transnationales / antimilitarismus

Tschetschenien

Die Föderation schafft Stabilität

| Christian Axnick

Es wird auch bei Erscheinen dieser GWR kaum etwas neues zu berichten geben - die Kämpfe in Tschetschenien dauern an.

Die russische Kopie des Kosovo-Krieges der Nato hat sich in jeder Hinsicht als das Desaster erwiesen, zu dem sich auch der Nato-Krieg ausgewachsen hätte, wenn es zum Einsatz von Bodentruppen in Jugoslawien gekommen wäre.

Das ist ja schon wieder alles so lange her; aber es lohnt vielleicht, daran zu erinnern, daß lange Zeit nicht klar war, ob die Nato nicht tatsächlich ins Kosovo einmarschieren würde. In dem Fall wäre sie wahrscheinlich heute in einer ähnlichen Lage wie die russischen Truppen in Tschetschenien, und wir müßten täglich in den Nachrichten die Erfolgsmeldungen von Jamie Shea hören: mittlerweile sei Belgrad nach heftigen Gefechten vollständig unter Kontrolle, das Ende der harten aber leider unvermeidlichen Operation rücke näher.

Dieser Art sind nun die Meldungen, die russische Sender verbreiten: „Es besteht kein Zweifel mehr, daß das Territorium Tschetscheniens bald von den Banditen gesäubert sein wird“, und: „Die Antiterroroperation muß zum logischen Abschluß gebracht werden“ – diese Stellungnahmen verbreitete am 25. Januar die Stimme Rußlands in ihrem deutschsprachigen Programm.

Das logische Ende der Antiterroroperation; es ist klar, was das heißen soll: zuerst gewinnen wir den Krieg, dann sehen wir weiter. Abgesehen davon, daß selbst nach militärischen Maßstäben der Krieg in Tschetschenien zu einem Desaster für das russische Militär zu werden droht (woran die Einnahme von Groznyj gerade mal gar nichts ändert) – eine tatsächliche Lösung ist mit militärischen Mitteln nicht nur nicht zu erreichen; vielmehr hat die militärische Option seit Jahren ihren Teil dazu beigetragen, die Lage völlig ausweglos zu machen. Und hier liegt auch der Grund dafür, weshalb es sinnlos ist, mit den „Alternativen zum Krieg“ zu argumentieren, wie das Claudia Wagner in der GWR 244 vom Dezember 1999 zu tun versucht: Der Krieg ist schlichtweg nie eine Alternative gewesen, er erklärt sich aus ganz anderen Gründen, und er funktioniert in einem anderen Bezugssystem. Es käme einer friedenspolitischen Argumentation zugute, endlich einmal auf diesen Unterschied zu bestehen.

Gleich nach dem Zerfall der Sowjetunion hat Tschetschenien im November 1991 seine Unabhängigkeit von der Russischen Föderation erklärt. International wurde die „Tschetschenische Republik Itschkerija“ von keinem anderen Staat anerkannt. Insbesondere Moskau hat die Abspaltung Tschetscheniens nie akzeptiert. Es beansprucht den gesamten Kaukasus als seinen Einflußbereich – nicht nur die nordkaukasischen autonomen Gebiete, die staatsrechtlich Teile der Russischen Föderation sind (wie Tschetschenien), sondern auch das transkaukasische „nahe Ausland“, die GUS-Mitglieder und staatsrechtlich unabhängigen Staaten Armenien, Azerbajdzan und Georgien.

Gerade in Tschetschenien wird jede direkte Intervention Rußlands in einen kolonialgeschichtlichen Zusammenhang eingeordnet; und das hat dazu geführt, daß die anfänglich durchaus nicht geschlossen nationalistische Bevölkerung Tschetscheniens immer stärker zur Unterstützung separatistischer Positionen gedrängt wurde; erst recht durch die russischen Kriegshandlungen wie die Bombardierung Groznyjs im ersten Tschetschenienkrieg.

Das war keineswegs eine zwangsläufige Entwicklung. Bald nach der Unabhängigkeitserklärung von 1991 hatte sich das Regime von Präsident Dzochar Dudaev weitgehend diskreditiert. Es zeichnete sich durch diktatorische Repression und die Unfähigkeit aus, die sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lösen. Was kein Wunder ist: nicht nurder Nationalismus, sondern gerade der Bandennationalismus Dudaevschen Typs dürfte eher taub gegen Erwägungen der Art sein, daß das wirtschaftliche Überleben Tschetscheniens noch am ehesten innerhalb einer wie auch immer gestalteten Russischen Föderation möglich ist, kaum jedoch als glorreicher „unabhängiger“ Nationalstaat. Folgerichtig formierten sich zahlreiche innertschetschenische Oppositionsgrupppen, die allerdings außer ihrer Ablehnung Dudaevs kaum jemals eigenständige politische Positionen entwickelten. Im Rahmen einer Politik des „Teile und herrsche“ wurden einige dieser Gruppen von Moskau unterstützt; was allerdings auch zu nicht mehr führte, als zu einer Vergrößerung der allgemeinen Unübersichtlichkeit.

Selbstverständlich entwickelte sich in der verzweifelten wirtschaftlichen Lage jede Form der Schattenwirtschaft zu blühendem Leben. Ein staatliches Gewaltmonopol existierte in Tschetschenien praktisch nicht mehr. Es gab im Land jede Menge Waffen, die beim hastigen Rückzug der russischen Truppen 1991 zurückgelassen worden waren; und es gab jede Menge Gelegenheit, sie anzuwenden: 1993 und 1994 häuften sich die Überfälle auf Züge der Nordkaukasischen Eisenbahn. Die Handels- und Verkehrsbeziehungen mit Rußland wurden unterbrochen; die budgetäre Unterstützung aus Rußland kam zum Erliegen. Es kam zur verstärkten Kriminalisierung des Wirtschaftslebens; Tschetschenien wurde zu einem Zentrum des Handels mit Konterbande aller Art, wie z.B. Drogen und Waffen.

Diese recht naheliegenden und wenig überraschenden Folgen des Staatenzerfalls und der Transformation traditioneller Formen bürgerlicher Herrschaft in die des Bandenwesens, die ja in den letzten zehn Jahren nicht nur in Tschetschenien zu beobachten gewesen sind, wurden in Rußland als Bedrohung durch eine kaukasische Mafia wahrgenommen. Die russische Position zur tschetschenischen Unabhängigkeit schwankte zwischen zwei Polen: Es traten Befürworter der rücksichtslosen Durchsetzung des Gewaltmonopols der Föderation ebenso auf wie Vertreter der Position, man solle sich des Problems dadurch entledigen, daß man Tschetschenien ziehen lassen und die Grenzen schließe. Zu einer Lösung wie im Fall Tatarstans kam es nicht; hier gelang es der Moskauer Zentralgewalt, die Abgrenzung von Vollmachten zwischen dem Zentrum und einem nach Unabhängigkeit strebenden Föderationssubjekt gütlich zu regeln: in einem bilateralen Vertrag wurde Tatarstan weitgehende Autonomie zugestanden, um es in den Bundesstaat einzubinden. Solche bilateralen Regelungen wurden gelegentlich als Modell empfohlen, um Kriege wie den in Tschetschenien zu verhindern; das hat etwas für sich; ebenso allerdings die Argumentation, die behauptet, gerade in solchen Verträgen zeige sich die imperiale Qualität der Russischen Föderation, und zwar durchaus im Gegensatz zur Sowjetunion. Während im sowjetischen Staat eine Zentrale alle anderen Bestandteile des Staates den gleichen Regeln unterwarf, zeichne es ein Imperium aus, daß es sich über jeweils unterschiedliche, je nach politischer oder wirtschaftlicher Macht ausgehandelte Beziehungen zwischen Zentrale und den einzelnen Regionen konstituiere. Imperien aber neigten zum Zerfallen…

Wie dem auch sei, im Falle Tschetscheniens stießen radikaler Separatismus und die russischen Interessen an der Aufrechterhaltung seiner Vormachtstellung im Kaukasus aufeinander. Bezeichnend für die Eskalation ist ein naßforscher Kommentar des ehemaligen Generals und jetzigen Krasnojarsker Gouverneurs Aleksandr Lebed: „Dudaev droht Rußland ständig mit ghasawat [dem antikolonialen Befreiungskrieg] und Widerstand bis zum letzten Tschetschenen. Nun, dann gibt’s eben ghasawat, dann gibt’s eben den letzten Tschetschenen. Was soll’s?“ Es war derselbe Aleksandr Lebed, der die ganze Bandbreite staatlicher Politik demonstrierte, indem er als Sicherheitsberater Jelzins den Waffenstillstand mit den tschetschenischen Kämpfern schloß. Was soll’s?

Der erste Tschetschenienkrieg endete in einem Fiasko für das russische Militär. Er war in der Bevölkerung äußerst unpopulär: eine korrupte und unfähige Generalität verheizt halbverhungerte, schlecht ausgerüstete Wehrpflichtige, so wurde er wahrgenommen. Die Zahl der Militärdienstentzieher stieg massiv an, aber zu organisierter antimilitaristischer Aktivität kam es kaum. Das russische Militär, das mit diesem Krieg der Welt seine ungebrochene Kampffähigkeit demonstrieren wollte, mußte sich nach dem Beweis des Gegenteils zurückziehen – kein Ergebnis, das ein Generalstab gern hinnähme.

Der staatsrechtliche Status Tschetscheniens blieb unklar; Präsident wurde der gemäßigte Aslan Maschadov, aber einen respektablen Staat aufzubauen und dessen Gewaltmonopol gegen die vielen bewaffneten Gruppen und deren „Feldkommandeure“ durchzusetzen, ist ihm niemals gelungen.

Insgesamt eine schöne Ausgangslage für den zweiten Tschetschenienkrieg, der im September 1999 begonnen wurde. Die unmittelbaren Anlässe sind einigermaßen dubios: Die Urheber der terroristischen Anschläge in russischen Großstädten im September 1999 sind bis heute nicht bekannt. Die Kämpfe, die der tschetschenische Bandenführer Basaev im August 1999 in Dagestan ausgelöst hat, ließen sich einerseits einordnen in die schon seit Dudaev bemerkbaren Bestrebungen, den Konflikt auf den gesamten Kaukasus auszudehnen; andererseits fällt auf, daß diese Kämpfe auch den Moskauer hardlinern wie gerufen kamen. Es scheint, daß auf tschetschenischer Seite die Gruppen um Maschadov intensiv an den Kämpfen beteiligt sind, während etwa der erwähnte Basaev im Moment eine zurückhaltende, abwartende Stellung einnimmt. Man könnte über eine Interessenkongruenz zwischen den tschetschenischen Gegnern Maschadovs und der Gruppe um Vladimir Putin spekulieren: dort die Chance, mit einem Kontrahenten abzurechnen; hier die Gelegenheit, die eigene Stellung im Kampf um die Präsidentschaft entscheidend zu festigen. Beide Seiten mögen auch unmittelbare wirtschaftliche Interessen am Krieg haben: sowohl tschetschenische wie russische Soldaten sind wahrscheinlich zu einem gar nicht so geringen Teil auf eine Art Plünderungsökonomie angewiesen. Jedenfalls werden in der russischen Armee weder der Sold, noch mangels eines Erlasses der Regierung, der offiziell den Kriegszustand verkündet, finanzielle Entschädigungen für die Angehörigen Gefallener ausgezahlt.

Dafür ist es gelungen, eine nationalistische Hysterie in Rußland zu entfachen. Aber wenn dies auch dazu geführt haben mag, daß kaum oppositionelle Stimmen gegen den Krieg zu hören gewesen sind, so kann doch auch diese Hysterie ihren Urhebern gefährlich werden. Was, wenn es trotz aller Rücksichtslosigkeit nicht gelingt, diesen Krieg zu seinem „logischen Ende“ zu führen? Falls der vollständige Sieg nicht errungen wird, und es sieht zur Zeit nicht danach aus – ja, selbst wenn Tschetschenien unter Kontrolle zu bringen wäre: was dann? Eine selten gestellte Frage, und die einzige Antwort, auf die man in Rußland verfallen ist, ist nicht sonderlich erfreulich: Am 2. Februar erklärte das Verteidigungsministerium, daß die 42. Motorschützendivision mit 15.000 Soldaten dauernd in Tschetschenien bleiben soll; offenbar sind sie dabei, sich in Festungen zu verschanzen. Das zeugt von einem gewissen Realismus. Nachdem zerstört ist, was zu zerstören war, ist das Land nicht durch irgendeine Art von Integration zu halten, sondern nur mehr durch nackte Repression. Ebenso wenig hoffnungsvoll sind die Aussichten eines „unabhängigen“, ausgepowerten, verwüsteten und den Machtambitionen diverser warlords ausgelieferten Tschetschenien.

Die Reaktion des Westens erklärt sich aus dem Interesse an einem stabilen Rußland als regionalem Ordnungsfaktor. Zwar wurde Moskau im Verlauf des Kosovo-Krieges nur allzu klar gemacht, daß es weltpolitisch bestenfalls noch als drittklassige Macht rangiert, von der sich die Nato nicht reinreden läßt, aber daran, daß Rußland vollständig zu Bruch geht, ist niemandem gelegen. Sollte so etwas passieren, dann sähe sich die Nato mit einer Anzahl von Konfliktherden konfrontiert, mit der sämtliche Krisenreaktionskräfte der westlichen Wertegemeinschaft überfordert wären. Putin hat im Westen keine gute Presse, aber in den Regierungen dürfte man ihm die Daumen drücken; wenn auch mit einiger Verärgerung darüber, daß die Russen wieder einmal zu dumm waren, die Affäre mit der wünschenswerten Eleganz zu bereinigen. Die Nichtauszahlung von IWF-Krediten resultiert weniger aus der Empörung über einen Krieg, als vielmehr aus der Unzufriedenheit mit den Fortschritten einer kapitalistischen Wirtschaft in Rußland.

Der Appell an westliche Regierungen, ihren Einfluß zugunsten einer Beendigung des Krieges geltend zu machen, verkennt völlig diese Interessenlage, indem er sich bewußtlos auf ein moralisches Potential der bürgerlichen Demokratien bezieht, von dem vielleicht einmal zu erklären wäre, woher es denn kommen sollte. „Deutschland ist Rußlands wichtigster Handelspartner (…) Das heißt aber auch, daß Deutschland mehr Einfluß hat als manch andere Regierung, um auf eine Beendigung des Kriegs (…) und eine gewaltlose Lösung des Konflikts hinzuwirken“ – so Claudia Wagner in GWR 244; und es befremdet ja doch, diese Hochschätzung staatlicher Diplomatie in einer anarchistischen Zeitung zu finden. Den bürgerlichen Demokratien einen Menschenrechtsbonus zuzuerkennen, ist pure Ideologie; sie werden genau dann eingreifen, wenn ihnen der Zweck, im Kaukasus stabile Verhältnisse zu garantieren, durch die Art oder die Länge des Krieges eher gefährdet scheint, als durch eine eventuelle Förderung separatistischer Tendenzen – diese Entwicklung ist ja durchaus möglich, und in dem Fall wird Außenminister Fischer der letzte sein, der sich die Gelegenheit entgehen ließe, Außenpolitik als Friedenspolitik zu betreiben.

Es hilft nichts, die Augen davor zu verschließen, daß die Katastrophe bereits geschehen ist und daß keine der in Rußland ebenso wie hierzulande marginalen antimilitaristischen Gruppen sie verhindern konnte oder auch nur nennenswert zu ihrem Ende beitragen kann. Aber der Unterschied zwischen pazifistischer Aktivität und staatlicher Politik ist kein gradueller – dort verschwindend geringer Einfluß, hier das ganze Machtpotential der staatlichen Institutionen, aber kein grundsätzlicher Widerspruch in den Zielen – sondern ein qualitativer. Der pazifistische Versuch einer möglichst treffenden Analyse von Kriegsursachen ist, so wenig damit unmittelbar auszurichten sein mag, nicht die Ergänzung staatlicher Diplomatie, sondern ihr Gegensatz, der immerhin die Möglichkeit zu friedenspolitischer Aktion offenhält – und das wird kein Aus- oder Anspruch des Außenministers je erreichen.

Anmerkungen

Connection e.V. und DFG-VK Marburg organisieren zum Thema "Tschetschenienkrieg" eine Rundreise (20. März bis 14. April) mit einem Vertreter der Moskauer "Konföderation Revolutionärer Anarchosyndikalisten" und einem Vertreter der "Antimilitaristischen Radikalen Assoziation"

Infos gibt es bei:
Connection e.V.
Gerberstr. 5
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Tel.: 069/823755-34
Fax: -35
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