gewaltfreiheit

Wer erschoß Martin Luther King?

War es Rassismus oder eine Staatsaktion?

| G. Hogweed

Der Mord an Martin Luther King vom 4. April 1968 gehört neben denen an John F. und Robert Kennedy zu den großen Morden in den USA, die bis heute die Phantasie von StaatsschützerInnen und VerschwörungstheoretikerInnen beflügeln. Im Gegensatz zu den beiden Kennedys war Martin Luther King jedoch kein Staatsmann, sondern Gewaltfreier - und er wurde immer mehr zum Staatsgegner, vor allem in den letzten Jahren und Monaten seines Lebens. Wer erschoss Martin Luther King? Es ist eine Frage, die die US-Szenerie bis in die späten 90er Jahre beschäftigte. (Red. HD)

Vor allem auf Grund der radikalisierten Lebensentwicklung Kings haben die Untersuchungen und Verdächtigungen bis heute nie aufgehört. Und noch 1999 wollte das US-Justizministerium einen vorläufig letzten Bericht veröffentlichen (1), ob der damals verurteilte Mörder James Earl Ray auch der tatsächliche war. Ray starb 1998 als verurteilter Mörder im US-Gefängnis – doch er konnte 1997 noch einen großen Triumph feiern, als ihn Dexter King, M.L. King’s Sohn, im Gefängnis besuchte und ihm glaubte, dass er nicht der Mörder sei. Auf die Anschuldigungen der King-Familie, es sei eine Staatsaktion gewesen, geht auch die aktuelle Forderung einer nochmaligen umfassenden Untersuchung zurück.

M.L. King hatte sich in den letzten Phasen seines Lebens nicht nur deutlich gegen den Vietnam-Krieg ausgesprochen, sondern die Aktionskampagnen von ihm und seinen MitarbeiterInnen befassten sich auch innenpolitisch immer mehr mit sozialem Rassismus. Nachdem der institutionalisierte Rassismus in Form der Segregation erfolgreich bekämpft worden war, setzte sich Kings libertäre Utopie einer antirassistischen Gesellschaft noch keineswegs in die Realität um. Soziale Deklassierung etablierte in den US-Städten neue, diskriminierende Lebensbedingungen in den Schwarzenvierteln. Bereits die Kampagne um Jobs in Chicago und die dortige radikale Demo von Schwarzen in die Vorstadtviertel der reichen Weißen deutete den Schwenk Kings zu sozialen Themen an. Zwar sprach King weiter in christlichen Redewendungen, der Inhalt seiner Reden und Kampagnen ging jedoch kaum übersehbar in eine sozialistische Richtung, wobei ein weitgehender Begriff von Freiheit allerdings nie fallengelassen wurde.

Im Rahmen dieser Kampagnen unterstützte King im Frühjahr 1968 den Streik schwarzer Müllarbeiter (die bei der städtischen Müllabfuhr arbeitenden Schwarzen waren nur Männer) in Memphis/Tennessee und bereitete einen „Marsch der Armen“ auf Washington vor. Die Stimmung kochte und King hatte auch bereits mit einer Gruppe nationalistischer „Black Power“-Leute in den eigenen Reihen zu kämpfen, die die gewaltfreie Aktion, die Beteiligung verarmter Weißer und die Aktionsbündnisse mit der jüdischen Gemeinde in den USA in Frage stellten. (2) Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen kam es bei einer Demonstration am 28.3.68 zur Unterstützung des Müllarbeiterstreiks, an der sich auch King beteiligte, zu schweren Straßenschlachten, bei denen neben den obligatorischen Polizeigewalten auch erstmals schwarze DemonstrantInnen mitmischten. King brach die Demo ab und veröffentlichte am 1.4. den Aufruf zu einer neuen, diesmal wieder gewaltfreien Demo, die in der ersten Aprilwoche stattfinden sollte. Dazu kam King am 3.4. wieder in die Stadt, wo er abends eine vielbeachtete Rede hielt. Am nächsten Tag um 18 Uhr abends traf King der tödliche Schuss, als er auf der Veranda seines Hotels stand.

Der Rassismus von James Earl Ray und seine Nähe zum Nationalsozialismus

Der Mörder, James Earl Ray, der King vom Klofenster eines gegenüberliegenden Motels mit einem Gewehr erschoss, entkam vom Tatort und wurde erst Wochen später auf der Flucht nach Rhodesien (damals noch Apartheid-Staat!) am Londoner Flughafen gefasst. Ray hatte aus Panik sein Gewehr am Tatort hinterlassen und es nicht sorgfältig abgewischt, so dass seine Fingerabdrücke auf dem Gewehr gefunden wurden.

Sofort nach seiner Verhaftung und Rücküberführung in die USA stürzten sich Anwälte und Journalisten auf Ray, machten mit ihm Exklusivverträge für die publizistische Verwertung, bei denen Ray hoffte, viel Geld zu machen, bei denen er jedoch real über’s Ohr gehauen wurde. In dieser Zeit überzeugte ihn einer seiner vielen Anwälte, die Ray bis zu seinem Tode für sich arbeiten ließ, sich schuldig zu bekennen, um der Hinrichtung zu entgehen. Bei Schuldeingeständnis kommt es in den USA nicht zum öffentlichen Prozess, so dass der ganze Fall juristisch eigentlich nie verhandelt wurde. Ray beteuerte sofort nach seinem Schuldeingeständnis seine relative Unschuld: er sei nur das letzte Kettenglied einer von langer Hand vorbereiteten Staatsaktion gewesen. Ein gewisser „Raoul“, den er Monate vor dem Mord kennengelernt habe, hätte ihm die Anweisung zum Mord an King gegeben. Diese Version variierte er über Jahre hinweg, und kurz vor seinem Tod behauptete er sogar, gar nicht geschossen zu haben.

James Earl Ray, geboren 1928, wuchs im kleinen Nest Alton/Illinois und im benachbarten St. Louis/Missouri auf, jeweils in verarmten Vierteln proletarisierter Weißer. Auf Grund der mangelnden Präsenz einer radikalen und antirassistischen ArbeiterInnenbewegung waren diese Stadtviertel in Illinois und in Missouri – Bundesstaaten, in denen mit Ausnahme von Chicago jeweils kaum Schwarze lebten – eine regelrechte Brutstätte des weißen Rassismus. Dass die Rays immer wieder mit Diebstählen und Raubüberfällen, bei denen sie, auch James, mehrfach gefasst wurden, Zuflucht aus der Armut suchten, kann man/frau als AnarchistIn ja noch nachvollziehen. Aus dem nagenden und gleichzeitig abgewehrten Schuldbewusstsein aber, es im Sinne der US-Ideologie vom individuellen Erfolg „nicht geschafft zu haben“, entstand die Schuldzuweisung an Schwarze und Juden/Jüdinnen. Während des Zweiten Weltkrieges hatte der junge Ray Kontakt mit Henry Stumm, einem Deutschen, der von Hitler schwärmte. Gemeinsam wünschten sie sich einen Sieg der Nazis. Die Deutschen galten Ray fortan als stolzes Volk, das sich nicht von Schwarzen und Juden/Jüdinnen unterwandern lasse. Aus diesem Grund ging er Ende der 40er Jahre als GI nach Deutschland, war dann aber enttäuscht von den angeblich gebrochenen, opportunistischen Menschen, die er vorfand. Der Kontakt mit Henry Stumm, Rays tiefsitzender Hass auf Schwarze und jüdische Menschen, sein durchgängiger Rassismus – und auch der seiner Brüder und seiner Familie – sind einfach nicht zu vernachlässigen, wenn es um die Motive für den Mord an King geht. Vor diesem Hintergrund ist es nachgerade betrüblich, wenn die Familie Kings in den 90er Jahren soviel Verständnis und Glauben an Ray aufbrachte, dass sie ihn öffentlich rehabilitierte. Immer wieder hatte Ray seinen Rassismus auch in die Tat umgesetzt: er unterstützte aktiv die Wahlkampagne des rassistischen Gouverneurs von Alabama, George Wallace. Nach dem Mord an King ließ sich Ray ab 1969 zeitweise von J.B. Stoner verteidigen, einem Anwalt der rechtsextremen NSRP (National States Right Party). Stoner gründete zudem die politischen Todgeburten „Stoner Anti-Jewish Party“ und „Christian Anti-Jewish Party“. James Ray’s Bruder Jerry Ray arbeitete zehn Jahre für Stoner als Bodyguard und persönlicher Fahrer.

Diese Verbindungen sowie vielfach bezeugte Ausfälle gegen Schwarze von James Earl Ray in Kneipen, später im Knast (wo er sich weigerte, mit Schwarzen zusammenzuarbeiten oder in einen integrierten Knastflügel überzuwechseln) belegen eine rassistische Motivation, die gleichzeitig, wie in der US-amerikanischen Rechten üblich, gegen den US-Staat gerichtet war, denn der war ja angeblich schon in der Hand von Schwarzen und Juden/Jüdinnen.

Die „Conspiracy“-Theorien

Diese rechtsextrem-ideologisierte Sicht führte in der Zeit nach der Verurteilung Rays zu lebenslänglicher Haft, ja noch bis heute, oftmals rechtsextreme und linke Staatsaktions-Überzeugte (US-Fachbegriff „Conspiracy Buffs“) zu einer unheilvollen Allianz zusammen. Auf Ray’s Seite inszenierte vor allem das Anwaltsbüro William Pepper insbesondere in den 90er Jahren immer neue Theorien um eine Staatsaktion.

Nahezu alle möglichen Szenarien wurden durchgespielt und auch in Fernsehsendungen öffentlich als belegt und erwiesen behauptet, oft mit zurechtgestutzten ZeugInnenaussagen, die sich jedoch bei nochmaliger Untersuchung von Unabhängigen alle als haltlos erwiesen (3). Während der ganzen Zeit gab es sowohl immer wieder offizielle Untersuchungen des Falles wie auch unabhängige journalistische Studien – oft mit unterschiedlichen Ergebnissen. Einige der publicitywirksamten Conspiracy-Theorien – und der kurzzeitige Medieneffekt wurde nur allzugern in bare Münze umgesetzt – waren die „Confession“, die angebliche Auffindung von Raoul und schließlich die Armeeverschwörung.

1993 erklärte in einer Live-Fernsehsendung der Besitzer eines Grill-Restaurants unweit vom Attentatsort, Jowers, er habe Geld für einen Auftrag zur Ermordung Kings bekommen und dafür einen Profi („Liberto“) zur Ausführung engagiert – Ray sei somit unschuldig („Confession“-These). Im Laufe der weiteren Nachforschungen verwickelte sich Jowers jedoch in Widersprüche, Liberto wurde nie gefunden. Nichts konnte belegt werden und der Verdacht erhärtete sich, da wolle jemand auf seine alten Tage durch Publicity Geld absahnen.

„Raoul“ als der von James Earl Ray genannte Auftraggeber war ein ständig von „Conspiracy Buffs“ gejagter Mann. Er konnte nur nie gefunden werden. Ray log, was das Zeug hielt. Er gab immer nur soviel preis, dass er nicht sofort widerlegt werden konnte. Und wenn ihm später seine Aussagen, wo und wann er Raoul vor dem Mord getroffen habe, doch widerlegt wurden, passte er seine Geschichte durch leichte Änderungen immer wieder dem aktuellen Stand der Ermittlungen an. 1994 präsentierte Pepper eine Zeugin, die „Raul“ angeblich gekannt hatte. Dass sie den Namen „Raul“ anders schrieb als Ray („Raoul“) machte die Anwälte nicht misstrauisch. Und so wurde über Wochen hinweg eine New Yorker Familie, in der ein Mensch namens Raul wohnte, durch die Anwaltskanzlei überwacht. Raul konnte belegen, daß er zur Mordzeit als Automechaniker weit weg von Memphis gearbeitet hatte. Die Nachricht von der Überwachung wurde jedoch öffentlich und die völlig überraschte Familie wurde bekannt und musste jahrelange Ängste und Todesdrohungen über sich ergehen lassen. Die Anwälte Rays waren so skrupellos, dass sie andere gefährdeten, um Ray zu schützen.

Schließlich die Armeeverschwörung: William Pepper brachte sie durch sein Buch „Orders to Kill“ ins Gespräch, und zwar 1995. Im Buch war von der „Raul“-Überwachung schon gar nicht mehr die Rede. Die Armeeverschwörung brachte schließlich die Familie Kings auf die Seite Rays, denn sie glaubte aus verständlichen Gründen ebenfalls an eine Staatsaktion durch die Armee. Pepper behauptete, Heckenschützen der 20th Special Forces Group der Armee, hätten den Auftrag der Armee gehabt, King umzubringen. In der Tat gab es ab 1968 ein von Präsident Johnson etabliertes Armeeüberwachungsprogramm zur Früherkennung von „zivilen Störungen, die Bundestruppen erforderten.“ (4) Fünf Überwacher der lokalen 111. Military Intelligence Group beobachteten damals in Memphis auch King und den Müllarbeiter-Streik. Sie waren jedoch nachrichtendienstlich ausgebildet und keine Spezialgruppe für Tötungen (da hätte die Armee schon Profis eingesetzt), während alle Nachforschungen ergaben, dass die 20th Forces Special Group in dieser Zeit ganz woanders stationiert war. Für die „Conspiracy Buffs“ sind alle schriftlichen Belege natürlich gefälscht und so lassen sie sich davon nicht von ihren Theorien abbringen. Pepper legte im Laufe der Kampagne eine geheime Anordnung der 20th Forces Special Group zur Überwachung Kings öffentlich vor, die dann u.a. von Daniel Ellsberg, der als Insider die geheimen Pentagon Papiere zum Vietnam-Krieg 1970 veröffentlichte, unabhängig untersucht und wiederum selbst als Fälschung ausgelegt wurde.

Die virtuelle Realität in der US-Linken

Die Veröffentlichung der 25 Jahre unter Verschluss liegenden FBI-Akten um King hat ergeben, daß der damalige FBI- Chef J. Edgar Hoover King als einen der gefährlichsten Staatsfeinde ansah und ihn in den letzten Jahren über das Counter-Insurgency-Programm „COINTELPRO“ überwachen ließ. King war jedoch bereits so populär, daß die Taktik des FBI eindeutig auf Desavouierung – nicht auf Mord, der nur eine unkalkulierbare Solidarisierungswelle hervorrufen konnte – hinauslief. Deswegen war die FBI-Auswertung und -Öffentlichkeitsarbeit bei King auch eindeutig auf potentielle Skandale und „Frauengeschichten“ ausgerichtet, um ihn in den eigenen Reihen und bei der Unterstützung durch die black community entscheidend schwächen zu können.

Die USA und ihre Geheimdienste, vom FBI, NSA, CIA bis zur Armee, prägen die Weltpolitik. Klar, dass da auch die innere Ordnung mit allen Mitteln versucht wird, aufrechtzuerhalten und systemkritische Revolten im Keim erstickt werden sollen. Und es gibt ja auch die Erfahrung, dass etwa der Krieg des Staates gegen die Black Panther Party durch Infiltrierung von Spitzeln geführt wurde. Doch die Überpräsenz der Geheimdienste, so etwa der anarchistische Black- Rose-Books-Herausgeber Dimitri Roussopoulos aus Montréal (5), führe die linken und libertären Gruppen zu einer Kultur des gegenseitigen Mißtrauens, der rein negativen Haltung und des Abschottens. In diesem Klima können Verschwörungstheorien gut gedeihen. Im Falle des King-Mordes blühten sie vor allem in den 90er Jahren auf. Und gerade als Anarchist bin auch ich geneigt, den US-Geheimdiensten oder der US-Armee alles zuzutrauen. Es ist allerdings für AnarchistInnen auch nicht nötig, den sowieso schon real vorhandenen Verbrechen des US-Staates noch unbelegte Verschwörungen hinzuzufügen. Der Staat muss King nicht umgebracht haben, um sich als Gewaltfreier und Anarchist in der Kritik des US-Staates bestätigt zu sehen. Die „Conspiracy“-Theoretiker denken sich in eine virtuelle Realität hinein, die sich gegen Kritik dadurch immunisiert, dass alle Gegenbeweise angeblich fingiert worden sind. Durch diese Verschwörungs-Mentalität wird die Realität eines unheilvollen Bündnisses zwischen der symbolhaft für Emanzipationsbewegungen immer noch wichtigen King-Familie, Dexter King und Coretta Scott-King, mit den rechtsextremen Unterstützern von James Ray übersehen. Ergebnis ist die Aufwertung des Attentäters, Antisemiten und Rassisten Ray – ganz unabhängig von der libertären Frage übrigens, ob Lebenslang eine vertretbare Strafe für Mord ist. Wie schon bei Gandhis Mörder Ghose wird am Ende des Jahrhunderts auch Kings Mörder Ray rehabilitiert, die Maßstäbe verschwimmen, Rassismus wird wieder salonfähig. Die Schuld des Staates aber liegt bis zum Beweis des Gegenteils woanders:

„Während sie wahrscheinlich nicht den Abzug betätigt hat, hat die Regierung jedoch (…) eine Atmosphäre erzeugt, in welcher Rassisten denken konnten, es sei relativ risikoarm, einen Schwarzenführer des Südens zu erschießen und dann damit davonzukommen.“ (6)

(1) lag bei Abfassung dieses Artikels noch nicht vor, war angekündigt für Herbst 99.

(2) vgl. zum Verhältnis von King zu nationalistischen Schwarzen: James H. Cone: Martin & Malcolm & America, Maryknoll/NY 1991; Adam Fairclough: To Redeem the Soul of America. The Southern Christian Leadership Conference an Martin Luther King Jr., Athens/Georgia 1987, S. 309ff.; Maurice Isserman: If I Had a Hammer... The Death of the Old Left and the Birth of the New Left, New York 1987, S. 127-219.

(3) alle Informationen zu James Earl Rays Leben und zu den Theorien über eine Staatsaktion habe ich dem Buch von Gerald Posner: Killing the Dream. James Earl Ray and the Assassination of Martin Luther King Jr., New York 1998, entnommen. Auf 450 sehr gut recherchierten und dargestellten Seiten wird dort der ganze Fall und alle Theorien noch einmal aufgerollt. An den in diesem Buch dargestellten Fakten, die tendenziell eher auf eine alleinige Täterschaft Rays hindeuten, kommt man/frau kaum vorbei.

(4) zit. nach Posner, S. 309.

(5) in einem Gespräch u.a. mit dem Autor auf der Frankfurter Buchmesse 1999.

(6) zit. nach Posner, S. 339.