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Anarchistische Poesie

| Jodsenf Felsfreß

Hach, ist das schön!

Und dabei ist es mit Lyrik gemeinhin so eine Sache. Hans Magnus Enzensberger hat einmal geschrieben, lesen wolle Gedichte niemand. Nur schreiben. Und so fehlt es auf dem deutschen Buchmarkt nicht an fremd – und selbstverlegten Peinlichkeiten: Hier ruft die Seele eines ästhetischen Pflegefalles mit lyrischer Inkontinenz nach Zuwendung, dort werden drei, vier Worte auf den Rücken gedreht und strampeln hilflos durch seitenweise literarische Avantgarde, und wer in einem sanierungsbedürftigen Haus wohnt und eine Ratte in der Kloschüssel findet, trägt gleich das „Soziale“ in die deutsche Dichtung. Wer mir nicht glauben will, mag sich einmal umtun bei Social Beat und anderen Unmöglichkeiten…

Sollen darüber hinaus noch „zwei von der bürgerlichen Entwicklung fein säuberlich getrennte Denkbereiche, Literatur und Politik“ zusammengebracht werden, wird gar „libertäre Poesie“ versprochen, könnte sich das misstrauische Wiegen des Kopfes zum Schütteln steigern: „Anarchistische Literatur? Nein danke, die ist mir zu Mühsam.“

Nichts von alledem! Das im Frankfurter Kleinverlag Edition AV 88 erschienene Buch von Ralf Burnicki und Michael Halfbrodt, „Die Wirklichkeit zerreißen wie einen misslungenen Schnappschuß.“, ist eine kleine literarische Perle. Es hadelt sich um keine Anthologie, sondern um ein richtiges Gedichtbändchen, 103 Seiten stark, das Halfbrodt und Burnicki, je zur Hälfte, mit eigenen Texten füllen. Niemand sollte sich vom zwar informativen, aber trockenen und umständlichen Duktus des Vorwortes abschrecken lassen. Halfbrodt und Burnicki greifen unbekümmert und mit beiden Händen in den Fundus aus Bild und Sprache. Geschrieben wird ohne Netz und doppelten Boden, opulent, verschwenderisch und stets mit vollem Risiko. Gemeinsam ist beiden, bei aller Unterschiedlichkeit, „der entfesselte Blick“ auf die Herrschaft der Zustände und die Suche nach einer Poesie, der keine Gliedmaßen fehlen und die ideologische Krücken deshalb nicht braucht.

In „Nieder. Poem zur deutschen Nation und zum deutschen Nationalismus von der Reichsgründung bis zur Gegenwart“ (S.17-35) präsentiert Halfbrodt eine im wahrsten Sinne des Wortes „verdichtete“ Geschichte jenes Landes, das „Vaterland“ heißt. Ein enormes Prosa-Gedicht, eine wütende Verspolemik gegen Wirkung und Wirklichkeit deutscher Tradition, für die die zornigsten der frazösischen Surrealisten Pate standen: „In vertikalen Gettos aufgestapelte Steuerzahler schlucken ihre in Fahndungsplakaten verpackten Schlaftabletten und wünschen ihrem Farbfernseher und ihrer Couchgarnitur eine gesegnete Nachtruhe“ (S.24/25). Das Gedicht ist eine einzige, große Satzperiode; und durch diesen Kunstgriff rast die Zeit dahin, atemlos und ohne innezuhalten. Walter Benjamins „Engel der Geschichte“ ist auf dem Weg ins kommende Jahrtausend. Politische Polemik und dichterische Form fallen in eins.

Manch grimmiges Bildgeschoss mag zwar, mit allzu- viel Adjektiven beladen, schon vor dem Ziel wieder zur Erde sinken. Das spricht aber nur für den künstlerischen Mut des Autors, und für jede schwächere Stelle wird postwendend entschädigt, zum Beispiel „wenn die an Wackelkontakten leidenden Staatssekretäre (…) in Zweizimmersärgen mit eingebauter Scheintotenklingel wohnen“. (S.24)

Ralf Burnicki stellt neun Texte aus seinem schon 1996 bei Edition Blackbox (Bielefeld) erschienenen Band „Stadtschluchten“ vor. Und obwohl auch hier nicht jeder Text genial sein kann, muß sich Burnicki keineswegs hinter seinem bielefelder Dichterkollegen verstecken – im Gegenteil. Burnickis „Stadtschluchten“ sind Stadtwanderungen; ein Spaziergang von Wahrnehmung und Assoziation durch die Stadt, in der viele Städte Platz haben; die Stadt, von der man nie wirklich weiß, ob sie nicht eigentlich im eigenen Kopf errichtet wurde; die nur durch das eigene Blut, die eigenen Träume erwärmt wird (In Burnickis Gedicht „Stau“ z. B. werden Körper und Karosserie praktisch eins). Der „entfesselte Blick“ ist der des Beobachtenden nach Innen und Außen. Auch hier also keine gereimte Schulstunde, kein Zeigefinger, keine Belehrung: das „Libertäre“ ist die Art des Schauens – und die Art des Schreibens:„Es sollte anders werden. Der Frühling, Hausbesetzer alten Schlages, war in den Norden eingestiegen, riss ihm alle Fenster auf und hätte noch fast die Zukunft instandbesetzt, wären da nicht einige Nächte aufmarschiert mit ihrem tiefsten Blaulicht und Schlagstöcken aus Wind und hätten sämtliche Ansichten geräumt. Doch der Frühling kam wieder mit seinen sonnigsten Kumpels und Kumpaninnen, den prächtigsten Mittagen, ellenlangen Bekannten, die beinahe von früh bis spät reichten. Und während sie den Straßen ins Kreuz fielen, wurden den Gärten die buntesten Grafittis gesprüht“ (S.71).

Burnicki kann es auch direkt und geradeheraus, wie in „Liebe Luxus Kapitalismus“ (S.90) oder dem hinreißenden „Anarchie braucht keine Hosenträger“.(S.98), einem Gedicht, das den mit allen Stowassern gewaschenen Linken zu Einkehr und Bereicherung dienen mag. Und dann, ja dann wäre da noch „No Limits“ (S.68), ein Liebesgedicht, so traumhaft schön und sicher, daß ich mir vorgenommen habe, es zu kopieren und in meinem Zimmer an die Wand zu hängen – neben Kurt Schwitters „Anna Blume“ natürlich: „Komm zu mir und bring all Deine Überraschungen mit (…)“ (S.67).

Was von Halfbrodt und Burnicki geboten wird, ist künstlerisch wie inhaltlich auf lauwarme Solidaritätsbekundungen nicht angewiesen. Es wird Literatur gemacht. Eigenständige Literatur. Schöne Literatur. Anarchistische Literatur. Toll!

Ralf Burnicki/ Michael Halfbrodt: "Die Wirklichkeit zerreißen wie einen misslungenen Schnappschuß. Libertäre Poesie.", Verlag Edition AV 88, Frankfurt a.M., 2000, 110 S., 10 DM