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Graswurzelrevolution seit 1972

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Ebenso wie die glorreichen Tage der außerparlamentarischen Opposition und der Friedensbewegung längst Geschichte sind, rücken auch deren Ziele zunehmend aus dem Blickwinkel der Öffentlichkeit. Dass diese Themen bis heute jedoch keinesfalls an Aktualität verloren haben, beweist die Graswurzelrevolution, das am weitesten verbreitete und älteste Periodikum der anarchistischen Szene in Deutschland.

Während viele vergleichbare Publikationen kränkeln oder längst von der Bildfläche verschwunden sind, kann dieGraswurzelrevolution auch 28 Jahre, nachdem in Augsburg die erste Ausgabe durch die Druckpressen lief, auf eine Auflage von 4.000 Exemplaren verweisen.

Doch der Erfolg kommt nicht von ungefähr, steckt hinter der Zeitung doch eine kaum überschaubare Bewegung: Mitte der sechziger Jahre entstanden – beeinflusst durch französische, schweizerische, britische und US-amerikanische AktivistInnen aus dem Umfeld der 1921 gegründeten War Resisters International (WRI) – auch hierzulande erste Graswurzelgruppen. 1972 war es dann Wolfgang Hertle, der gemeinsam mit anderen pazifistisch-libertären SozialistInnen erstmals die Graswurzelrevolution (GWR) herausgab, die sich konzeptionell zunächst an Schwesterzeitungen wie Anarchisme et Nonviolence (Lausanne) sowie an Peace News (London) und der Direkten Aktion (Hannover) orientierte.

Erste Aktionen der GraswurzelrevolutionärInnen wie die Unterstützung inhaftierter spanischer Kriegsdienstverweigerer lagen im antimilitaristischen Bereich. Für diese Kampagnen wie auch für die Unterstützung der Aktionen gegen die französischen Atomwaffentests im Pazifik wurde damals in der GWR mobilisiert. Heute nutzen auch andere Gruppierungen wie Feministinnen, Lesben, Schwule und UmweltaktivistInnen die Zeitung als Forum. „In der GWR wird nicht von Außenstehenden über ein Projekt berichtet, sondern die vor Ort Aktiven schreiben selbst“, betont Bernd Drücke, der als einer von zwei fest angestellten GWR-Mitarbeitern die Koordinationsredaktion in Münster betreibt.

Ein weltweites Korrespondentennetz

So sorgen die LeserInnen und AutorInnen immer wieder selbst für fruchtbaren Boden, auf dem die Graswurzelbewegung seit mehr als einem Vierteljahrhundert wächst und gedeiht. Doch nicht nur das: Durch die Vernetzung der GraswurzlerInnen können die GWR und ihre ausländischen Schwesterzeitungen stets auf ein weltweites Korrespondentennetz zugreifen: „Im Januar habe ich so von einer Aktivistin aus Seattle einen Bericht über die Straßenschlachten während des Treffens der Welthandelsorganisation erhalten“, erinnert sich Bernd Drücke.

Allerdings birgt der Zugriff auf dieses Mitarbeiterkollektiv auch Nachteile, die sich dem Leser beim ersten Blättern durch die Zeitung offenbaren: Weniger die schwankende Qualität der Artikel als vielmehr die kaum überschaubaren „Bleiwüsten“, die die vereinzelten kleinen Fotos schlichtweg erdrücken, machen die Lektüre zu einer zeitaufwendigen Herausforderung.

Den Begriff der Graswurzelrevolution definieren die Herausgeber der GWR damals wie heute als tiefgehende gesellschaftliche Umwälzung, in der Gewalt und Herrschaft von unten bekämpft werden. Das Ziel ist eine Welt, in der die Menschen nicht länger wegen ihres Geschlechts oder ihrer geschlechtlichen Orientierung, ihrer Sprache, Herkunft, Überzeugung, wegen einer Behinderung sowie aufgrund rassistischer oder antisemitischer Vorurteile diskriminiert und benachteiligt werden. Hierarchie und Kapitalismus sollen durch eine selbst organisierte, sozialistische Wirtschaftsordnung und der Staat durch eine basisdemokratische Gesellschaft ersetzt werden.

Diesem Leitbild folgt – beruhend auf einer kollegialen Redaktionsverfassung – auch die dezentral angelegte Struktur der GWR. Alle zwei Monate kommt der Herausgeberkreis, ein offener Zusammenschluss von derzeit 15 Mitgliedern im Alter von 25 bis 65 Jahren – an wechselnden Orten im Bundesgebiet zusammen, um die folgenden zwei Ausgaben zu planen. Diese werden dann jeweils im Wechsel von den Koordinierungsredaktionen – die zweite mit Sitz in München wird von Irene Kober betreut – produziert. Nach der Belichtung in Stuttgart erfolgt in Frankfurt der Druck. Vertrieb und Finanzverwaltung werden von Berlin aus gesteuert, die Online-Ausgabe und das umfassende Internet-Archiv der GWR entstehen in Oldenburg. All dies geschieht unter dem Dach des Verlags Graswurzelrevolution e.V. mit Sitz in Heidelberg und Bremen, der neben der Zeitung auch eine Vielzahl von Büchern vertreibt.

Seit 1981 erscheint die anfangs alle zwei bis drei Monate herausgegebene GWR monatlich, seit 1989 mit einer achtseitigen Oktober-Beilage, den „libertären Buchseiten“, parallel zur Frankfurter Buchmesse. Zudem werden Beilagen und Aktionszeitungen wie zum Beispiel während des Kosovo-Krieges erstellt. Die Auflage blieb bis heute relativ konstant, ihren Höhepunkt erreichte sie mit 10.000 Exemplaren während der Proteste gegen die Nachrüstung. Im Handverkauf wird sie nicht nur auf politischen Veranstaltungen angeboten, sondern vor allem dort, wo die sozialen Bewegungen sichtbar werden: bei einer antirassistischen Fahrradtour entlang der deutsch-polnischen Grenze genauso wie beim Castor-Transport im Wendland. Als Verkaufsstellen fungieren inzwischen auch zahlreiche linke Buchläden sowie Kioske in Berlin und anderen Großstädten.

Obwohl die GraswurzlerInnen immer wieder ihre systemische Unabhängigkeit betonen, wagen sie doch den Spagat zwischen anarchistischer Gegenöffentlichkeit und modernem Zeitgeist. Damit es unter der Grasnabe auch zukünftig „brummt“, ist die GWR nicht nur auf ihre treue Leserschaft – zu ihr zählen Vertreter von SPD, PDS und Bündnisgrünen ebenso wie namhafte Intellektuelle -, sondern auch auf Spenden und Anzeigenkunden angewiesen.

Zudem hat die moderne Technik längst Einzug in das kleine, aber feine Redaktionsbüro gehalten, in dem PC und ISDN-Anschluss zur Standart-Ausstattung gehören. Besonders während der Produktionswoche (unmittelbar vor dem Redaktionsschluss) türmen sich auf Tisch und Fußboden Berge von Papier, während sich Bernd Drücke die halbe Nacht vor dem Rechner um die Ohren schlägt. Nachdem der Vater eines siebenjährigen Sohnes bereits seine Doktorarbeit über Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland verfasst hatte, war er für den Job bei der GWR geradezu prädestiniert. Dennoch gibt der 34-jährige offen zu, dass dies nicht sein Traumberuf ist: „Eine 50-Stunden-Woche ist keine Seltenheit und wir werden schlecht bezahlt. Da ist man spätestens nach fünf Jahren ausgebrannt.“ Während Andreas Speck, Drückes Vorgänger, inzwischen im WRI-Vorstand in London sitzt, hat der Sozialwissenschaftler bereits die Habilitation ins Auge gefasst.

Aufruf zur Fahnenflucht

Vorher muss sich Bernd Drücke allerdings noch vor Gericht verantworten: Nachdem in der GWR-Ausgabe vom Mai 1999, für die der Redakteur presserechtlich verantwortlich zeichnet, alle am Krieg gegen Jugoslawien beteiligten Soldaten aufgefordert wurden, ihre Waffen niederzulegen, erhebt die Staatsanwaltschaft Berlin nun den Vorwurf des Aufrufs zur Fahnenflucht. Doch nicht nur in diesem Punkt ist Drücke zuversichtlich: „Die Graswurzelrevolution wird es auch in 30 Jahren noch geben.“

Frank Bergmannshoff

Aus: mediativ, Zeitschrift für Publizistik und Kommunikation (Institut für Kommunikationswissenschaft, Uni Münster), Nr. 8, Mai 2000, S. 25 - 27