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Pterodactylus

Roman über Leben und Widerstand der indischen Adivasis

| Johanna Hellkerns

Die 74-jährige feministische Schriftstellerin und Journalistin Mahasweta Devi hat sich ihr Leben lang mit den Lebensbedingungen der Armen in Indien auseinandergesetzt. Insbesondere die Lebensformen der indischen sogenannten ‚Stammesgesellschaften‘, der Adivasis, stehen im Zentrum ihres journalistischen Interesses und Engagements. Mahasweta Devi genießt in Indien hohes Ansehen und erhielt für ihre Werke mehrfach bedeutende Auszeichnungen und Literaturpreise. „Pterodactylus“, bereits 1987 in Calcutta im Original veröffentlicht, ist überhaupt ihr erster in deutscher Sprache veröffentlichter Roman.

Der Roman versinnbildlicht, wie sie selbst sagt, „die Quintessenz ihrer Erfahrung mit den Stämmen. (…) Die Geschichte des Pterodactylus will aufzeigen, was der gesamten Welt der Stammesvölker in Indien angetan wurde.“ (S. 192) Jeder dieser Stämme ist gleichermaßen ein Kontinent. „Doch wir haben nie versucht, sie zu verstehen, sie zu achten. Das gilt für jeden einzelnen Stammesangehörigen. Und wir haben sie vernichtet. (…) Alles was im Namen von ‚Entwicklung‘ zu den Stämmen gekommen ist, war ihr Verderben.“ (S. 192)

Was verbirgt sich hinter dem Namen „Pterodactylus“? Der Pterodactylus ist ein vermutlich drachenartiges Ur-Reptil, das nicht größer war als eine Krähe. Er ist eine von der Autorin eingeführte Symbolfigur, der Bote eines vergangenen Zeitalters, dem Mesozoikum (welches vor etwa 225 Mio. Jahren begann und vor 70 Mio. Jahren endete). Mahasweta Devi selbst charakterisiert die Hauptaussage des Romans folgendermaßen: „Wenn der aus dem Mesozoikum stammende Pterodactylus heute erschiene, könnten die Menschen ihn nicht verstehen. Der Pterodactylus müßte sterben, weil er sich in der Welt des Kaenozoikums (begann vor 70 Mio. Jahren, d.V.) nicht zurechtfinden würde. Die Vergangenheit und die Gegenwart zu vereinbaren ist nicht möglich. Ich wollte in diesem Roman die besonderen Probleme der Adivasis verdeutlichen. Deshalb erschien mir der mythische Ein- und Austritt des Pterodactylus notwendig.“ (S. 173f.) Die LeserInnen werden verstehen, dass es ihn nicht wirklich gibt. „Auch gibt es in Madhya Pradesh keinen Block namens Pirtha. Dennoch haben sich solche Ereignisse, wie ich sie beschrieben habe, in Wahrheit wirklich zugetragen.“ (ebenda)

Pirtha ist ein verborgenes Dorf im Bundesstaat Madhya Pradesh, in Zentralindien gelegen. Dort lebt eine Stammesgruppierung der Adivasis. Seit Monaten herrschen Dürre und Trockenheit. Die Menschen leiden unter einer Hungerkatastrophe. Zusätzlich sterben viele an Vergiftung aufgrund verdorbener Nahrungsmittel. Schuld an Hunger und Nahrungsmangel ist nicht die lange ausbleibende Regenzeit, sondern sind eindeutig die Herrschaftsstrukturen im Verwaltungsdistrikt sowie die ökonomische Ungerechtigkeit. (S. 45-59 u. 155-168) Die meisten der Stammesvölker leben in Schuldknechtschaft. Bestenfalls können sie als SchuldsklavInnen oder billige TagelöhnerInnen auf den Feldern der Großgrundbesitzer arbeiten.

Die Adivasis sind land- und besitzlos. Ihr Land wurde ihnen stückweise entrissen – zumeist aufgrund von betrügerischen Kaufverträgen. Eine weitere Ursache des Landverlustes sind die Zwangsumsiedlungen aufgrund von staatlichen Entwicklungsprogrammen. Die Armut treibt die Menschen in extreme Zustände von Apathie, Verzweiflung und Resignation. Viele Eltern verkaufen ihre eigenen Kinder, insbesondere die Mädchen, um sich dadurch ein vorübergehendes Minimum des Lebensunterhaltes zu erwirken. (S. 158) Mahasweta Devi schreibt dazu: „Von der Klassenstellung her sind die Adivasis sicher in einer ähnlich hilflosen Situation gefangen, genauso arm und landlos, wie andere Kastengruppen und die Unberührbaren auch. Aber ein besonderes Problem der Adivasis ist, dass ihre Sprachen keine Schrift besitzen. (…) Unter dem Druck der anderen Menschen mußten sie wiederholt ihre Gebiete verlassen.“ (S. 171) Das hat dazu geführt, dass große Teile ihrer wertvollen Kulturformen verloren gegangen sind. Denn die Adivasis sind TrägerInnen einer uralten Kultur, welche „Grundsubstanz und Bodensatz der indischen Zivilisation“ ist. (S. 171) Aufgrund der Tatsache, dass ihre gesellschaftlichen und kulturellen Traditionen ausschließlich mündlich überliefert werden, ist es für die Adivasis besonders schwerwiegend, wenn sie auseinander getrieben und umgesiedelt werden, beispielsweise in Gebiete der sogenannten ‚Grünen Revolution‘ (staatliche Entwicklungsprogramme mit genmanipuliertem Saatgut).

Die Adivasis sind jedoch zugleich TrägerInnen einer Widerstandskultur. Seit Beginn der britischen Herrschaft in Indien gab es zahlreiche Aufstände der Adivasi gegen die britische Kolonialmacht. (S. 174) Aber sie werden nicht als Teil der Unabhängigkeitsbewegung akzeptiert. Bis heute werden die Adivasis gesetzlich daran gehindert, ihre eigene Schriftsprache entwickeln zu dürfen. Bestenfalls dürfen sie die Schrift der jeweiligen Staatssprache erlernen.

„In Singhbum haben die Ho-Adivasis während eines Aufstandes die Gebiete besetzt, wo sich einst Gräber und Grabsteine ihre Ahnen befunden hatten und der Wald abgeholzt war. Wenn die Adivasis die Gräber verlieren, die ihnen heilig sind, dann sind sie sehr hilflos.“ (S. 175)

In einer derartig desolaten Situation befindet sich die in Pirtha lebende Volksgruppe. Bezeichnenderweise taucht in diesem bedrohlichen Moment der bevorstehenden Zwangsumsiedlung das Ur-Reptil, der Pterodactylus, auf. Die Adivasis in Pirtha erblicken in der Erscheinung des Tieres „die Seele ihrer Ahnen“. Intuitiv verstehen sie die Botschaft dieses völlig unaggressiven, geräuschlosen Tieres. Zugleich ist das Ur-Reptil für sie eine Symbolgestalt, welche für sie Ermutigung und Bestätigung verkörpert, sich weiterhin an den eigenen tradierten Kulturformen zu orientieren und Zusammenhalt zu suchen, damit die „Seele ihrer Ahnen“ nicht erlischt. Gleichwie es den widerständigen Adivasis um die autonome Tradierung ihrer spirituellen Ausdrucksformen geht, so ist es für sie ebenfalls erstrebenswert, die Formen der Harmonie ihres einst ausgeprägten Gemeinschaftslebens wieder herzustellen: ihre Art der Agrarkultur und ihre spezifischen kollektiven Produktionsformen. (S. 46f.)

Für die Menschen der höheren Kasten, die BeamtInnen und die SozialarbeiterInnen im Verwaltungsdistrikt von Pirtha ist die Erscheinung des Ur-Reptils unheimlich und völlig unverständlich. Das Tier symbolisiert für sie eher die Undurchschaubarkeit des Dschungels, das undurchdringliche Dickicht der Wälder, und die Zähheit der UreinwohnerInnen. Für die in Pirtha noch lebenden Adivasis versinnbildlicht der Pterodactylus gewissermaßen die Quintessenz ihrer Klage: „Was wollen sie einem Volk im Austausch für das verschwundene Land, für die Häuser, für die Felder, für die Begräbnisstätten geben?“ (S. 46) Die Adivasis fragen, wie sie ihre Würde vor weiterer Verletzung schützen oder sie überhaupt erst wieder erlangen können. Sie fragen, wie sie Freiheit von der Sklaverei erreichen können, ohne dass ihre originären Lebens- und Kulturformen ausgemerzt werden. Dieser im Mythos versinnbildlichte Protest ist letztendlich ein herausforderndes, brennendes Plädoyer an uns, als die TrägerInnen und AgentInnen der Barbarei des Fortschritts und der modernen Zivilisation. Auf welchen Wegen können „die zerstörten Kontinente der Stammesgesellschaften“ wieder aufgebaut werden, ohne dass die dort lebenden Menschen die Zerstörung ihrer Ressourcen, ihrer originären Lebensformen sowie ihrer sozialen Identität erleiden müssen?

Mahasweta Devi: Pterodactylus. Roman, Bonner Siva Series/Axel Wagner, Bonn 2000, 192 S., 22,80 DM