Bis heute ist die Forschung über die von europäischen ArbeiterInnen und Intellektuellen 1864 in London gegründete Erste Internationale (= Internationale Arbeiter-Assoziation, häufig als „IAA“ abgekürzt) lückenhaft: „Unterhalb“ der prominenten Namen „Marx“ und „Bakunin“ sind weitere beteiligte AkteurInnen und Gruppierungen kaum bekannt. Angesichts einer auch „linken“ patriarchalen Geschichtsdeutung verwundert es zudem wenig, dass nach dem Frauenanteil am Entstehungsprozess des ersten Dachverbandes der Arbeiterbewegung Europas gar nicht erst gefragt wurde. Gerade in der älteren marxistischen Lesart erscheint die IAA insgesamt als ein „Männerprojekt“, dominiert von einigen wenigen Leitfiguren. Aber auch die Frauen- und Frauenbewegungsforschung nähert sich nur zögernd Politikerinnen und Revolutionärinnen, die (aus heutiger Sicht!) nicht eindeutig feministisch auftraten bzw. sich mit patriarchalen Strukturen arrangierten.
Den vergessenen Mitbegründerinnen und -gestalterinnen der IAA hat die Frankfurter Politologin Antje Schrupp ihre 1999 erschienene Doktorarbeit gewidmet. „Nicht Marxistin und auch nicht Anarchistin“ – der programmatische Buchtitel signalisiert, dass sich Politikverständnisse nicht auf ein einziges ideologisches Bekenntnis reduzieren lassen. Erstmals für den deutschsprachigen Raum stellt Schrupp die Französinnen Virginie Barbet [Lebensdaten unbekannt] und André Léo (1824-1900), die Exilrussin Elisabeth Dmitrieff (1850-1918) und die Amerikanerin Victoria Woodhull (1838-1927) vor. Entlang ihrer politischen Porträts reflektiert die Autorin die Einflussmöglichkeiten von Frauen auf die sozialrevolutionäre Bewegung des 19. Jahrhunderts, die Geschlechterbilder in der IAA sowie die bisher vernachlässigten ideenpolitischen Entwürfe von Frauen. Hier wird (anti-) politisches Denken und Handeln nicht isoliert, sondern im sozialen Kontext betrachtet: Anschaulich beschreibt Schrupp die vielfältigen Netzwerke und Diskurszusammenhänge, in die Barbet, Dmitrieff, Léo und Woodhull aktiv eingebunden waren. Sie zeigt, dass von den „unteren“ IAA-Ebenen aus Frauen wie Männer die inhaltliche und organisatorische Ausrichtung der „Ersten Internationale“ maßgeblich mitgestalteten.
Für die anarchistische wie für die feministische Historik stellt Antje Schrupps Untersuchung eine „Pilotstudie“ dar: Ihr „Aufspüren“ unbekannter früher Verbindungen anarchistischer und feministischer Theorie- und Praxisformen lässt insgesamt ein weniger selektives und zugleich realistischeres Geschichtsbild über die Anfänge europäischer Revolutionsbewegungen entstehen. Auch die Forschungsmethode erscheint mir libertär: anstelle der Fortschreibung einer durchaus auch anarchistisch praktizierten „Geschichte der Großen“ die Recherche (anti-) politischer Netzwerke und Diskurse „unterhalb“ der dominant rezipierten Marx-Bakunin-Kontroverse. Antje Schrupps Buch überzeugt darüber hinaus durch gute Lesbarkeit; das biografische Verzeichnis im Anhang regt zu weiteren Forschungen an.
Antje Schrupp: Nicht Marxistin und auch nicht Anarchistin. Frauen in der Ersten Internationale, Königstein/Ts. (Ulrike Helmer Verlag) 1999, 336 S., DM 58,00.