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Ausgewählte Schriften von Otto Gross

"Die Psychologie des Unbewußten ist die Philosophie der Revolution."

| Mittwochsgruppe Frankfurt/Main

Für AnarchistInnen ist die Frage, auf welchen Wegen eine freiheitliche Gesellschaft erreicht werden kann, von herausragender Bedeutung. Müssen, um zu einer grundlegenden Restrukturierung gesellschaftlichen Lebens zu gelangen, sämtliche sozialen Beziehungen durch völlig neue Arrangements ersetzt werden? Oder ist es möglich, an Freiheits- und Gemeinschaftserfahrungen anzuknüpfen, um auf dieser Route die Anarchie zu erreichen? Als Vertreter dieser beiden Optionen gelten im deutschsprachigen Raum die Anarchisten Gustav Landauer (1870-1919) und Otto Gross (1877-1920).

Gustav Landauer knüpfte mit seinem kommunitären Anarchismus an das christlichen Mittelalter und an einem für ihn damals existierenden „Gemeinschaftsgeist“ an. Als Grundlage einer restrukturierten Gesellschaft eines Bundes von Bünden rief er zur Gründung von Landkommunen und Gemeinden auf. Die ‚Urzelle‘ seines ‚Bund‘-Verständnisses stellte für ihn die Familie dar. Daraus erklärt sich auch seine Verteidigung der Ehe sowie seine vehemente Kritik der freien Liebe und der Psychoanalyse: „Ich will neue Mitlebensformen schaffen, weil die wirklichen, die da sind, zu kümmerlich, zu eng sind… Wahnsinn aber wäre es, die Formen des Bundes, die wenigen, die geblieben sind, auch noch ‚abschaffen‘ zu wollen! Form brauchen wir, nicht Formlosigkeit. Tradition brauchen wir, nicht Zuchtlosigkeit.“ (Brief Landauers an Margarethe Faas- Hardegger vom 01.04.1909). Landauers „restaurativ-utopische Perspektive“ (Thorsten Hinz) gründete auf der festen Überzeugung, daß eine herrschaftslose Gesellschaft nur unter der Voraussetzung aufgebaut werden kann, daß Menschen vom „Gemeingeist“ durchdrungen sind. Diesen „Gemeingeist“ meinte er im Mittelalter erkennen zu können.

Im Gegensatz zu Landauer war Gross davon überzeugt, daß eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft mitnichten unter Berufung auf historische Gemeinschaftserfahrungen möglich sei. Vielmehr müßten, um zu einer libertären Ethik und freiheitlichen Beziehungen unter den Menschen zu gelangen, vollkommen neue soziale Arrangements kreiert werden. Nachzulesen sind seine Ausführungen in einem soeben erschienenen Band, der die wichtigsten Schriften von Otto Gross in der Zeit von 1913 bis 1920 vereinigt.

Otto Gross, der „bedeutendste Schüler Sigmund Freuds“ (Erich Mühsam) und der von diesem begründeten Psychoanalyse, erkannte, daß sich revolutionäre Politik mit Psychoanalyse verknüpfen muß: „Die Psychologie des Unbewußten ist die Philosophie der Revolution, d.h. sie ist berufen, das zu werden als das Ferment der Revoltierung innerhalb der Psyche, als die Befreiung der vom eigenen Unbewußten gebundenen Individualität. Sie ist berufen, zur Freiheit innerlich fähig zu machen, berufen als die Vorarbeit der Revolution. […] Es ist dies die praktische Methode, die es zum ersten Male möglich macht, das Unbewußte für die empirische Erkenntnis freizumachen, d.h. für uns, es ist jetzt möglich geworden, sich selbst zu erkennen. Damit ist eine neue Ethik geboren, die auf dem sittlichen Imperativ zum wirklichen Wissen um sich und um den Nächsten beruhen wird.“ (Zur Überwindung der kulturellen Krise (1913). In: Otto Gross, a.a.O., S. 59)

Unter dem Einfluß von Bohème- und Anarchistenkreisen, in denen er verkehrte, und der Freundschaft mit Erich Mühsam und Franz Jung forderte er die Befreiung der Individuen von sämtlichen, traditionellen Lebensnormen und -formen. Dies bedeutete für ihn vor allem die Bekämpfung des Patriarchats und der monogamen Ehe. Sexuelle Revolution, freie Liebe (die Gross selber praktizierte) und Matriarchat wünschte Gross an die Stelle der krankmachenden kapitalistischen Ordnung zu setzen. Vor allem im Modell einer anarchistischen Mutterrechtsgesellschaft, basierend auf Mitmenschlichkeit und Solidarität, eröffnete sich ihm die Möglichkeit sozialer Individualität, Freiheit und Gemeinschaftlichkeit.

Lange vor Wilhelm Reich, Herbert Marcuse und Erich Fromm betonte Otto Gross die Notwendigkeit, die Psychoanalyse in einen gesellschaftlichen Kontext zu rücken, sie also als ein Instrument der Gesellschaftsveränderung zu nutzen. Zugleich wies er darauf hin, daß sexuelle Unterdrückung ein nicht zu unterschätzendes Herrschaftsinstrument darstellt. Gross war überzeugt, daß die Psychoanalyse einen Weg zur Selbsterkenntnis jedes Einzelnen beschreibt, um das Unbewußte und die Affekte, die soziales Zusammenleben ohne Gewalt und Hierarchie bislang verunmöglichten, zu beherrschen. Innerlich zur Freiheit fähig zu werden, das erschien ihm als die eigentliche Vorarbeit und Vorbedingung der Revolution.

Auch im vorliegenden Band hat Gross wiederholt darauf hingewiesen, daß ein enger Zusammenhang von psychischen und sozialen Konflikten besteht und daß die herrschenden Normen und Lebensbedingungen zu zahlreichen seelischen und körperlichen Erkrankungen führen. Psychische Erkrankungen betrachtete er stets als Ausdruck einer Rebellion gegen die Unterwerfung des einzelnen unter die krankmachende kapitalistische Gesellschaft: „Es zeigt sich, daß das eigentliche Wesen dieser Konflikte im tiefsten Grund sich stets auf ein umfassendes Prinzip zurückführen läßt, auf den Konflikt des Eigenen und Fremden, des angeborenen Individuellen und des Suggerierten, das ist des Anerzogenen und Aufgezwungenen.“ (Ebd. S. 60)

Daß die meisten Revolutionäre sich innerlich nicht befreien, in dem sie sich etwa von ihrer Kindheit und dem Elternhaus emanzipieren, betrachtete Gross als kardinal für revolutionäres Scheitern: „Man kann jetzt […] erkennen, daß in der Familie der Herd aller Autorität liegt, daß die Verbindung von Sexualität und Autorität, wie sie sich in der Familie mit dem noch geltenden Vaterrecht zeigt, jede Individualität in Ketten schlägt.“ (Ebd. S. 61) Zuerst müßten die Menschen innerlich frei werden, d. h. sich lösen von allen patriarchalen Konstruktionen, bevor die Gesellschaft radikal und dauerhaft verändert werden könnte. Das Mittel hierfür sei die Psychoanalyse: „Der Revolutionär von heute, der mit Hilfe der Psychologie des Unbewußten die Beziehungen der Geschlechter in einer freien und glückverheißenden Zukunft sieht, kämpft gegen Vergewaltigung in ursprünglichster Form, gegen den Vater und gegen das Vaterrecht.“ (Ebd. S. 62)

Auch wenn Otto Gross und Gustav Landauer in der Notwendigkeit frei vereinbarter Gemeinschaften und neuer persönlicher Beziehungen übereinstimmten – Gross befürwortete durchaus Landauers kommunitären Anarchismus – , so unterschieden sie sich grundlegend darin, daß Landauer an der heterosexuellen Ehe und dem bürgerlichen Modell der monogamen Kleinfamilie, die er gleichsam naturrechtlich verklärte, festhielt.

Gross dagegen beschrieb die bürgerliche Kleinfamilie als Quelle aller gesellschaftlichen Mißstände. Daraus erklärte sich für ihn auch das Scheitern der Revolution 1918/19 in Deutschland: „Es ist das innere Schicksal und die Bestimmung des Revolutionärs, um seine inselhafte Einsamkeit des von der Zukunft her zu seiner Sendung Orientierten unter Feinden wie Gefährten wissend, das revolutionäre Geheimnis der Erlösung, wenn es ist, allein zu tragen und für den Umsturz, wenn es sein kann, alles jetzt Bestehenden und für den Kampf und die entfesselte Gewalt, vielleicht dem Willen einer ganzen Welt entgegen, die Verantwortung auf sich selbst nehmen.“ (Zum Problem: Parlamentarismus (1919) In: Otto Gross, a.a.O. S. 113f.)

Solange Menschen ihrer familiären Sozialisation verhaftet bleiben und damit ihren Affekten und ihrem Unbewußten preisgegeben sind, muß, so Gross, revolutionäre Veränderung zwangsläufig mißlingen. Ein Ausweg sei allein die Verbindung von innerer und äußerer Revolution: eine Revolution des Unbewußten und des Bewußtseins zusammen mit einem Umsturz sämtlicher bestehender Institutionen, einschließlich der Ehe und (Klein)familie, also ein radikaler Bruch mit Vergangenheit und Gegenwart.

Für Otto Gross stellt die Psychoanalyse unter der Voraussetzung ein Instrument zur Befreiung des Menschen dar, daß sie beim Individuum beginnt, zugleich über das Individuum hinausreicht und die gesellschaftlichen Zusammenhänge verändert. Stets betonte er die Notwendigkeit sozialer Veränderung auf zwei Ebenen gleichzeitig: beim Individuum und in der Gesellschaft. Diese anarchistische Einstellung durchzieht sämtliche Essays im vorliegenden Band. Deutlich wird dies auch in der Einleitung zu Leben und Werk von Otto Gross, die Franz Jung für die 1921 geplante zweibändige Gross’sche Werkausgabe schrieb. (S. 5ff.) Menschliche Beziehungen, Sexualität, Ethik, Geschlechterdifferenz, Emanzipation der Frau und Patriarchatskritik waren Gross‘ zentrale Themen. Psychoanalyse bedeutet hier gleichsam Kulturrevolution, nämlich den Weg zu öffnen für eine radikale Restrukturierung von Individuum und Gesellschaft hin zu sozialer Individualität.

Angesichts der Notwendigkeit, anarchistische Theorie und Praxis im 21. Jahrhundert zu überdenken, erweist sich das vorliegende Buch als ein empfehlenswerter Einstieg in diese notwendige Debatte.

Otto Gross, Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. Mit einem Essay von Franz Jung zu Leben und Werk von Otto Gross sowie einem Nachwort von Raimund Dehmlow. Hamburg: Edition Nautilus 2000 = Internationale Bibliothek Bd. 7. 192 S., 26 DM