Wer hätte gedacht, dass eine wissenschaftliche Festschrift den Zensurbestrebungen eines grünen Mitglieds des Bundestags (MdB) zum Opfer fallen kann?
Als sechster Band der wissenschaftlichen Buchreihe „Kulturelle Identität und politische Selbstbestimmung in der Weltgesellschaft“ erschien Ende März 2000 zum 65. Geburtstag des Soziologieprofessors Christian Sigrist die Festschrift „Soziologie im Minenfeld“. Beiträge zu Themen wie z.B. „Macht und Anarchie“, „Die Utopie zwischen Herrschaftsfreiheit und Real-Möglichem: Zum emanzipatorischen Gehalt von Utopien“ von Sandra Thieme, „La dictatura perfecta – Folter in ‚demokratischen‘ Staaten“ von Edo Schmidt und „Die Stimme Palästinas“ von Robert Krieg machen dieses Buch nicht nur für SoziologInnen und AnarchistInnen lesenswert.
Der grüne Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei war allerdings wenig begeistert, als er in der Festschrift auch den Nachdruck eines Interviews entdeckte, das ich mit Christian Sigrist geführt hatte und das bereits im Sommer 1999 in der Graswurzelrevolution (GWR) Nr. 240 unter dem Titel „Der ‚Siegfrieden‘ der NATO“ erschienen ist. GWR-Leser Nachtwei hatte damals auf das Interview mit einem Leserbrief reagiert, der dann im September 1999 in der GWR Nr. 241 veröffentlicht wurde.
Nachtwei, der inzwischen einen Anwalt eingeschaltet hatte, forderte den LIT-Verlag auf, das Buch in seiner ursprünglichen Form aus dem Verkehr zu ziehen. Der LIT-Verlag solle dazu eine Verpflichtungserklärung abgeben, bei Zuwiderhandlung ausgestattet mit einem Betrag von 10.000 DM. Sein ehemaliger Hochschullehrer Sigrist habe ihn in dem Interview diffamiert, so Nachtwei. Als Hebel gegen die weitere Verbreitung des Buches dient Nachtwei folgende Passage aus dem Sigrist-Interview: „Ich hab mich gewundert, dass er (Nachtwei) auf dem Münsteraner Luftwaffenball war. Der Luftwaffenball als solcher ist obszön.“
Nachtwei behauptet, er sei nicht auf dem Luftwaffenball gewesen und deshalb dürfe das Buch so nicht verbreitet werden.
Sowohl AntimilitaristInnen als auch Militärs werden sich verwundert die Augen reiben, denn es ist kein Geheimnis, dass sich Nachtwei vom ehemaligen Mitglied der Friedensbewegung zu einem Bellizisten gemausert hat. Nachtwei war z.B. dabei, als sich am 22. März 2000 die Bundeswehr ein Stück öffentlichen Raum zurückeroberte. Auf dem Münsteraner Schlossplatz, einem Ort an dem einst Waffen-SS und Wehrmacht ihre „Großen Zapfenstreiche“ abhielten, zelebrierten die Soldaten der NATO-Elitetruppe „1. Korps“ mit Stahlhelmen, Fackelzug und Nationalhymne einen „Großen Zapfenstreich“. Einige Monate zuvor beteiligte sich der einstige Friedensaktivist an den öffentlichen Soldatenmärschen durch die Münsteraner Innenstadt. Wenn es darum geht, ziviles Terrain für das Militär zurückzuerobern ist Nachtwei dabei. Deshalb ist es – unabhängig davon ob das Mitglied des Verteidigungsausschusses den Luftwaffenball besucht hat oder nicht – wenig glaubwürdig, dass er sich an dem obigen Sigrist-Zitat stört. Sigrist räumt ein, dass ihm die Erinnerung einen Streich gespielt hat. Er hält seine Behauptung, Nachtwei habe am Luftwaffenball teilgenommen, allerdings für eine Bagatelle, angesichts der Mitverantwortung Nachtweis für den Kriegseinsatz der Bundeswehr in Jugoslawien.
Nachtwei dürfte wohl eher die treffende Analyse seines Ex-Lehrers gestört haben, als die möglicherweise nicht richtige Aussage zu seiner Teilnahme am Luftwaffenball. Sigrist, der Nachtwei noch im Bundestagswahlkampf 1998 durch einen Wahlaufruf unterstützt hatte, erklärt im GWR-Interview den Wandel Nachtweis vom Mitglied der Friedensbewegung zum Befürworter des auch von vielen JuristInnen als völkerrechtswidrig eingeschätzten NATO- Angriffskrieges gegen Jugoslawien folgendermaßen: „Nachtwei hat in Münster jahrelang die Friedens AG der Grünen Alternativen Liste geleitet, und dann sagt so jemand ‚Keine Alternative‘. Das ist Unsinn, Alternativen gibt es, es gibt gute, schlechte, (…) dieses alternativlose Denken von Anfang an, man kann das nicht anders interpretieren, als mit ‚Regierungsfähigkeit‘. Die Gefahr des Zerbrechens der rot-grünen Koalition, raus aus dem Regierungsgeschäft, eventuell Neuwahlen und dann das Mandat weg. Es ist das Kleben an der Macht. MMB – Macht macht blöd. Auf der unteren Stufe heißt es Mandat macht blöd, selbst kluge Leute. (…) Bei Nachtwei ist es der Wandel vom Taktierer zum Opportunisten. Er versucht (…) dazuzugehören, seine Position im Verteidigungsausschuss, und gleichzeitig will er sich den Rückhalt in der Basis erhalten. Das ist ein ‚rumeiern. Da kommen die absurdesten Argumente, die unter seinem intellektuellen Niveau sind. Ich halte den Mann nicht rückwirkend für dumm, aber dieses Kleben an der Macht. Außerdem: das Leben im Bundestag, das ist eine Art Raumschiff, das ist ein Realitätsverlust.“
Wer Nachtwei kennt, wer sieht, wie er versucht KritikerInnen mundtot zu machen und wie er sich sowohl bei ehemaligen MitstreiterInnen aus der Friedensbewegung als auch bei den Militärs anbiedert, der kann die Aussagen Sigrists unterschreiben. Nachtwei tanzt auf Eiern. In der „Zivilcourage“, Zeitung der DFG-VK Nr. 4 (Juli/August 2000), behauptet er: „Unsere Zustimmung zum Krieg war ein Sündenfall. In der zugespitzten Situation, die wir bei der Regierungsübernahme vorgefunden haben, gab es aber nur noch äußerst verengte Handlungsoptionen“. Eine jährliche Reduzierung der Militärkosten lehnt er ab: „Die Bundeswehr würde durch diese jährliche Kürzung regelrecht im Sturzflug schrumpfen. Wenn die Bundesrepublik nur noch die Hälfte oder weniger ihrer jetzigen Bundeswehrstärke in die NATO einbringen würde, dann hätte sie in der NATO kein politisches Gewicht mehr.“ Dieser Mann will keine Abrüstung, er will militärisches, „politisches Gewicht“! Wer zweifelt noch daran, dass er beim nächsten Krieg wieder Bundeswehrsoldaten auffordern wird Bomben zu werfen und somit Menschen zu töten?
Von Menschen, deren politisches Ziel seit Jahren der eigene Machtausbau ist, von Fischer, Scharping, Schröder und Co. war zu erwarten, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen gehen. Aber wer – wie Nachtwei (ebenso wie Angelika Beer und das grüne Wahlprogramm) – noch 1998 Kampfeinsätze der Bundeswehr ausschließt, dann aber schlagartig zum Kriegsbefürworter mutiert, braucht sich nicht zu wundern, wenn er frühere Freunde und seine eigene Glaubwürdigkeit verliert.
Der LIT-Verlag hat sich dem Druck Nachtweis gebeugt und den Vertrag mit den HerausgeberInnen der Festschrift aufgekündigt. Die wenigen noch vorhandenen Exemplare wurden zurückgerufen.
Wer sich das Warten auf die demnächst erscheinende korrigierte, zweite Auflage der „Soziologie im Minenfeld“ versüßen will, kann den inkriminierten Text in einer korrigierten Version auf der Homepage der Graswurzelrevolution (www.comlink.de/graswurzel/) finden.
Christine Idems, Matthias Schoormann (Hg.): Soziologie im Minenfeld : Zum 65. Geburtstag von Christian Sigrist, LIT Verlag, Münster 2000, ISBN 3-8258-4676-8, 266 S., 49.80 DM
Anmerkungen
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Breul 43
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