Die jüngeren Forschungen und Veröffentlichungen zu Philosophie und Praxis Gustav Landauers reissen nicht ab, und das ist gut so. Gustav Landauer muss mit Sicherheit zu den wichtigsten deutschsprachigen AnarchistInnen des zwanzigsten Jahrhunderts gezählt werden. Dass es vorläufig bei Gustav Landauer noch immer Neues zu entdecken gibt, beweist die nun vorliegende hervorragende und detailgenaue Studie von Thorsten Hinz zur Rezeption des mittelalterlichen Mystikers Meister Eckhart (1260-1328) bei Landauer.
Hinz‘ Studie geht weit über den engeren Bezugsrahmen des Themas hinaus und bietet eine Gesamtübersicht zu Landauers philosophischer und politischer Entwicklung von seiner Lebenskrise infolge zweier Gefängnisaufenthalte in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Erscheinen eines seiner wichtigsten Werke, „Revolution“, im Jahre 1907. Dazwischen liegt die Übersetzung der Schriften von Meister Eckhart vom Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche (1903), die erste Eckhart-Übersetzung überhaupt. Sie und die Landauer’sche Eckhart-Interpretation sind leider bis heute infolge der dominanten nationalistischen Eckhart-Vereinnahmung in Vergessenheit geraten. Landauers Verhältnis zu Eckhart wurde von der Forschung bisher ebenfalls weit unterbewertet. Nach Thorsten Hinz‘ Studie wird das nicht mehr so ohne weiteres möglich sein.
Eine der vielen Stärken dieser Studie ist die Parallelisierung von Landauers Lebensweg mit der Interessensverschiebung und Entwicklung seiner Philosophie und seiner Schriften. So hat sich Landauers frühe „Sturm und Drang“-Phase infolge seiner Beschäftigung mit Nietzsche unmittelbar in seinem frühen Roman „Der Todesprediger“ (1893) niedergeschlagen. Landauer teilt zunächst Nietzsches Religionskritik, aus der er dann aber im Gegensatz zu Nietzsche wiederum einen quasi-religiösen Ausweg sucht, den er schliesslich in der nach innen gerichteten Suche nach Lebenssinn bei Meister Eckhart findet.
Die Rezeption Eckharts schlägt sich bei Landauer am deutlichsten in seinem Vortrag „Durch Absonderung zur Gemeinschaft“ nieder, den Landauer am 18.6.1900 vor der Kommune „Die Neue Gemeinschaft“ in Berlin- Friedrichshagen gehalten hat und der später das Fundament seines Buches „Skepsis und Mystik“ ausmachte, das 1903 veröffentlicht wurde. Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff der „Abgeschiedenheit“ bei Eckhart, der bei Landauer zur notwendigen „Absonderung“ wird, zu der freie Geister in der Neuzeit aufgrund der Sinnlosigkeit und des Ekels finden, die sie von den Gepflogenheiten der herrschenden Gesellschaft abstossen, wozu unter anderem auch Fortschrittsmythos und Industrialisierung zählen. Bei Eckhart findet Landauer eine Art In-Sich-Gehen dieser Abgeschiedenen, Abgesonderten, in Distanz zur Gesellschaft und im radikalen Dissens mit ihr Lebenden. Gleichzeitig bedeutet dieses In-Sich-Gehen auch ein In-Sich-Ruhen, eine Selbstvergewisserung des Lebenssinns, der in der äußeren Welt verloren ging. Dieser Lebenssinn, das Anarchist-Sein im Sinne Landauers, gibt eine innere Ruhe, aber auch eine Lebendigkeit und Kraft, die schließlich nach außen strahlt und andere Menschen, die sich dem öffnen können, anrühren oder gar begeistern kann. Auf diese Weise finden sich die „werdenden Menschen“, die neue Gemeinschaft.
Meister Eckhart steht bei Landauer für diese im Innern sich vollziehende Sinnfindung und damit für eine antiinstitutionelle, anarchistische Mystik. Mit dieser Konzeption bewegte sich Landauer damals am Rande auch des anarchistischen Mainstreams. Es ist eine Mystik auch insofern, als Sprache – in Landauers Verständnis von Fritz Mauthners inzwischen schon wieder überholter Sprachkritik – nicht in der Lage ist, diese Sinnfindung rational und abstrakt auszudrücken. Profan gesagt bedeutet das meines Erachtens einfach, dass „AnarchistIn-Sein“ nie nur ein rationales Bekenntnis sein kann, sondern zuallererst gefühlt, erlebt und schliesslich gelebt werden muss. In Landauers Worten: „Es kommt keine Freiheit, wenn man sich nicht die Freiheit und die eigene Facon selber herausnimmt, es kommt nur die Anarchie der Zukunft, wenn die Menschen der Gegenwart Anarchisten sind, nicht nur Anhänger des Anarchismus.“
Nach Thorsten Hinz hat Gustav Landauer in seiner Interpretation den Meister Eckhart zu sehr radikalisiert und dessen Tendenz zum Reformismus auch innerhalb der Kirche nicht so recht wahrhaben wollen. In „Revolution“ hat Landauer nach Hinz den Gemeinschaftsgeist des Mittelalters zu sehr als prägend für die gesamte mittelalterliche Zeit interpretiert. Der utopisch-restaurative Zug in Landauers Schrift „Revolution“, die Befürwortung einer Art Wiederherstellung des mittelalterlichen Gemeinschaftsgeistes in der nachrevolutionären Zukunft, basiert daher zweifellos auf einer Idyllisierung des Mittelalters. Doch der Autor ist sich mit dem Rezensenten darin einig, dass diese unbestreitbaren Fehler Landauers sympathisch sind und der erfrischenden Begeisterung keinen Abbruch tun, die sich immer wieder einstellt, wenn wir aus den berauschenden Geistesströmen Landauers aufgetaucht und ans heutige libertäre Ufer geschwommen sind.
Thorsten Hinz: Mystik und Anarchie. Meister Eckhart und seine Bedeutung im Denken Gustav Landauers, Karin Kramer Verlag, Berlin 2000, ca. 300 S., ca. 39 DM.