Der 62jährige Autor und Künstler Horst Werder veröffentlichte Erzählungen unter anderem im bekannten „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ des Fischer-Taschenbuchverlages. Mit Werders Gedichten aus den Jahren 1997 bis 2000 wird der „schönen“ Literatur jetzt allerdings auch auf sprachexperimentelle Weise eine Absage erteilt. Entstanden ist eine radikale Lyrik, wie schon der Titel „Sprengstoff fegen“ ankündigt, und als wollte der Titel gängigen Vorurteilen über AnarchistInnen entsprechen, erschienen die Texte ausgerechnet in einem anarchistischen Kleinverlag.
Radikal ist diese Lyrik allerdings nicht im direkten politischen Sinne, sondern im Sinne einer völligen Abkehr von alltäglichen Lese- und damit auch Konsumgewohnheiten: Grammatik und Alltagssprache werden auf eine Weise auf den Kopf gestellt, die ihresgleichen sucht. Eine eindeutige Satzstruktur wird mensch wohl selten entdecken, und wer Wohlfühllyrik bevorzugt, wird in diesem Gedichtband nichts passendes finden. Stattdessen stoßen die Texte etwas gegen den Verstand, und irgendwie kommt dann die Ahnung, daß hier literarisch ein ganz neues Tor aufgemacht wird, denn Werder gelingt es mit sprachlichen Mitteln, die sich auf den ersten Blick der Rationalität entziehen, tiefgründiges um so vehementer anzudeuten. In seinem Gedicht „Asyl“ beispielsweise kommt die brutale Lebensangst von hier lebenden Flüchtlingen vor der hiesigen Gesellschaft zum Ausdruck
(Auszug):
„Asyl …. die
Angst bedeutet hochsteigen
die Wohnung allein
zur ängstlichen Angst
die Treppen haben Augen
die Angst deiner Angst (…)
allein Eingeweide
die hochsteigen sogar
die Abendkälte
die Angst Nachbarin
pscht haben Zehenspitzen
vor nur auf Sony
umherzugehen Angst dem
Haus in der Wohnung haben
spielen Angst die Angst
Angst spielen vor dem Haus Angst
haben Angst haben
möchte Angst in
der Eingeweide durchdringen
die Wohnung sogar (…)“
Immer wieder taucht in Werders Texten das Wort „Sony“ auf, offenbar ein Simulakrum, das „Kapitalismus“ ausdrückt oder auch „Allmacht/ Herrschaft“. Hier könnte vielleicht auch „Dr. Oetker“ oder ähnliches stehen. In dem Gedicht „Asyl“ wird durch diesen Einschub die Inhumanität der Gesellschaft in Beziehung gesetzt zu ihrer bürgerlichen Struktur (z.B. als Konsumwelt). Horst Werders Gedichte sind offengründig und wohl kaum bis ins letzte Detail erklärbar. Dagegen würden sich die Texte sträuben. Seine Gedichte sind darüber hinaus vielseitig. Hier ein Ausschnitt aus seiner Variante des „Vater Unser“ – Gebets, tituliert mit „Frosch Vater unser“:
„Versuchung Amen
sondern in Ewigkeit
erlöse Herrlichkeit
und die Kraft die von
dem und dein ist das Reich denn
Übel dem Übel
ist von uns Amen
Frosch das erlöse sondern
Reich Versuchung Teich
und des Wassers Frosch
die das Geräusch springt hinein
ein Frosch Teich Frosch Kraft
alte Herrlichkeit
Ewigkeit der Teich ….
Ewigkeit Amen
in unser nicht uns
täglich führe Amen und
Brot Frosch vergeben
gib Schuldigern Teich
wie heute wir unsern Frosch
Teich vergib Schulden
uns unsere uns
und unsere vergib Frosch
Schulden heute uns
gib Brot täglich wir
Schuldigern unser Wassers
Teich des vergeben
des Geräusch führe
uns das hinein springt ein Frosch
der alte Teich nicht
im Himmel unser
Vater Frosch wie auf Erden
geschehe Teich in
dem dein Wille komme Reich
dein Himmel geheiligt Frosch (…)“
Werder selbst beschreibt seine Texte als „anarchisch außerhalb sprachlicher Logik aus Vorgefundenem – Vorzufindendem gefügt. Kein Sichtbarmachen des Unsichtbaren, sondern ein Sichtbarmachen des Sichtbaren. Alles bloß hinstellend, nichts folgernd und erklärend, weil alles offen liegt“. Und was mir als LeserIn hier so „offen liegt“, ist einen weiteren Anriss wert. Mit „Sprengstoff fegen“ ist eine Poetry entstanden, die in kein Interpretationsmuster passt. Vielleicht wesentlich weniger noch als bei den oben angeführten Texten geht es bei Werders Gedichten darum, irgendeinen fertigen Inhalt zu verstehen, sondern geradezu um eine Neuorientierung des Blicks, um ein Hineinlesen und Hineingeben eines denkbaren Inhalts. Die meisten Texte bieten wenig an, ganz im Gegenteil: sie verlangen den LeserInnen etwas ab, nämlich einen kreativen Blick, der Sätze vervollständigt und Bilder ergänzt, also subjektive Vorstellungen hineinprojiziert. So können die Texte Werders im doppelten Sinne eine Begeisterung für literarische Freiheit auslösen: einmal aufgrund ihrer sprachspielerischen Ausrichtung und andererseits aufgrund ihrer Offenheit für subjektive Sinnprojektionen.
Horst Werder, "Sprengstoff fegen". Explosive Poetry; Bielefeld 2000, mit Zeichnungen des Autors, 48 S., Klammerbindung, bestellbar bei Edition Blackbox, c/o Café Parlando, Libertäre Leihbücherei, Wittekindstr. 42, 33615 Bielefeld; Preis: 10 DM