatlichung der Industrie für jede Regierung nur eine immer größere Verlockung bedeuten muß, ihre Macht und ihren Einfluß noch weiter auszudehnen? Und selbst wenn wir unterstellen, daß die von Marx propagierte Revolution die wirklich letzte große Auseinandersetzung der menschlichen Gesellschaft sei – gerade dann dürfen wir doch erwarten, etwas mehr über jenes Utopia sozialer Glückseligkeit und Harmonie zu erfahren, in dem die von Unterdrückung und Ausbeutung befreiten Menschen dann nach Marxens Verheißung leben sollen. In Wahrheit aber hören die politischen Vorstellungen, die Karl Marx entwickelte, genau an dem Laternenpfahl auf, an dem der letzte Kapitalist aufgeknüpft wird. Der kommunistische Erzvater verlor das Interesse an diesem speziellen Thema just an dem Punkt, wo wir von fieberhafter Spannung erfüllt sein müssen, um nun die Details zu erfahren. Wenn wir nach Marx eines sozialen Paradieses teilhaftig werden sollen, so ist leider festzustellen, daß er uns die Herrlichkeiten dieses Zustandes nicht geschildert hat. Er erlaubt uns nicht den kleinsten Blick durchs Schlüsselloch. Als Wirtschafts- und Gesellschaftstheoretiker war Marx ein intellektueller Gigant – wie zeitbedingt seine Thesen auch immer gewesen sein mögen. Als Sozialpolitiker, wenn dieser Ausdruck hier erlaubt ist, war er ein Einfaltspinsel.“
Marx war, ist und wird immer ein Autoritärer sein. Der Anarchismus braucht keine Ikonen oder andere Götzen. Wir brauchen keine Denkmäler, wir denken selber. Und wenn wir AnarchistInnen es diesmal nicht schaffen – nach dem Zusammenbruch des Staatskapitalismus und der nun erfolgten rotzgrünen APOcalypse – die treibende Kraft der Opposition (Widerstand) zu werden, wann dann? Dann gnade uns der Gott, welcher uns nach seinem Eber-Bilde erschAffen haben soll. Die Fortsetzung der permanenten R&Evolution ist dringender denn je. Für die kommende anarchistische Revolution lautet der Ruf nach Freiheit: „Wir sind die Menschheit“, und nicht „Wir sind eine Menschheit“, dies ist die Parole der kapitalistischen Globalisierung.
(1) Der Hinweis in GWR 239, daß auch die Nazis den Begriff der "Zinsknechtschaft" abgekupfert haben, übrigens von dem Freund von Silvio Gesell und Physiokraten Georg Blumenthal in Die Befreiung von der Geld- und Zins- Herrschaft von 1905 (nicht wie in GWR 240: G. Feder, Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft des Geldes, 1919; dies nur um hervorzuheben, daß dies schon vor und nicht nach dem 1. Weltkrieg entwickelt wurde), unterstreicht doch nur die nationalsozia-Listige Strategie. Dies führte nach dem 2. Weltkrieg dazu, daß einige AnarchosyndikalistInnen Gesell undifferenziert als Nazi bezeichneten. Es gab auch die Überlegung, die Steuern abzuschaffen, allerdings nur, um der Linken das Mittel des Steuerboykotts aus der Hand zu schlagen (G. Feder/Dr. A. Buckeley, Der kommende Steuerstreik. Seine Gefahr, seine Unvermeidlichkeit, seine Wirkung, 1921). Die deutsche Pazifistin und Mitbegründerin der 'Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit', Costanze Hallgarten, verstieg sich in ihrer Autobiographie Als Pazifistin in Deutschland, 1956, in die Aussage: "Hitler als gelehriger Schüler: Bei Frau Hanfstaengl wird Hitler zum Vegetarier und Antialkoholiker erzogen, ... mit dem ihm eigenen flair für die Kultur des Kavaliers." (S. 65) (Naja, nicht trinken löst auch keine Probleme) Hitler war auch Veget-Arier, es gab ca. 1920 einen sogenannten "Vegetarischen Frauenbuch- Verlag", der den Vegetarismus predigte, natürlich nur zur "Reinerhaltung der Rasse" und zur Ausrottung der fleischessenden "kannibalischen Barbarenvölker" mobilisierte. Dies soll selbstverständlich nicht gegen die gesunde vegetarische Ernährung sprechen, ich selber ernähre mich fast ausschließlich so. Mann/frau kann alles verbiegen!