Nathan Stoltzfus: Widerstand des Herzens. Der Aufstand der Berliner Frauen in der Rosenstraße - 1943, Hanser Verlag, München/Wien 1999, 476 S., 54 DM.
Über den erfolgreichen Widerstand der Berliner Frauen in der Rosenstraße ist in der GWR immer wieder berichtet worden (vgl. GWR 138, 149, 176, 222): während der ersten Märzwoche im Jahr 1943 gelang es insgesamt ca. 1000 Frauen, die in Mischehen mit jüdischen Männern lebten, mit öffentlichem, unbewaffnetem zivilen Ungehorsam ca. 1700 Juden, die deportiert werden sollten, frei zu bekommen. Einige wurden deshalb sogar aus Auschwitz, wohin sie schon deportiert worden waren, zurückgeholt. Die Frauen hatten sieben Tage lang, oftmals auch die ganze Nacht hindurch, vor dem Sammellager in der Rosenstraße demonstriert. Manchmal wurden Maschinengewehre gegen sie aufgefahren und sie flüchteten in angrenzende Hauseingänge – aber immer wieder kamen sie zurück und schrien: „Gebt uns unsere Männer wieder!“ oder „Mörder!“ Es war die größte und erfolgreichste innerdeutsche Widerstandsaktion während der gesamten Zeit des Nationalsozialismus.
Die bisher wichtigste und umfassendste Studie zu diesem Aufstand, diejenige von Nathan Stoltzfus nämlich, ist nun endlich auch in deutscher Sprache erschienen. Während die englische Originalausgabe bereits in der GWR besprochen wurde und dort besonderer Wert auf die zweifellos detaillierten Darstellungen Stoltzfus‘ zu Geschichte und Statusänderungen von Mischehen vor und während der Nazi-Zeit gelegt wurde (vgl. GWR 222, lib. Buchseiten), möchte ich das Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe zum Anlaß nehmen, auf die aufstandstheoretischen Passagen des Buches einzugehen, denn auch sie sind ungeheuer spannend und verführen zum gedanklichen Weiterspinnen der Aktion, die vielleicht auch hätte zum Sturz der Nazis führen können. In jedem Fall kann die Wichtigkeit dieses Buches gar nicht überschätzt werden, sowohl für die Theorie des Rassismus und Antisemitismus, weil es am Beispiel der Mischehen klar macht, daß genau bei diesem Thema der wissenschaftliche Rassismus versagen mußte und auch praktisch versagt hat; des weiteren für alle Frauenbewegungen, weil es zeigt, wie beherzt und radikal Frauenwiderstand auch in dieser Zeit aussehen konnte und wie sich Frauen im Widerstand gegenseitig gestärkt haben; aber auch für alle, die sich der Gewaltfreiheit oder des gewaltfreien Anarchismus verschrieben haben und sich immer wieder die bange Frage stellen, ob das nicht im Angesicht des Nationalsozialismus völlig versagen mußte. Stoltzfus beweist eher das Gegenteil.
Die Nazi-Führungsriege war wahrscheinlich das Brutalste, was die Welt gekannt hat – aber sie war nicht blöd. Stoltzfus zeigt auf, wie Hitlers Machttheorie aussah. In der „Schlußaktion“ gegen die letzten in Berlin lebenden Juden, die in Ehe mit deutschen, „arischen“ Frauen lebenden jüdischen Männer, sah die Nazi-Führungshierarchie so aus, daß nach Hitler zunächst Goebbels, dann erst Himmler kam. Goebbels, der für den Gau Berlin den Oberbefahl inne hatte, teilte Hitlers Machttheorie, Himmler sehr viel weniger. Hitler ging seit dem Ersten Weltkrieg, in dem er als „Gefreiter“ mitgekämpft hatte, um dann den „Dolchstoß“ der Revolution von 1918/19 erleben zu müssen, von einer Theorie der Macht aus, die keineswegs allein auf Terror beruht. Stoltzfus: „In ‚Mein Kampf‘ erklärte Hitler, daß Unterstützung durch das Volk die Hauptgrundlage politischer Macht sei. Die erste Grundlage für die Schaffung von Autorität sei immer Popularität. Wenn sie sich diese Unterstützung verschafft hat, muß die politische Führung Gewalt einsetzen, die zweite Grundlage aller Autorität, um ihre Macht zu festigen. Politische Macht, die sich durch allgemeinen Rückhalt beim Volk etabliert hat und mit Hilfe von Gewalt stabilisiert worden ist, hätte aber keinen Bestand, wenn sie nicht durch soziale Traditionen gestützt würde, jenen letzten Grundstein der Macht.“ (S. 26)
Freiwillige Unterstützung (nichts anderes ist Popularität), Gewalt und soziale Traditionen waren also die subjektiven Bestandteile der Machttheorie von Hitler und Goebbels. Stoltzfus zeigt auf, daß beide diese Machttheorie immer im Hinterkopf behielten, bei allem, was sie auch taten. Mit „sozialen Traditionen“ waren bestimmte Gewohnheiten wie der christliche Glaube gemeint, woraus sich die Politik des Ausgleichs der Nazis mit der Kirche ebenso ergab wie der Abbruch von Kampagnen, gegen die sich die Kirche wandten, z.B. das Entfernen der Kruzifixe in den Schulen in den dreißiger Jahren oder das offene Euthanasie-Programm 1941. Gegen beides wandte sich die katholische Kirche offen und mit Erfolg. Für die Mischehe spielte die soziale Tradition insofern eine Rolle, als damals „Scheidung“ aus christlichen Gründen unpopulär war, weshalb die Nazis ein Scheidungsgesetz gegen in Mischehe mit Juden verheiratete deutsche Frauen immer wieder hinauszögerten. Soziale Traditionen sollten nach Maßgabe der Machttheorie Hitlers nur langsam verändert werden, im Zweifel erst nach dem gewonnenen Krieg.
Es kann gar nicht deutlich genug darauf hingewiesen werden, daß diese Machtheorie aus Hitlers Erfahrung der Niederlage im Ersten Weltkrieg stammte. Seiner Wahrnehmung nach wurde der „Dolchstoß“ damals von zwei Strömungen geführt: dem Pazifismus und den Frauen. Und in der Tat waren ja die großen Friedensdemonstrationen des Jahres 1918 mehrheitlich Frauendemonstrationen. Hitler nahm also wahr, daß öffentliche Unzufriedenheit von Frauen im eigenen Hinterland die Kriegsanstrengungen an der Front und damit eine vermeintlich unantastbare Macht vollständig zerstören konnten. Es war für ihn eine Lehre: sowas sollte sich nie wiederholen. Doch der Widerstand der Rosenstraße-Frauen drohte genau jene Konstellation zu wiederholen: das Kriegsglück hatte sich seit Stalingrad gewendet, Berlin wurde bombardiert, die offen sogar gegen Maschinengewehre protestierenden Frauen drohten die Macht der Nazis zu zerstören, wenn sie zu einer Massenbewegung würden. Deshalb wurde ihren Forderungen nachgegeben.
Zeitlich zusammen mit dem Widerstand in der Rosenstraße fiel auch die Mobilisierung von ca. 5 Mio. weiblichen Arbeitskräften für die Kriegsindustrie, um auf einen Anteil von Frauen in der Industrie von 61 Prozent zu kommen, wie das in England bereits der Fall war und für einen „totalen Krieg“ (Goebbels) für nötig befunden wurde. Doch viele Frauen kamen dem nicht nach:
„Als sich in jenem Februar erstmals ein für Deutschland katastrophaler Kriegsausgang abzeichnete, begehrte der weibliche Teil der Bevölkerung auf und zeigte sich nicht gewillt, weiter die Härten und Entbehrungen hinzunehmen, die der Krieg mit sich brachte. Es erinnerte alles sehr stark an 1918, und eine Auflehnung, wie sie es damals gegeben hatte, war für die Nazis seit eh und je ein Schreckgespenst gewesen. Nur sehr wenige Frauen weigerten sich ganz direkt – sozusagen in einem bewußten Akt bürgerlichen Ungehorsams -, den Befehlen des ‚Führers‘ Folge zu leisten, doch Geheimagenten des SD berichteten, daß es in der weiblichen Bevölkerung immer mehr Anzeichen für Defätismus und Kriegsmüdigkeit gebe. Frankfurter Bürgerinnen hätten angeblich gesagt, daß dieser Wahnsinn bald vorbei wäre, wenn sich alle Frauen zusammentäten. Hunderttausende von Frauen aus dem gesamten Reichsgebiet meldeten sich krank: Sie könnten leider die ihnen zugewiesenen Aufgaben nicht übernehmen. Rasendes Kopfweh, plötzliche Nebenhöhlenentzündungen, chronische Rückenschmerzen, hartnäckige Erkältungen, Infektionen der verschiedensten Art oder auch Knochenbrüche hinderten sie bedauerlicherweise daran. Die Gestapo von Karlsruhe konstatierte: Es gibt gar nicht so viele Krankheiten, wie hier beim Arbeitsamt in Traglasten von Gesundheitsattesten genannt worden sind. Viele Frauen behaupteten auch, daß sie sich dringend auf eine Reise begeben müßten, schwiegen sich aber darüber aus, wohin diese sie führen würde oder wann sie wieder daheim sein würden. (…) Weil sich so viele Frauen auf diese Weise ihrer Zwangsverpflichtung entzogen, berichtete Speers Ministerium für Rüstung und Kriegsproduktion Anfang 1944, daß es ‚die Mobilisierung der deutschen Frauen für die Kriegsanstrengungen als völlig gescheitert‘ ansehen müsse.“ (S. 274) Wäre auf die Rosenstraße-Frauen geschossen worden oder ihren Forderungen nicht nach wenigen Tagen entsprochen worden, wäre dieses massenhafte Potential womöglich „explodiert“ und hätte den Protest auf die Straße getragen.
Innerhalb vieler linker oder antifaschistischer Gruppen wird die revolutionstheoretische und machtzerstörerische Dimension des Rosenstraße-Proteste überhaupt nicht gesehen oder gewürdigt – natürlich weil es sich um eine unbewaffnete Demonstration handelte. Oft wird zur Relativierung angeführt, die demonstrierenden Frauen seien ja privilegierte „Arierinnen“ gewesen. Stoltzfus zeigt dagegen, daß die mit Juden verheirateten Frauen am untersten Ende der Skala der als deutsch aktzeptierten Bevölkerung standen, oft jahrelang von NachbarInnen und Behörden als „Huren“ schikaniert oder Vorwürfen der „Rassenschande“ ausgesetzt, weil sie innerhalb der jüdischen Familien lebten. Deutsche Männer ließen sich aus Karrieregründen viel schneller von jüdischen Frauen scheiden und begaben sich durch ihre Verbindung auch nie so stark ins jüdische Milieu – einer der wichtigsten Gründe dafür, daß es weit mehr deutsche Frauen waren, die mit jüdischen Männern verheiratet waren als umgekehrt. Abgesehen davon: für die Zerstörung der Macht der Nazis war es natürlich nötig, daß sich Teile der Mehrheitsbevölkerung gegen sie auflehnten. Was von antifaschistischen Gruppen immer gefordert wurde, daß nämlich Deutsche sich gegen die Nazis wehrten, kann nicht gerade dann zur Relativierung herangezogen werden, wenn sie es tatsächlich mal taten. Manche Deportationspläne der Nazis sahen vor, auch die mit Juden verheirateten Frauen zu den Vernichtungslagern mitzunehmen. Schon ihr Leben vor dem März 1943 war ungeheuer mutig, ihr entschlossener Widerstand umso mehr.
Dabei waren einige Frauen nicht ganz so unpolitisch, wie es zunächst den Anschein hatte. Stoltzfus: „Frau Weigert hatte schon von öffentlichem Protest als Mittel der Einflußnahme auf die Politik gehört; sie hatte von Mahatma Gandhi gelesen und davon, wie er die Massen seines Landes mobilisiert hatte. (…) Einige Frauen, die sich da in der Rosenstraße versammelt hatten, hatten sicherlich etwas über die in der Weimarer Republik so häufigen Protestkundgebungen von Kommunisten oder Sozialisten gehört oder diese sogar persönlich miterlebt; vielleicht wußten sie auch noch von den ja vor allem von Frauen getragenen Massenprotesten und Straßenaufständen gegen den Ersten Weltkrieg und für das Frauenwahlrecht.“ (S. 303)
Kurzum: der Frauenaufstand in der Rosenstraße fand in einer gesellschaftlichen Umbruchsituation statt, in der sich das Kriegsglück wendete und Hunderttausende Frauen nach Auswegen suchten, um nicht in der Kriegsindustrie für den „totalen Krieg“ zu arbeiten. Die Demonstrationen hätten sich in dieser Situation genauso gut wie ein Lauffeuer ausbreiten können und eine Situation wie 1918 heraufbeschwören können: Hitlers Macht untergraben – eine Revolution gegen die Nazis! Nie war sie so nah und möglich wie in jener ersten Märzwoche 1943. Stoltzfus abschließend in seinem wunderbaren Buch:
„In jedem Fall veranlaßte die schon früh von in Mischehe lebenden Deutschen geleistete Opposition das Regime dazu, die Deportation von Juden mit deutschen Ehepartnern zunächst einmal hinauszuschieben, und die betroffenen Deutschen hatten so die Möglichkeit, mit einer ‚friedlichen‘ Protestversammlung statt mit Waffengewalt unter Beweis zu stellen, daß sie weiterhin für das Leben ihrer Angehörigen kämpfen würden. Obwohl sie nicht das höchste Opfer brachten, so riskierten sie doch zumindest ihr Leben; sie wären mit Sicherheit zu Märtyrern geworden, wenn sie zu Waffen gegriffen hätten, um die Erfüllung ihrer Forderungen zu erzwingen. (S. 368) Und: „Der Diktator fürchtete Unruhe in der eigenen Bevölkerung mehr, als er solche Unruhe tatsächlich erfuhr.“ (S. 370) „Zur Begründung und Festigung politischer Macht war Terror bei weitem nicht so wirksam, wie freiwillige Unterstützung durch das Volk es gewesen war. (…) Die Geschichte der Mischehen in Nazideutschland zeigt auf, daß der ‚Führer‘ gesellschaftlichen Einschränkungen unterworfen war. Gleichgültig, ob Hitler und andere ranghohe Nazis die Auswirkung gesellschaftlicher Unruhe überschätzten, wenn man sich intensiver mit dem Einfluß ’normaler Bürger‘ auf die Herrschaft der Nazis und die von ihnen begangenen Verbrechen beschäftigen will, dann wird man die Millionen von ‚Mitläufern‘ ins Blickfeld nehmen müssen, die, indem sie nichts taten, ein solches Verhalten als akzaptable soziale Norm definierten.“ (S. 371)