radikalgraswurzelfeministisch

„Es ist nicht mein Rollstuhl, der mich einschränkt…“

| Kassandra Ruhm

Wenn es die moderne pränatale Diagnostik schon vor meiner Geburt gegeben hätte, wäre meinen Eltern eine Abtreibung dringend nahegelegt worden.
"Zu meinem eigenen besten."
Ich wäre heute nicht am Leben.
Ich kann dir gar nicht sagen, wie wütend ich bin.

Es ist normal

Es ist normal,
einen ungewöhnlich gestalteten Körper zu haben,
es ist normal,
Gebärde zu sprechen,
mit Lupe zu lesen,
mit Rollstuhl zu fahren,
mit Sauerstoffgerät zu atmen,
„geistig behindert“ zu sein

es ist normal,
nicht für Geld arbeiten zu können,
es ist normal,
Überlebende sexueller Gewalt zu sein,
ob es als Kind
oder als Frau war,
es ist normal,
nicht zu überleben

es ist normal,
aus der Heimat fliehen gemußt zu haben,
es ist normal,
Sehnsucht zu haben
und tiefe Trauer,
es ist normal,
irre geworden zu sein

es ist normal,
Angst zu haben,
es ist normal,
von Alkohol oder
anderem abhängig zu sein,
Magersucht zu haben,
von den Eltern mißhandelt worden,
vom Mann, Freund oder
auch von der Freundin
vergewaltigt oder geschlagen worden zu sein

es ist normal,
schwarz zu sein,
jüdisch,
muslimisch,
alt,
alleinerziehend,
chronisch krank,
pflegeabhängig,
dick,
lesbisch oder auch schwul zu sein

es ist nicht normal,
„nichtbehindert“, ohne sexuelle
Gewalterfahrung, deutsch,
heterosexuell, christlich,
suchtfrei, schlank, jung,
finanziell abgesichert,
kinderlos und weiß zu sein

wie erleichternd.
Dann können wir auch aufhören,
die Welt einzurichten, als gehörten
alle zu dieser speziellen Gruppe

Kassandra Ruhm

LebensWert

Im Fernsehen
wieder
Diskussionen
ob ich es wert wäre
zu leben
Eugenik
vorgeburtliche Diagnostik
Euthanasie
und ich denke mir
mit 15 wäre ich
gestorben ohne den medizinischen Fortschritt
vor 60 Jahren wäre ich
vergast worden
aufgrund des ideologischen Fort-Schritts
in ein paar Jahren würde ich
wegen beidem nicht geboren werden
wie soll ich leben
mit dieser Vergangenheit
in Zukunft

Tanja Muster

Meine Tränen

Meine Tränen
auf dem Boden der Toilette
im Kulturzentrum

Wieder eine Veranstaltung
ohne mich

Hierher zu kommen
war
sehr mühsam Auch der Weg
zurück
wird
schwer sein
Eine Etage
über mir sitzt ihr andern
fast höre ich euch diskutieren

Ich sitze
hier auf der Toilette

Meine Tränen
auf dem Boden der Toilette
im Kulturzentrum
sind noch nicht getrocknet

Es ist nicht mein Rollstuhl, der mich wirklich einschränkt

Kassandra Ruhm

Irgendwie gleich

Schwester, wir sind doch alle
irgendwie
behindert,
sagst du,
und machst mich damit gleich
dem Erdboden
auf dem ich nicht stehe
sondern humple, rolle
und gleichermaßen
an-maßen-d
machst du euch
diesem Boden
auf dem ihr nicht rollen
im-stande
seid
ohne
Gleich-gewichtigkeits-übungen

Tanja Muster

Bus-Stop

Ein realistisches Stückchen The-ARTer

Eine behinderte Frau steht an der Bushaltestelle, wo auch schon andere Leute stehen und warten, teilweise eindeutige Blicke auf die Frau schmeißend. Ein Mann tritt schließlich näher an sie heran:

„Darf ich sie mal was fragen? Hatten sie einen Unfall?…“

Die Frau unterbricht ihn: „Darf ich SIE mal was fragen?“ – sie macht eine kurze Pause, um, ihn, leicht bedauernd, zu mustern, wobei ihr Blick einige Sekunden an jener Stelle hängen bleibt: „Haben sie Probleme mit ihren Hoden??“

Der Mann lächelt verwirrt und stammelt etwas vor sich hin wie: „Was…, bitte?!“ Die Frau sagt laut, deutlich und langsam, während sie mit dem Zeigefinger mehrfach auf die Stelle weist (anstatt des Zeigefingers kann auch der Armstummel oder der Blindenstock benützt werden. Es ist jedoch ratsam erstmal nicht damit zu schlagen!): „na, IHRE HODEN!“

Der Mann wird zunehmend verwirrter, blickt sich unsicher um, die Frau: „Sie tun mir wirklich leid. Das ist einfach schrecklich! Hodenprobleme! Und das in ihrem Alter!“, sie schlägt die Hände, Armstummel oder ähnliches über dem Kopf zusammen. „Wissen sie was? Hier hamse ne Mark für ihre Hoden.“

Sie drückt ihm freudestrahlend eine Mark in die Hand, sie geht, hinkt oder rollt ab, während sie ständig den Kopf schüttelt und laut vor sich her sagt: „Hodenprobleme, ganz schlimm, ganz schlimm. Da sollte er aber wirklich zuhause bleiben und sich nicht auch noch öffentlich zeigen. Ganz schlimm, ganz schlimm…“

Der Bus kommt.

Tanja, Heiko, Kassandra

Dieser Text ist einer der vielen schönen Postkarten der Serie EntARTungen: http://members.aol.com/tanuschka

Die Bushilfe

„Soll ich anfassen?“
„Nein.“
„Ich fange sie dann auf“, ein anderer Mann.
„Nein!“
„Aber wenn sie fallen, dann darf ich doch anfassen?!!“
„Nein! Das dürfen sie nicht!“

Laut und deutlich. Ich halte mich an der Bustür kräftig fest, lasse die Hinterräder langsam die hohe Stufe vom Niederflurbus zur Straße runter und schiebe die Vorderräder nach. Während ich mich gekippt halte, sehe ich seine Hand an meiner Rollstuhllehne, es ist anstrengend, ihn abzuwehren. Ich bin noch nicht ganz angekommen, da ergreift er meine Einkaufstüte, die während des Aussteigens von den Haltestäben gerutscht ist, zerquetscht den Inhalt und lacht: „Es ist doch gut, daß ich da war!“

Meine Sachen reiße ich ihm schnaubend aus den Händen. „Das sind meine Sachen! Was soll das denn?! Wenn ich nein sage, meine ich auch nein! Drecksack. Arschloch.“

Doch meinen Frust, den ich nicht mal durch mein promptes, wütendes Geschimpfe abwenden konnte, kann ich nicht so leicht wie meine Tüte aus seinen Händen aus mir herausreissen.

Der richtige Mann

Vor einer Weile telefonierte ich mit meinem damaligen Rehaladen, weil ich ein Ersatzteil für meinen defekten Rolli brauchte. Der Krüppel-Mann am anderen Ende der Leitung war sichtlich an mir – oder vielleicht einfach an einer Frau? – interessiert und grub mich munter an. Er wollte mir dann auch das Ersatzteil einen Tag eher persönlich nach Hause bringen. Ich bin manchmal gern freundlich zu Leuten, hab jedoch schon öfter erlebt, daß Krüppel-Männer das als gute Chance, ’ne Frau aufzureissen gedeutet haben und ein „normales“ nettes Gespräch nicht mehr möglich war. Aus Sorge, daß aus ihm nicht nur die reine Menschenliebe, sondern auch ein gewisses Eigeninteresse sprächen, habe ich mich schnell als Lesbe geoutet. Seine Reaktion darauf war jedoch erstaunlich:

„Das stört mich nicht!“ „Nein, mich auch nicht.“ „Ich sehe das so: Du hast einfach noch nicht den richtigen Mann gefunden!“ „Wie bitte?!“ „Aber das macht ja nichts. Jetzt bin ich ja da, jetzt hast du den richtigen Mann getroffen!“ Ich habe auf das Ersatzteil lieber einen Tag länger gewartet.

Echte Lesben

Verschiedentlich habe ich mitbekommen, wie „nichtbehinderte“ Lesben sich weigerten, geoutete Krüppel-Lesben als Lesben wahrzunehmen. Teils, weil sie ihnen nicht „zutrauten“, lesbisch zu sein, teils mit Begründungen wie, daß andere („nichtbehinderten“) Lesben nichts mit ihnen hätten und sie – in vermeintlicher Ermangelung lesbischer Verhältnisse – auch keine Lesben wären. Eine Wiedergabe dieser Gespräche möchte ich uns hier ersparen.

Wer wird als potentielle/r Geliebte/r wahrgenommen?

Vor einiger Zeit bin ich mit einer Bekannten durch die Fußgänger-Zone gerollt, bzw. nur ich bin gerollt, sie ist zu Fuß gegangen, und im Laufe des Gesprächs habe ich sie gefragt, ob sie sich in einer Krüppelfrau genauso verlieben würde, wie in eine andere. „Ja, klar, wenn sie die Frau meines Lebens ist, natürlich würde ich das. Ich wäre ja blöd, wenn ich dann nichts mit ihr anfangen würde. Ich mache keinen Unterschied zwischen „behinderten“ und „nichtbehinderten“ Frauen.“

Hört sich schön an, aber da, wenn es sich um ein „nichtbehindertes“ Gegenüber handelte, sie nicht nur mit der Frau ihres Lebens was angefangen hat, sondern auch mit manchen anderen, die nicht ihrem absoluten Traumbild entsprachen, macht sie da sehr wohl einen Unterschied.

Als ich vor ein paar Jahren als „nichtbehindert“ bezeichnet wurde, habe ich, wenn ich neue Leute kennelernte, regelmäßig überlegt, ob ich sie attraktiv fände oder sicher nicht. Ich habe nicht geglaubt, negative Vorurteile gegenüber anders fähigen Menschen zu haben. Aber bei ihnen habe ich gar nicht erst überlegt, ob sie für mich in Frage kämen. Diese Frage habe ich mir von vorneherein nicht gestellt. Wenn eine besonders toll gewesen wäre, hätte ich mein Vorurteil, das als so selbstverständlich verinnerlicht war, daß ich es überhaupt nicht bemerkt habe, wahrscheinlich über Bord geworfen. Doch ohne besonders großen Anlaß habe ich es beibehalten und anders fähige Menschen in meinem Umfeld gar nicht erst durch die entsprechende Brille betrachtet. Und dadurch konnten weniger Liebes- oder erotische Verhältnisse entstehen. Ich glaube, daß das ein normales Verhalten ist. Aber „gleich behandelt“ ist es sicher nicht.

Literatur

Kassandra Ruhm, Von Coming-Out und Lesben mit "Behinderung",S. 191-212, in: Coming-out Lesebuch, Hrsg. Iris Konopik, Stefanie Montag, Ariadne Verlag

randschau, Zeitschrift für Behindertenpolitik, Schwerpunktheft: Queer, Schwules und lesbisches Leben mit Behinderung, Bestelladresse: insbesondere die Queer-Ausgabe:
c/o Martin Seidler
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