Anfang Dezember 1999 reiste Ramona Africa mit einer Delegation der MOVE-Organisation Philadelphia durch insgesamt sieben deutsche Städte, um für Unterstützung des erneut und akut von der Hinrichtung bedrohten schwarzen Journalisten und Schriftstellers Mumia Abu-Jamal zu werben. Die Reaktionen auf diese Vortragsreise waren durchaus unterschiedlich.
Während vielerorts den Worten Ramona Africas, der einzigen erwachsenen überlebenden der Bombadierung des MOVE- Hauses in Cobbs Creek, Philadelphia, am 14. Mai 1985 durch die Polizei, andächtig gelauscht wurde, kam es in Heidelberg zu einem Eklat.
Homophobie-Vorwürfe
MOVE wurde massiv mit Homophobie-Vorwürfen konfrontiert, am Ende mußte die Veranstaltung abgebrochen werden. Die OrganisatorInnen distanzierten sich von ihrer eigenen Veranstaltung. Ziel dieses Artikels ist keinesfalls, eine Entsolidarisierungskampagne gegen MOVE ins Rollen zu bringen.
An der menschlichen Integrität Ramona Africas besteht nicht der geringste Zweifel, ihre Haltung und Festigkeit trotz grauenhafter Erlebnisse und permanenten Drucks der Staatsorgane ist bewundernswert – das allein sollte genügen, auch mit berechtigter und scharfer Kritik an MOVE die Grenzen der Höflichkeit und des Respekts einem weitgereisten Gast gegenüber nicht leichtfertig zu verletzen. Auf der anderen Seite wird europäischen Linken sehr gerne jedes Recht abgesprochen, sich überhaupt zu Fragen des afroamerikanischen Widerstandes zu äußern – ob nun kritisch oder nicht.
Keule des „Eurozentrismus“
Mit der Keule des „Eurozentrismus“ wird jeder warnende Einwand, jede zweifelnde Frage fortgeprügelt. Es ist aber schlichtweg unverzichtbar, sich genau und gegebenenfalls auch skeptisch mit Gruppen und Organisationen auseinanderzusetzen, die um Solidarität werben oder bereits eine lange Geschichte internationaler Unterstützung haben. Unkritische Solidarität, „Heldenverehrung“, läuft immer Gefahr, in ihr Gegenteil umzuschlagen – dann nämlich, wenn mit einem Male hässliche Flecken auf der Weste der PKK, der ETA oder der Zapatistas sichtbar werden und sich ein weiteres Mal erweist, daß es leider keine politische Organisation gibt, die stellvertretend die Träume einer jeden wohlmeinenden UnterstützerIn realisiert – schon gar nicht tausende von Kilometern entfernt. Dieser Artikel soll ein Akt der kritischen Solidarität MOVE gegenüber sein.
Er bezieht sich, soweit dies möglich war, auf Zeugnisse und Texte der MOVE-Organisation selber, die alle in gedruckter Form vorliegen und somit nachprüfbar sein sollten. Die „Zugehörigkeit“ meiner selbst zur männlichen, weißen, westeuropäischen Mittelschicht sei sogleich freimütig eingestanden, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen und (sicherlich anstehende) Kritik auf ein sachliches Gleis zu lenken. Für etwaige Unbeholfenheiten bei der Übersetzung der englischen Zitate bitte ich um Nachsicht. Verfälschungen sind mir, so hoffe ich, nicht unterlaufen.
MOVEs politische Bedeutung
„Wir arbeiten mit jeder Organisation zusammen, die das will. Aber wir werden nicht zulassen, daß sie unsere Arbeit dominieren. Sie müssen mit uns zusammenarbeiten“ (Ramona Africa in Black Power S.136).
Mumia Abu-Jamal gehört zu MOVE. Auf eine diesbezügliche Frage antwortete er Ende 1989 im Todestrakt von Huntington: „Ich bin Mitglied und langjähriger Unterstützer der Organisation MOVE“ (Still black-still strong S.104), und schon während seiner Arbeit als Radiojournalist für verschiedene Community Stations in Philadelphia nannten ihn seine KollegInnen spöttisch „Mumia Africa“. Die MOVE-Organisation ist in Europa vor allem durch Jamal bekannt geworden – zunächst durch seine journalistischen Arbeiten über blutige Repression gegen MOVE, danach durch seine Verurteilung zum Tode.
Über MOVEs politische Relevanz innerhalb des afroamerikanischen Widerstands ist damit freilich wenig gesagt…
Aber selbst was die Unterstützung Jamals angeht, lud Ramona Africas Vortrag zu Missverständnissen ein. Denn MOVE ist keineswegs die einzige Organisation, die sich aktiv für das Leben Mumia Abu-Jamals starkmacht, wenn sie auch für ihn persönlich die wichtigste sein mag. Sie war auch nicht die erste (was man MOVE allerdings kaum verübeln kann, saßen doch zur Zeit von Jamals Verhaftung immer noch eine große Anzahl ihrer Mitglieder in diversen Gefängnissen). Heute ist Pam Africa Vorsitzende der Concerned Family and Friends of Mumia Abu-Jamal. Diese Organisation war es, die den bekannten Strafverteidiger Leonard Weinglass engagierte und bis heute dafür sorgt, daß der „Fall Jamal“ nicht aus der öffentlichen Debatte verschwindet.
Daneben aber gab und gibt es eine Fälle anderer Organisationen: die African Revolutionary People’s Unity Movement (ARPUM) etwa beschäftigte sich schon vor Jamals Verhaftung mit ausufernder Polizeibrutalität in den schwarzen Wohnbezirken von Philadelphia und fungierte als übergreifendes Forum. Sofort nach Jamals Verhaftung iniziierte sie ein „Comitee to Defend Jamal“. Die Vereinigung schwarzer Journalisten, deren Präsident Jamal gewesen war, richtete sofort einen Solidaritätsfond ein. Und das Partisan Defense Committee, eine „klassenkämpferische, nichtsektiererische Organisation zur juristischen Verteidigung“(Weinglass S.300) sorgte maßgeblich durch eine französische Schwesterorganisationen dafür, den „Fall Jamal“ in Europa in die Diskussion zu bringen (Juli 1989, CDS Frankreich macht Jamals Fall erstmals in Europa bekannt, gemeinsam mit der Reggaegruppe Rising Souls). Die Möglichkeiten dieser Organisationen, auch international tätig zu werden, überstiegen die der MOVE-Gruppe.
Viele Parteien, Gruppierungen und Organisationen für Jamal
Gegenwärtig sind die Parteien, Gruppierungen und Organisationen, die sich mit Jamal solidarisieren, kaum mehr zu zählen. Nichts desto trotz gefällt sich MOVE darin, sich als Nucleus und Speerspitze im Kampf um Jamals Leben darzustellen. Eine Haltung, die zumindest nicht vollkommen richtig ist.
Die Frage nach MOVEs politischer Bedeutsamkeit über den „Fall Jamal“ und die Verteidigung ihrer eigenen Mitglieder und Strukturen hinaus ist schwer zu beantworten. Von übergroßer Bescheidenheit zeugen MOVEs Verlautbarungen in dieser Hinsicht nicht: „Wir sind die Speerspitze der Revolution, die Avantgarde“ (Ramona Africa in Black Power S.139) MOVE versteht sich als eine „revolutionäre Organisation“, die allerdings nicht auf Massenmobilisierung setzt sondern als eine Art „Beispiel“ fungieren möchte – durch besondere Radikalität und Unbeugsamkeit ihrer Mitglieder. „Wir sind eine zutiefst religiöse Organisation. Wir wissen, daß das gegenwärtige politische System unser sauberes, aufrechtes Beispiel verabscheut und uns daran hindern will, weiter seine Korruptheit aufzuzeigen, selbst wenn sie uns dafür töten müssen“ (MOVE: Belief & Practice S.70). Ob MOVE aber tatsächlich die Lücke schließen kann, die in den politischen Strukturen des afroamerikanischen Widerstandes klafft, bleibt fragwürdig:
„Seit der Zerschlagung der Black Panthers, wie überhaupt aller wirksamen Organisationen der schwarzen Community, gab es keine Strukturen, die in der Lage gewesen wären, dem Aufflackern militanter Wut eine Richtung und einen langen Atem zu geben.(…) Und zu wenige kümmerten sich wirklich, zu sehr hatten (…) schon Lethargie, Drogen, Verbrechen gegen die eigenen Leute und Perspektivlosigkeit die Community ergriffen. Und auf der anderen Seite der Kampf um den Erhalt des Erreichten in den „besseren“ Gegenden der Community, wo man sich die Hoffnung auf ein besseres Leben als anerkannte amerikanische Bürgerinnen und Bürger noch nicht hatte nehmen lassen wollen“ (Jürgen Heiser nach Weinglass, S.297/ 300). An MOVEs radikaler – und zu Zeiten selbst für den (Noch) Sympathisanten Jamal „entnervender“- Ablehnung des „Systems“ besteht kein Zweifel. Der schwarze Bürgerrechtler Jesse Jackson etwa mußte sich bei seinem Besuch in Philadelphia einiges anhören: „Dieser dämliche Nigger-Arsch kriecht vor demselben System auf Knien, das ihn unterdrückt!“ Jackson quittierte: „Wer schert sich schon um eine handvoll dreckiger, ungewaschener Nigger, die sich die Haare nicht kämmen“ (Jamal 1995, 230) Außerdem ähnelt vieles, was MOVE in der Community auf die Beine stellte, den Bemühungen der Black Panther Party. So war 1992 etwa das neue MOVE-Haus in Cobbs Creek der einzige Ort, an dem schwarze Kinder jeden Tag eine warme Mahlzeit bekommen konnten. Mitglieder von MOVE verkaufen „pure“ Nahrungsmittel mit Handkarren auf Märkten und in der Nachbarschaft. Selbst zu solch kleinen Handreichungen wie der Versorgung von Haustieren sind MOVE-Leute gern bereit – aus Prinzip. Trotzdem:
„Numbers are numbers, and power is power!“
die MOVE-Leute bleiben unter sich! Kaum mehr als 30 hat es je in den USA gegeben, und die meisten bewohnten verschiedene, kommunengleiche Häuser in und um Philadelphia. Darüber hinaus ist die MOVE-Organisation allem Anschein nach gespalten. Darauf angesprochen, reagierte Ramona Africa 1992 bemerkenswert unwirsch: „Wir wissen nicht viel über den anderen Teil der MOVE-Organisation, weil das zu unserem eigenen Schutz und unserer Sicherheit nicht notwendig ist. Wir sind die legale Gruppe.(…) Andere MOVE-Leute haben ihre Aktivitäten und wir haben unsere, und gemeinsam arbeiten wir als ganzes zusammen“ (Black Power S.139).
Während des Münsteraner Vortrages im Dezember 1999 war von solchen „Brüchen“ nichts zu vernehmen. Und auf die doch recht bescheidene Größe ihrer Organisation angesprochen antwortete Ramona Africa mit einem Zitat John Africas: „Numbers are numbers, and power is power!“. Ja, gewiss, nur…
John Africa
MOVE wurde 1972 von John Africa gegründet, und auf seine Lehren berufen sich sämtliche Mitglieder der Organisation unverändert bis heute. Sie sind die eigentliche Glaubensbasis von MOVE. John Africa lebte als Vincent Africa bis 1985 in verschiedenen MOVE-Häusern von Philadelphia und New York. Den Polizeiakten zufolge kam er mit den übrigen AktivistInnen (Fünf Kinder und sechs Erwachsene mit Ausnahme von Ramona und Birdy Africa) 1985 bei der Bombadierung des MOVE-Hauses ums Leben. Wer Texte von MOVE liest, wird der ewigen, ehrerbietigen Nennung seines Namens rasch müde: „ein weiser, strategisch denkender Schwarzer namens John Africa (…). Um unseren geliebten Gründer zu ehren und die Weisheit und Stärke anzuerkennen, die er uns gegeben hat, sagen wir „Lang lebe John Africa‘ (MOVE: Belief & Practice S.68). Die Tatsache, daß alle Mitglieder von MOVE zu Ehren ihres „Gründers“ den Nachnahmen Africa annehmen, hat zu Verwirrungen geführt und MOVE in die Nähe der einflußreichen „Back-to-africa“- Bewegung gerückt. Tatsächlich hat MOVE mit „Back-to-africa“ nur Oberflächliches gemein: „Die Mitglieder von MOVE übernehmen den Namen Africa als eine Form des Respekts gegenüber dem Gründer der MOVE-Organisation(…). Wir anerkennen, daß alles menschliche Leben in Africa seinen Anfang nahm. Der erste Mann, das erste Kind, die erste Frau, die auf der Erde umher ging, sie betraten, auf ihr spielten, lebten in Africa“ (Jamal in Still black – still strong S.107). In Sprache und Darstellung von MOVE entsteht leicht der Eindruck, als sei John Africa mehr (und mehr gewesen), als ein talentierter Normalsterblicher. Am 13. Mai 1981 z.B. wurden in Rochester, New York, 9 MOVE-Mitglieder verhaftet. Alfonso und Vincent (John) Africa wurden nach Philadelphia ausgeliefert und wegen Bombenherstellung und Waffendelikten angeklagt (Juli 1981). Das Verfahren erhielt rasch den Namen „John Africa vs. The System“. Vincent Africa verschlief provozierend einen Gutteil seiner eigenen Verhandlung. „In einem leidenschaftlichen Schlußwort, seinem einzigen formalen Beitrag zum Verfahren, ging Vincent keineswegs unmittelbar auf die von der Regierung vorgelegten Beweise und Zeugenaussagen ein. Statt dessen verdammte er das System der „zivilisierten“ Welt als ganzes und stellte die Gerichte als bloße Spielzeuge der Industrie dar, die davon profitiere, die Luft zu vergiften, das Wasser und die Nahrung – alle unverzichtbar für jedes Leben. Die Regierung war völlig verblüfft, als die Jury Vincent und Alfonso im Sinne sämtlicher Anklagepunkte für nicht schuldig erklärte“ (MOVE Belief & Practice S.39). Suggeriert wird, John Africas Weisheit und Wahrheit sei so zwingend, daß selbst die Schergen des „Systems“ sie anerkennen müßten. Ramona Africa macht dies mit aller wünschenswerten Deutlichkeit klar: „Die Leute fragen oft, woher John Africa seine Weisheit hatte. Das kann ich nicht beantworten. Ich stelle die Weisheit nicht in Frage. Die Weisheit, die John Africa hat, ist die Weisheit Gottes. Sie kann nicht widerlegt werden, weil sie die Wahrheit ist“ (Black Power S.139) Auch Vorhersagen der Zukunft bereiten John Africa scheint’s wenig Probleme: „Ramona Africa wurde eingeladen, in so anerkannten Einrichtungen wie der Harvard Universität zu sprechen und erfüllt so eine jahrzehntealte Prophezeiung John Africas“ (MOVE: Belief & Practice S.65), heißt es etwa über Ramona Africas rege Vortragsaktivitäten nach ihrer siebenjährigen Haftstrafe. Es geht mir nicht darum, den Glauben anderer Menschen ins Lächerliche zu ziehen, noch weniger, die Person John Africas – der ein sehr beeindruckender Mensch gewesen sein mag – zu verunglimpfen. Mumia Abu-Jamal hatte in seinem Verfahren verlangt, von John Africa verteidigt zu werden – es wurde ihm verweigert. Mag aber auch die Festigkeit im Glauben das eigentliche „Erfolgsgeheimnis“ von MOVE sein, so offenbart sich doch bereits die relative Enge ihres Weltbildes – trotz aller progressiven und emanzipatorischen Tendenzen.
Ein weites, enges Dogma, das Grunddogma der Lehren John Africas, ist – auf den ersten Blick – einfach und umfassend. Es heißt, schlicht und ergreifend, Life. Leben freilich, das mit esoterischer Mystik geradezu aufgetankt ist: „Nichts ist wichtiger oder so wichtig wie das Leben, die Kraft, die uns am Leben hält. Alles Leben kommt aus einer Quelle, von Gott, Mutter Natur, Mama. Jedes einzelne Leben hängt von allen anderen Leben ab, und alles Leben hat ein Ziel. Somit sind alle Lebewesen, Dinge die sich bewegen, gleich wichtig, seien sie menschliche Wesen, Hunde, Vögel, Fische, Bäume, Ameisen, (…) Flüsse, Wind oder Regen.
Instinktives Verhalten und Naturgesetz
Um gesund und stark zu bleiben, braucht Leben saubere Luft, sauberes Wasser und unverseuchte Nahrung. Werden ihm diese Dinge genommen, bewegt Leben sich zyklisch auf die nächste Ebene, oder, wie das System sagt, es „stirbt“. (MOVE: Belief & Practice S.68) Teleologie, „Urmutter“ und Vorstellungen von Tod und Wiedergeburt sind hier auf befremdliche Weise miteinander verschränkt, ganz abgesehen von der Frage, ob man – bei aller Schönheit! – Wind und Regen den Lebewesen zuordnen sollte. Das Weltbild MOVEs ist streng zweiteilig. Es gibt auf der einen Seite das „System“, das alles beinhaltet, was lebenszerstörend, entfremdend, schlicht „unnatürlich“ ist, und auf der anderen Seite das wirkliche, „natürliche“ Leben, das die Mitglieder von MOVE beispielhaft praktizieren, bis sie sich „zyklisch auf die nächste Ebene“ begeben. MOVEs revolutionärer Impuls geht dahin, das „System“ als ganzes zu beseitigen, da es ein „natürliches“ Leben verunmöglicht und gefährdet. „Es gab viele Leute, die gesagt haben, daß dieses System weg muß, aber sie meinten nicht das gesamte System. Sie wollten ein System ausradieren und dafür ein anderes schaffen. John Africa sagt: Gar kein System!“ (Theresa Africa in Black Power S.137) Man soll sich hüten, hier allzu rasch über originären Anarchismus zu jubeln! Denn eine nachrevolutionäre Utopie ist in MOVEs Texten nicht zu finden. Wozu auch, sie ist schlicht überflüssig. Die beiden Regularien des Lebens heißen instinktives Verhalten und Naturgesetz. Die Beschreibung und Herleitung der Naturgesetze entbehrt nicht einer gewissen Komik: „Wir glauben an Naturgesetze, an Herrschaft, die sich selber reguliert (…) In den ungestörten Dschungeln, Ozeanen und Wüsten der Welt gibt es keine Gerichtssäle oder Gefängnisse. Die Tiere und Pflanzen brauchen sie nicht. Kein Lebewesen braucht ein Gesetzbuch zu konsultieren, um zu wissen, ob es husten, schniefen oder urinieren muß. Wenn etwas zu nahe an dein Auge herankommt, wirst Du zwinkern, ganz gleich, ob Du deutscher Schäfer oder Richter am Obersten Gerichtshof bist – es ist ein Naturgesetz“ (MOVE: Belief & Practice S.68). Da sich im „natürlichen“ Leben quasi alles von selbst reguliert, ist auch Fatalismus den MOVE-Mitglieder keineswegs fremd: „Wenden wir die Strategie von John Africa an, so wissen wir, daß wir nicht scheitern können. Alles, was uns geschieht, geschieht auf ganz bestimmte Weise, weil es so geschehen muß“ (ebenda S.70). Nun haben einfache und unmittelbare Erklärungen hochkomplexer Zusammenhänge durchaus ihren Reiz, und der zeitweise fast poetische, freundliche Sprachduktus der MOVE-Texte setzt sich vom Jargon trockener Gesellschaftsanalysen wohltuend ab. Ramona Africa wird recht haben, wenn sie sagt: „Die Sache ist die: Alle waren auf der Suche nach Lösungen für ihre Probleme, als sie zu MOVE kamen. Und sie sahen in MOVE die Antwort auf ihre Probleme. Sie sahen, daß MOVE stark und verbindlich ist. Je häufiger die Leute bei MOVE vorbeikamen, desto mehr merkten sie, daß dies die Lösung ihrer Probleme ist“ (Black Power S.138). MOVE wird sich unter diesen Umständen freilich schwer tun, der Stigmatisierung als „Sekte“ glaubwürdig widersprechen zu sollen. MOVEs Naturgesetze sind rigide, relativ willkürliche Setzungen. Wer ihnen nicht entspricht, hat – um es überspitzt zu formulieren – den Pfad der Tugend verlassen und droht überzuwechseln auf die Seite des Systems: do not discuss with mother nature! MOVEs Naturgesetze beinhalten eine Reihe ganz konkreter Verhaltensvorschriften, die politisch mehr als nur bedenklich sind. Der scheinbaren Weite ihres Dogmas entspricht die ganz bewußte, keineswegs schädliche oder schwächende, aber nicht zu leugnende Enge der MOVE-Organisation selbst. Das, was viele Menschen dazu veranlaßte und veranlaßt, sich von MOVE (als UnterstützerInnen) abzuwenden, folgt mit erstaunlicher Konsequenz aus diesem „Grunddilemma“.
Gegen Abtreibung und Empfängnisverhütung
In Oliver Demnys ausgezeichnetem Buch „Die Wut den Panthers“ finden sich drei trockene Sätze, die knapp und nonchalant zusammenfassen, was immer wieder zu scharfen Anwürfen gegen MOVE geführt hat: „In ihrer Ideologie orientiert sie (Die MOVE-Organisation Anm.MB) das gewünschte Gesellschaftssystem an dem von Tieren. So tritt sie gegen Abtreibung und Empfängnisverhütung auf. Genauso ist Homosexualität für sie unnatürlich“ (Demny S.134). MOVE beschränkt diese Ablehnung keineswegs nur auf die Kriterien einer möglichen Mitgliedschaft in ihrer Organisation, sondern tritt auch öffentlich gegen Abtreibung auf. Die kompromißlose Ablehnung selbstbestimmter Geburtenkontrolle leitet sich konsequent von MOVEs Grunddogma her, das sich nicht nur auf den Schutz allen Lebens bezieht, sondern genauso auf dessen Reproduktion – wiederum als ein naturgegebenes Gesetz. „John Africa hat uns gelehrt, daß Kindergebären eine natürliche, instinktive Funktion einer Mutter ist (…)“ (MOVE: Belief & Practice S.70). Dementsprechend stimmt MOVE allenthalben das hohe Lied der Mütterlichkeit an. In ihrer Zeitung First Day, 1980 gegründet, um die steten Verleumdungen von MOVE in der Öffentlichkeit richtig zu stellen, findet sich ein Artikel von Janet Africa: „In touch with motherhood – thanks to John Africa“ . Darin heißt es: „Ich hatte alle Hoffnung aufgegeben (eine gute Mutter sein zu können Anm. MB), aber John Africa ließ mich die Mutterschaft begreifen, gab mir Bewußtsein und Empfindung für das Leben und schenkte mir Verständnis für die Arbeit und Hingabe, die es braucht, um eine gute Mutter zu sein. John Africa wischte all meine Verwirrung fort und erklärte mir, daß der Grund, warum ich mich so hoffnungslos fühlte, der sei, daß ich meine Verbindung zur Mutterschaft verloren habe. Die Natur in mir, mein natürlicher Instinkt, eine Mutter zu sein, war ersetzt worden, überdeckt, vernichtet durch dieses systematische Training derer, die einem beibringen wollen, was eine Mutter zu sein habe“ (First Day S.5). Auch die sogenannte sanfte Hausgeburt ist bei MOVE teil des revolutionären Prozesses, gemeinsam mit zwei, drei weiteren Zuschreibungen natürlicher Weiblichkeit, die einen wiederum schmunzeln lassen: „Die Revolution, für die MOVE kämpft, findet auf jeder Ebene statt. Daß die Frauen ihre Babys auf natürliche Weise zu Hause zur Welt bringen und sich dafür nicht auf die Krankenhäuser und die medizinische Technologie des Systems verlassen, das ist revolutionär. Weißt Du, wie sehr das den Gesundheitsapparat trifft? Wieviel Geld ihnen dadurch verloren geht? Oder: Wir kämmen unsere Haare nicht, wir lassen sie wachsen. Wir tragen kein Make up, keine Kosmetik. Weißt Du, was das für die Kosmetikindustrie bedeutet?“ (Black Power S.137). Tja: bei circa dreißig Mitgliedern von MOVE in den USA erscheint das tatsächlich als eine berechtigte Frage…
„Numbers are numbers, and power is power“. Es darf allerdings nicht unerwähnt bleiben, daß es gerade die Kinder und schwangeren Frauen von MOVE waren, die viehischen Brutalitäten seitens der Polizei ausgesetzt wurden. Weiße Polizisten schlugen in Philadelphia mit Vorliebe auf hochschwangere MOVE-Mitglieder ein, so daß sie Früh- oder Fehlgeburten bekamen. Und Life Africa, dem, kaum ein paar Monate alt, 1977 ein Polizeibeamter den Schädel auf dem Straßenpflaster zertrat, war keineswegs das einzige minderjährige Opfer der Staatsgewalt. Trotzdem: MOVEs neukatholische Elegie auf schnöde Reproduktionsfunktionen einer Frau rücken sie in üble Nachbarschaft und sind keineswegs stillschweigend hinzunehmen.
Homophobie
Homosexuellenfeindlichkeit ist der heftigste Vorwurf, mit dem sich MOVE konfrontiert sieht. Fast alle UnterstützerInnengruppe haben bereits versucht, Aufklärung von MOVE zu erhalten: „Wir haben (…) nach unserer Rückkehr in die BRD versucht, mit MOVE eine Diskussion unter anderem um Homophobie zu führen, sind damit aber nicht sehr weit gekommen“ (Redaktionskollektiv Right on in Black Power S.128). Die Rechtfertigungen MOVEs zum Thema Homophobie sind schwammig und unverbindlich. Die ganze Sache werde von den Feinden MOVEs in den USA aufgebauscht, meinte Ramona Africa im Dezember 1999 in Münster. Und selbst Mumia Abu-Jamal äußerte sich in einem (unveröffentlichten) Schreiben aus dem Todestrakt (obwohl er wahrhaftig andere Sorgen haben dürfte). Auch seine Äußerungen blieben freilich unbefriedigend – er könne zwar nicht nachvollziehen, warum es jemand „cool fände, schwul zu sein“, ihn persönlich jedoch störe dies in keinster Weise… Es scheint mehr als unwahrscheinlich, daß Homosexuelle Zugang zu MOVE finden können. Von öffentlichen Auftritten der MOVE-Organisation gegen Homosexualität allerdings ist mir nichts bekannt – ein Hoffnungsschimmer, daß es sie vielleicht nicht gibt! Trotzdem sprechen MOVEs grundlegende Texte eine klare Sprache: „Auch wenn wir die legale Institution Ehe des Systems nicht anerkennen, richten wir uns nach dem Naturgesetz, daß es einen Mann und eine Frau braucht, um neues Leben produzieren und erhalten zu können“ (MOVE: Belief & Practice S.70). Das klingt zunächst banal und für sich genommen völlig richtig. Sieht man es aber im Zusammenhang der MOVE-Philosophie insgesamt, offenbart sich die Ungeheuerlichkeit dieser Aussage. Denn für MOVE ist es auch ein Naturgesetz, Leben zu reproduzieren (Siehe Abtreibung). Jede Liebesbeziehung, deren Ziel es nicht ist, Kinder in die Welt zusetzen, wird damit unnatürlich. Und was unnatürlich ist, gehört in MOVEs streng dichotomischem Weltbild auf die Seite des Systems, das als ganzes zu verschwinden habe. Möchte MOVE, daß auch die unnatürliche Homosexualität verschwinde? Das mag eine Überinterpretation sein. Wieder aber scheint MOVE keine Probleme damit zu haben, sich in Argumentation und Einstellung in nichts von den klassischen vorurteilsbeladenen Reden zu unterscheiden, mit denen Homosexuelle rund um den Globus bis heute konfrontiert werden.
Der letzte Vorwurf (dieses Artikels) gegen MOVE ist der unzweifelhaft am dürftigsten belegte – er bezieht sich lediglich auf eine einzige Aussage Ramona Africas, und diese war zu allem übel auch noch mündlich. Was nun folgt, mag also sehr wohl ein Irrweg sein: Ramona Africa verteidigte in Münster das Recht auf Selbstverteidigung. Sie paraphrasierte dabei die Thesen Malcom X recht überzeugend und schloß mit den Worten: „Wer sich nicht – auch mit Gewalt, wenn es sein muß – selbst verteidigt, der begeht Selbstmord. Und Selbstmord ist die höchste Form der Gewalt!“. Selbstmord als höchste Form der Gewalt? Drängt sich da nicht der Eindruck auf, auch der Selbstmord könne in MOVEs Glauben nicht wohlgelitten sein? Wenn das Leben höchstes und heiligstes Gut ist – kann es dann nur das System wagen, Hand an es zu legen? Man braucht nicht gleich Jean Amery, den „Apologeten des Freitodes“, zu zitieren, um einzusehen, daß der Selbstmord – bei allem Grausigen, das ihm vorangehen mag! – gewissermaßen ein letztes und unveräußerliches Recht eines jeden Menschen ist, frei über sein Leben zu entscheiden. Primo Levi nennt ihn sogar als Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Tier. Es stellt sich also, anstelle eines Fazits, die grundsätzliche Frage an MOVE:
Who’s freedom do you mean?
„Die Revolution von MOVE (ist) gegen externe Herrschaft, gegen jede Gewalt gerichtet, die ihren Willen dem Willen der Menschen, frei zu sein, aufzwingt. Weil der Wille, frei zu sein, jedem mitgegeben ist. Er ist angeboren. Er ist in allem Menschsein, umfaßt das ganze Leben. Das ist die Lehre von John Africa“ (Jamal nach Still black – still strong S.106). Auch Ramona Africa wurde nicht müde, immer und immer wieder einzufordern, die Menschen sollten „Freiheit ganz oben auf ihre Liste setzen“ – welche Freiheit? Die Freiheit der MOVE-Organisation? Alles in allem erscheint diese Freiheit recht mager, eingeschränkt durch einen Katalog von Naturgesetzen und Instinkten, gegen die allem Anschein nach kein Widerspruch möglich ist. Wie sehr diese Naturgesetze zuzeiten fragwürdig sind und nach rechts abzurutschen drohen, ist hoffentlich deutlich geworden. Aber natürlich ist es unangemessen, MOVE und vor allem die Arbeit von MOVE in Bausch und Bogen zu verdammen. Es sollte auch in der kritischen Auseinandersetzung so etwas geben wie eine „Verhältnismäßigkeit der Kritik“. MOVE ist gegen Abtreibung. Aber kein Mitglied ist deshalb in US-amerikanischen Abtreibungskliniken Amok gelaufen, wie einige katholische (weiße) Fundamentalisten. MOVE ist, so scheint es, übel homophob. Aber auch hier sollte die Frage gestellt werden, wie sich MOVEs Homophobie denn äußere – mit Schüssen und Bomben am Christopher-Street-Day bestimmt nicht. MOVE ist, trotz aller politischen Radikalität, eine esoterische Glaubensgemeinschaft, die unwillkürlich an Gruppen wie die Zeugen Jehovas denken läßt (MOVE-Mitglieder weigern sich zum Beispiel wie diese, sich Blut abnehmen zu lassen etc.). Ramona Africa wurde in Deutschland allerdings nicht müde zu betonen, es gehe ihr nicht darum, neue Mitglieder für MOVE zu werben. Und wenn man MOVEs eigentliches und primäres Ziel so versteht, eine Welt zu schaffen, in der jeder und jede frei und ohne den anderen zu schaden sein Leben selbst gestalten könne, dann könnte man wohl auch in Deutschland eine radikale politische Flurbereinigung noch aufschieben. Es geht aber natürlich auch anders. Ein Freund meinte, von mir angesprochen, nur lapidar: „Was soll’s! Ich kann auch ohne MOVE leben“. Ich auch.
Literaturhinweise
MOVE: Belief & Practice in "25 years on the MOVE", a revised, updated and expanded edition of the 1991 publication "20 years on the MOVE", Second printing Philadelphia 1997
MOVE: First Day, Issue Nr.20 Philadelphia-Veröffentlichung von MOVE
Weinglass, Leonard "Freiheit für Mumia - Hintergründe eines Fehlurteils und juristische Fakten gegen einen drohenden Justizmord", Bremen 1997
Redaktionskollektiv "Right on" Hrsg. "Black Power- Interviews mit (Ex)Gefangenen aus dem militanten schwarzen Widerstand" Berlin 1993
Michels, Peter "Black Perspektives - Berichte zur schwarzen Bewegung" Band I: USA, Bremen 1999
Mumia Abu-Jamal "...aus der Todeszelle", Bremen 1995
Mumia Abu-Jamal "Ich schreibe um zu leben" Bremen 1997
Demny, Oliver "Die Wut des Panthers" - Die Geschichte der Black Panther Party, Münster 1996
"Still black - still strong" Überlebende des US-Krieges gegen schwarze Revolutionäre/ Dhoruba Bin Wahad/ Mumia Abu-Jamal/Assata Shakur, Bonn 1999