Nur selten haben sich bisher bekennende AnarchistInnen theoretisch mit dem auseinandergesetzt, was heutzutage „Postmoderne“ genannt wird. Daß der Anarchismus als Theoriekonglomerat aufgrund neuer Situationen aktualisierungsbedürftig ist, wird wohl kaum von irgendwem angezweifelt, und die TheoretikerInnen der Postmoderne – die sich selber selten so bezeichnen – leisten hier eine Hilfestellung, die häufiger honoriert bzw. überhaupt erst einmal wahr- und angenommen werden müßte.
Die Frage, ob so verschiedene TheoretikerInnen wie Foucault, Derrida, oder Lyotard Anarchisten wären, ist dabei hinfällig: Zu oft schon hat der Anarchismus recht willkürlich bekannte WissenschaftlerInnen oder Kulturschaffende auf seine Seite geschafft. Allerdings ist es durchaus wahrscheinlich, daß der Anarchismus aufgrund seiner Heterogenität und seiner stetigen Möglichkeit der Variation den meisten TheoretikerInnen der Postmoderne näher stehen dürfte als irgendeine andere politische Ideologie.
Die Brücke zwischen Anarchismus und Postmoderne zu schlagen, das versucht Jens Kastner in seiner Dissertation „Politik und Postmoderne“ am Beispiel Zygmunt Baumanns in einer Fleißarbeit von 450 Seiten. Und der Versuch kann als gelungen gewertet werden, denn, anders als so oft üblich, macht Kastner nicht den Fehler, Anarchismus und Postmoderne hintereinander vorzustellen und den Rest den RezipientInnen seines Buches zu überlassen – und er bemüht sich erst recht nicht krampfhaft, der Postmoderne den Stempel des Anarchismus aufzudrücken.
Vielmehr untersucht Kastner gemeinsame Grundannahmen und Felder (notwendiger) anarchistischer Debatten und postmoderner Wissenschaft, wie etwa der Aufarbeitung des Holocaust durch Zygmunt Baumann (in „Dialektik der Ordnung“) oder den „Identitätspolitiken“ des Feminismus (hier wäre Judith Butler zu nennen) und Ethnozentrismus (Stuart Hall) – oftmals Sachgebiete, mit denen sich der Anarchismus nur peripher beschäftigt, was den AnarchistInnen heutiger Zeit vorzuwerfen ist, und in denen er aus der postmodernen Theorie viel gewinnen könnte.
Ein weiterer Augenmerk liegt bei Kastner auf dem Aufstand der Zapatistas in Chiapas, dem ersten „postmodernen Aufstand“ nach dem „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama, neoliberaler „Postmodernist“). Die Weigerung der Zapatistas, politische Macht erobern zu wollen, die Adaption indigener Lebensweisen in ein revolutionäres Konzept, die Tatsache, daß es hier nicht um einen Aufstand für einen unabhängigen Nationalstaat geht, die Art und Weise des Kampfes mit der Nutzung der neuen Medien und dem (ästhetischen) „Wort als Waffe“ – das alles macht den Zapatismus für AnarchistInnen interessant und zu einem potentiellen Beschäftigungsfeld für postmoderne TheoretikerInnen.
Kastners Auseinandersetzung mit Zygmunt Baumann unter libertären Vorzeichen kann nur ein Einstieg sein für die „postmodernen AnarchistInnen der Zukunft“, weitere Analysen anderer postmoderner TheoretikerInnen und Theorien bleiben unerläßlich. Aber hier hat einer den nötigen Anfang gemacht, und es bleibt zu hoffen, daß dieses Beispiel Schule macht.
Lobend zu erwähnen ist, daß diese Arbeit für eine Dissertation erstaunlich lesbar geschrieben ist: Bei dem oftmals wissenschaftlich schwierigen – und manchmal diffusem – Stoff, der ein mehrmaliges Lesen erfordert, bleibt schon beim ersten Mal die Motivation, dies ein weiteres Mal zu tun: Eindeutig ist der Sprachästhet herauslesbar aus der Wissenschaft.
Und noch kurz zum einzigen Nachteil des Buches: Der Preis, der einem bei wissenschaftlichen Arbeiten so oft das Vergnügen einschränkt…
Jens Kastner: Politik und Postmoderne. Libertäre Aspekte in der Soziologie Zygmunt Baumanns, Unrast-Verlag, Münster 2000, ca. 450 Seiten, ca. 68,- DM