Arundhati Roy gelingt derzeit mit ihren politischen Essays (vgl. Buchbesprechung GWR 244, S.16) und durch ihre aktive Beteiligung an direkten gewaltfreien Aktionen an der Narmada die ideale Verbindung von intellektueller Arbeit und sozialer Bewegung. Inzwischen hat sie in der indischen Zeitung "Frontline" (18.2.2000) einen weiteren aktuellen Essay über den Widerstand gegen die Staudammprojekte an der Narmada veröffentlicht, den wir hier gekürzt und in deutscher Erstübersetzung drucken. (Red. HD)
Im Februar 1999 wurde in den Zeitungen bekannt gegeben, daß der indische Höchste Gerichtshof ein vier Jahre anhaltendes Moratorium zum Bau des kontroversen, bisher nur halbfertigen Sardar Sarovar-Damms am Fluß Narmada in Zentral-Indien aufgehoben hat. Diese Gerichtsentscheidung kam wie ein körperlich spürbarer Schlag gegen eine der spektakulärsten gewaltfreien Widerstandsbewegungen seit dem indischen Freiheitskampf. Es ist eine Bewegung, die – von ferne betrachtet – eigentlich bereits erreicht hat, wofür sie zum Kampf angetreten war.
Die internationale Aufmerksamkeit wurde auf das Projekt gelenkt. Die Weltbank wurde Mitte der 90er Jahre zum Ausstieg aus dem Projekt gezwungen. Die Regierung schien kaum in der Lage zu sein, das Geld für die Fertigstellung aufzutreiben.
Jetzt, plötzlich, mit dem höchstrichterlichen Aufhebungsbeschluß, veränderte sich das Szenario.
Mein Interesse an den Geschehnissen im Narmada-Tal stieg fortan, denn nahezu jede Person, mit der ich sprach, hatte eine leidenschaftliche Meinung dazu, die – wie mir schien – jedoch auf sehr wenig Information basierte. So legte ich also die Romane, die ich mir für die kommenden Monate vorgenommen hatte, beiseite und beschäftigte mich mit Zeitungen, Büchern und Dokumentarfilmen über Großstaudämme, warum sie gebaut werden und welche Folgen sie haben. Ich entwickelte ein ungewöhnliches, unnatürliches Interesse an Be- und Entwässerung. Und ich traf einige AktivistInnen, die seit Jahren in der Narmada Bachao Andolan arbeiten, der „Bewegung zur Rettung der Narmada“. Was ich dabei lernte, veränderte und faszinierte mich. Es enthüllte, Stück für Stück, eine komplexe Regierungspolitik, die Menschen hinter der genialen Maske der Demokratie vollkommen zerstört. Ich habe viele Leute in Indien verärgert, in dem ich das so klar aussprach. Verglichen mit anderen „Entwicklungsländern“ sei Indien doch ein Paradies, wurde mir gesagt. Es ist wahr, Indien ist nicht Tibet, oder Afghanistan, oder Indonesien. Es ist wahr, daß der Gedanke, die indische Armee könne putschen, sehr weit hergeholt wirkt. Trotzdem: was hier im Namen des „nationalen Interesses“ vor sich geht, ist monströs.
Das Narmadatal-Entwicklungsprojekt ist wahrscheinlich das ambitionierteste Flußtalentwicklungsprojekt in der Welt. Es umfaßt den Bau von 3.200 Dämmen und macht aus der Narmada und ihren 419 Zuflüssen eine Aneinanderreihung von Reservoirs, eine Stufenfolge gestauten Wassers. 30 Dämme sind als Großstaudämme geplant, 135 in mittlerer Größe und der Rest als kleinere. Zwei der Großstaudämme werden multifunktionale Megastaudämme sein, der „Sardar Sarovar“ im Bundesstaat Gujarat und der „Narmada Sagar“ in Madhya Pradesh.
Doch das eigentlich Bedeutsame ist, daß das Narmadatal-Entwicklungsprojekt das Leben von 25 Millionen Menschen, die im Narmadatal leben, verändern und die Ökologie des gesamten Flußgebietes zerstören wird. Heilige Bäume und Tempel, alte Pilgerwege und archäologische Stätten werden überflutet werden, von denen Gelehrte sagen, sie beinhalteten Zeugnisse menschlicher Zivilisation seit der frühen Steinzeit.
Die Politik der Großstaudämme
Über ein halbes Jahrhundert nach der indischen Unabhängigkeit haben die Lakaien des ersten Premier Nehru den Bau von Staudämmen mit dem Aufbau der indischen Nation gleichgesetzt. Sie bauten nicht nur Dämme und große Bewässerungsanlagen, sie verstaatlichten zudem kleine, traditionelle Bewässerungssysteme, die seit Tausenden von Jahren bestanden, und ließen diese verkümmern. Um den Verlust zu kompensieren, wurden mehr und mehr Dämme gebaut. Nach Angaben der Zentralen Wasser-Kommission hat Indien heute 3.600 Großstaudämme, von denen 3.300 nach der Unabhängigkeit gebaut wurden. Weitere eintausend Großdämme sind derzeit im Bau.
Nehrus bekannter Spruch, Großstaudämme seien die modernen Tempel Indiens, steht heute in den Schulbüchern aller indischer Landessprachen. Großstaudämme sind ein Glaubensartikel geworden, der unmittelbar mit Nationalismus zusammenhängt. Ihren Nutzen zu hinterfragen gilt an sich bereits als Vaterlandsverrat. Jedem Schulkind wird gelehrt, Großstaudämme würden die Menschen in Indien von Hunger und Armut befreien.
Werden sie das wirklich? Haben sie das bisher? Sind sie wirklich der Schlüssel zur Ernährungssicherung in Indien?
Indien hat heute mehr bewässertes Land als irgendein anderes Land auf der Welt. In den letzten 50 Jahren stieg der Anteil an bewässertem Land um 140 Prozent. 1947, als der Kolonialismus formal beendet war, mußte Indien Nahrung einführen. 1951 wurden 51 Mio. Tonnen Getreide produziert, heute nahezu 200 Tonnen. Das ist natürlich eine große Errungenschaft, auch wenn es Anzeichen dafür gibt, daß das nicht reichen wird. Doch niemand wird ernsthaft behaupten, daß die Produktion aufgrund der Großstaudämme anstieg. Meist stieg sie aufgrund der besseren Grundwasserausnutzung, vielleicht auch durch besseres Saatgut und Dünger. Kurioserweise gibt es keine offiziellen Zahlen darüber, zu welchem Anteil der Anstieg der Getreideproduktion auf Großstaudämme zurückzuführen ist. Ist das nicht eine unglaubliche Ignoranz des Staates gegenüber seinen Subjekten? Nachdem die Menschen im Narmadatal inzwischen über 15 Jahre um ihre Existenz kämpfen, sollte die Regierung doch wenigstens einmal ihre eigene Legitimation zu belegen versuchen, nach der Großstaudämme die einzige Option Indiens seien, Nahrung für die ständig wachsende Bevölkerung zu produzieren.
Die einzige Studie, die ich kenne, stammt von Himanshu Thakker und wurde der Weltkommission für Staudämme vorgelegt. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß Großstaudämme nur zu 12 Prozent zur Getreideproduktion Indiens beitragen.
Das wären dann 24 Mio. Tonnen.
Im Jahre 1995 hatten die staatlichen Getreidelager einen Überschuß von 30 Mio. Tonnen, während zur selben Zeit 350 Mio. Menschen in Indien unter der Armutsgrenze lebten.
Nach Regierungsangaben müssen 10 Prozent von Indiens Getreideproduktion, das sind 20 Mio. Tonnen, abgeschrieben werden, weil sie infolge schlechter und inadequater Lagerung von Nagetieren und Insekten gefressen werden. Indien muß das einzige Land in der Welt sein, das Großstaudämme baut, dabei menschliche Gemeinschaften zerstört und Wälder überschwemmt, um letztendlich Ratten zu füttern. Daraus folgt: wir brauchen schon mal ganz sicher bessere Lagerräume, und zwar dringender als Staudämme.
Auch im Bereich der Elektrizität brüsten sich die PlanerInnen damit, daß Indien heute 20 mal mehr Strom konsumiert als vor 50 Jahren. Aber noch immer haben über 70 Prozent der ländlichen Haushalte keinen Strom. In den ärmsten Bundesstaaten – Bihar, Uttar Pradesh, Orissa und Rajasthan – haben mehr als 80 Prozent der Adivasi (sog. „UreinwohnerInnen“) und der Dalits (sog. „Unberührbare“) keine Elektrizität. Strom wird also im Namen der Armen produziert, aber von den Reichen mit endlosem Appetit konsumiert. Nach offiziellen Schätzungen wird zudem rund 22 Prozent des produzierten Stromes in Überlandleitungen und Systemineffizienzen verloren. Die existierenden Staudämme versalzen mir rapider Geschwindigkeit innerhalb der Hälfte, manchmal einem Viertel ihrer prognostizierten Produktionsspanne.
Staudämme werden gebaut, Menschen zwangsumgesiedelt, Wälder überschwemmt – und dann wird manches Projekt einfach aufgegeben. Kanäle werden nie fertiggestellt, die versprochenen Vorteile bleiben aus – außer natürlich für die PolitikerInnen, die BürokratInnen und die am Bau beteiligten Unternehmen.
Der erste Damm, der an der Narmada gebaut wurde, der Bargi-Damm in Madhya Pradesh, wurde 1990 fertiggestellt. Er kostete zehnmal mehr als geplant und überschwemmte dreimal mehr Land als von den IngenieurInnen vorausgesehen. Um Kosten und Aufwand zu sparen, flutete die Regierung das Reservoir ohne Vorwarnung. 70.000 Menschen aus 101 Dörfern sollten ursprünglich umgesiedelt werden. Stattdessen wurden 114.000 Menschen aus 162 Dörfern um ihre Existenz gebracht. Sie mußten vor den anschwellenden Fluten aus ihren Häusern fliehen, rausgetrieben wie Ratten, ohne jede Vorwarnung. Es gab keine Neuansiedlung. Einige bekamen eine minimale Kompensation in bar. Die meisten bekamen überhaupt nichts. Einige starben an Hunger. Andere zogen in die Slums der Städte. Und das alles – zu welchem Preis? Heute, zehn Jahre nach Fertigstellung, produziert der Bargi-Damm zwar ein wenig Elektrizität, aber er bewässert nur exakt genauso viel Land wie er überschwemmt hat. Das sind nur 5 Prozent des Landes, von dem die PlanerInnen behaupteten, es würde durch den Damm bewässert werden. Die Regierung sagt, sie habe kein Geld für die Kanäle. Aber für die weiteren Dämme, den großen Narmada Sagar und den Maheshwar-Damm, die gerade gebaut werden – dafür hat sie Geld.
Warum passiert so etwas? Wie kann es passieren?
Großstaudämme sind Monumente der Korruption, der internationalen Korruption in unübersehbarer Größenordnung.
Banker, PolitikerInnen, BürokratInnen, UmweltmanagerInnen, Hilfsorganisationen – sie alle sind Teile derselben Mafia. Die betroffenen Menschen sind die ärmsten und marginalisiertesten Teile der armen Länder. Doch sie zählen nicht als Menschen. Darum zählen die Kosten von Staudämmen nicht als wirkliche Kosten. Die Betroffenen tauchen noch nicht einmal in den Abrechnungsbüchern auf. Stattdessen werden riesige Löhne an internationale RatgeberInnen für Wiederansiedlung bezahlt – globale ExpertInnen für Verzweiflung. Und sie entwickeln immer noch sensiblere, noch humanistischere, noch netter zu lesende Wiederansiedlungsprojekte – die niemals umgesetzt werden. Es gibt einen unter den Betroffenen wohlbekannten Spruch: Aus der Armut ist eine Menge Geld zu holen!
Was nicht in den Büchern steht
Ich dachte, es wäre einmal nötig herauszufinden, wieviele Menschen durch Großstaudämme in Indien vertrieben wurden. Der Zweck war, wenigstens damit anzufangen, eine humanistische Perspektive in die Diskussion zu werfen. Als Grundannahme benutzte ich eine Studie von 54 großen Staudämmen vom indischen Institut für öffentliche Verwaltung. Diese 54 Dämme vertrieben 2,4 Mio. Menschen. Im Schnitt machte das 44.000 pro Damm. Da es sich bei der Studie um sehr große Dämme handelte, reduzierte ich die Durchschnittszahl auf 10.000 pro Damm.
Nach dieser reduzierten Grundannahme beläuft sich die Gesamtzahl an durch große Staudämme vertriebenen Menschen in Indien innerhalb der letzten 50 Jahre auf skandalöse 33 Millionen Menschen.
33 Millionen Menschen!
Vor kurzem schätzte N.C. Saxena, ein Sekretär der Planungskommission, die Anzahl auf ungefähr 40 Millionen.
Ungefähr 60 Prozent der Vertriebenen sind Dalits oder Adivasi. Wenn in Betracht gezogen wird, daß Dalits nur 15 Prozent und Adivasis 8 Prozent der indischen Bevölkerung ausmachen, wird eine ganz andere Dimension dieser Geschichte deutlich. Die ethnische „Andersartigkeit“ der Opfer wirft ein bezeichnendes Licht auf diejenigen, die mit den Dämmen eine „Nation“ aufbauen wollen („Dam-Builders are Nation-Builders“).
Was geschah mit diesen Millionen von Menschen? Wo sind sie jetzt? Wie schlagen sie sich durchs Leben? Niemand weiß das wirklich. Wenn Geschichte geschrieben wird, stehen sie nicht in den Büchern, nicht mal als Statistik. Immer wenn es um Wiederansiedlung geht, werden die Prioritäten der Regierung deutlich. Indien hat gar keine bundesweite Wiederansiedlungspolitik. Vertriebene haben nur Anrecht auf minimale finanzielle Entschädigung. Die ärmsten unter ihnen, Dalits und Adivasi, die entweder landlos waren oder die keinen formalen Schriftbeweis für ihr Landeigentum hatten, deren Leben aber völlig vom Fluß abhing, bekommen nichts. Einige Vertriebene wurden noch weitere drei- oder viermal vertrieben – wegen des Damms, eines anderen Damms, einer Uranmine usw. Wenn sie einmal von ihrem Zuhause weg müssen, kommen sie nicht mehr zur Ruhe.
Dagegen gibt es in diesem Land ein verstörendes Schweigen über die Politik der erzwungenen, unfreiwilligen Umsiedlung. Und wenn darüber geredet wird, dann auf andere Art und Weise: Die Betroffenen werden als Menschen bezeichnet, die sich weigern, den Preis für nationalen Fortschritt zu zahlen. Sie werden als „antinational“ und „gegen Entwicklung eingestellt“ abqualifiziert. Damit wirft man sie ins Gefängnis. Der nationale Konsens scheint so zu lauten: „Ja, es ist traurig, aber harte Entscheidungen mußten getroffen werden. Und irgendjemand muß wohl den Preis für Entwicklung zahlen.“
Die Menschen im Narmadatal antworteten, in dem sie erklärten, sie würden lieber in den Fluten ertrinken als ihre Häuser zu verlassen. Von Juli bis Oktober letzten Jahres wurden weitere Teile des Narmadatals geflutet, während DorfbewohnerInnen tagelang in ihren Häusern in brusttiefem Wasser ausharrten, um zu protestieren, während ihr Gemüse geflutet wurde und während die AktivistInnen der Narmada-Bewegung Regierungsbeamte des falschen Zeugnisses anklagten. Die Beamten behaupteten, Wiederansiedlung sei möglich, wo sie doch genau wüßten, daß dafür nichts getan werde.
Heute ist der Sardar Sarovar-Damm 88 Meter hoch. Er hat bis jetzt nur ein Viertel des Raumes überschwemmt, der eingeplant war für die volle Dammhöhe von 138 Metern. Wenn das Projekt in dieser Höhe belassen würde, würde es die Rettung Hunderttausender Menschen bedeuten. Es würde die Rettung eines der fruchtbarsten Ackerböden in Asien bedeuten. Es würde bedeuten, daß genug Geld für lokale Bewässerung in den Dörfern vorhanden wäre, denen die PlanerInnen Vorteile vom Damm versprachen. Es würde einen Sieg für die Gewaltfreiheit und die Prinzipien der Demokratie bedeuten. Es würde bedeuten, daß wir noch immer hoffen können.
Anmerkungen
Der Sardar Sarovar-Damm ist seither unseres Wissens nicht weiter erhöht worden, dafür wird derzeit mit Hilfe von Siemens und deutschen Hermes-Bürgschaften ein weiterer Großdamm an der Narmada, der Maheshwar-Damm gebaut.
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