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„Unpolitische Erinnerungen“ von Mühsam

| Raimund Samson

1927-29 publizierte die Vossische Zeitung in einer Artikel-Serie Mühsams Erinnerungen an die Künst-lerInnen-Szene in Berlin, München und Wien. Es war eine Auftragsarbeit, die dem ständig unter Geldmangel leidenden Dichter anderthalb Jahre ein regelmäßiges Einkommen bescherte. Das bürgerliche Blatt erwartete keine politisierenden Beiträge des Anarchisten, sondern vor allem Anekdoten aus jener legendären Bohème, zu deren Protagonisten und aktivsten Mitgliedern Mühsam zählte. Der Autor, einst „Prototyp eines Caféhausliteraten“, hielt sich an die Vorgabe, ließ es sich jedoch nicht nehmen, immer wieder kritische und die Zeitumstände reflektierende Überlegungen einfließen zu lassen. „Weder Armut noch Unstetigkeit ist entscheidendes Kriterium für die Boheme, sondern Freiheitsdrang, der den Mut findet, gesellschaftliche Bindungen zu durchbrechen und sich die Lebensformen zu schaffen, die der eigenen inneren Entwicklung die geringsten Widerstände entgegensetzen“ heißt es in einem Kapitel. Seine Schilderung der von Genie- und Außenseitertum, sozialen Ideen und schöpferischer Exzentrik geprägten Künstler-Kreise setzt 1900 ein, als der zweiundzwanzigjährige Mühsam erste literarische Versuche und (kleinere) Publikationen bereits hinter sich hatte. In den Erinnerungen reiht er Anekdoten aneinander, vermischt mit nachdenklich stimmenden Einlassungen; mitunter ergeben sich Brüche und Verschiebungen in der Chronologie. Mühsam hat seine die Zeit bis 1919 umfassenden und als eine Art Fortsetzungsroman konzipierten Erinnerungen so zu Papier gebracht, daß die einzelnen Kapitel in sich abgeschlossen wirken. Seine Schilderungen sind historisch interessant, wobei bisweilen die Gefahr besteht, daß heutige LeserInnen die Übersicht verlieren vor der Menge der Namen, die inzwischen größtenteils vergessen sind. Das Buch ist eine Fundgrube auch für LeserInnen, die kulturhistorisch motiviert sind. Mühsam schreibt vergnüglich und unterhaltsam. Auch da, wo er kritisch wird, erstarrt er nicht in Rechthaberei. Er hatte vor Niemandem übertriebenen Respekt, auch nicht vor Karl Kraus in Wien. Den gefürchteten wie bewunderten Dichter und scharfzüngigen Polemiker hatte er bei Gastspielen als Kabarettist in der Donaumetropole kennengelernt, und bisweilen in seiner Zeitschrift „Die Fackel“ publiziert. Der Personenkult um den Mann war ihm jedoch stets suspekt gewesen. Peter Altenburg, dem er eine ausführlichere Beschreibung widmet und der zum weiteren Kreis um Kraus gehörte, hat er höher eingeschätzt. Hochinteressant finde ich auch Mühsams Porträt von John Henry Mackay, dem libertären Dichter und Verehrer Max Stirners. Überaus sarkastisch fallen seine Bemerkungen über Rudolf Steiner aus, dessen „Priesterschaft … noch auf recht weltlichem Grunde stand. Die literarischen Diskussionen dirigierte er mit viel Geschick, provozierte scharfe Polemiken …beendete … die erregten Debatten mit einem eigenen ausgleichenden Sermon, hinter dessen glatter … Beredsamkeit ich immer einen falschen Unterton glaubte mitschwingen zu hören.“ An anderer Stelle singt der antiklerikale Mühsam in seinen Erinnerungen ein Loblied auf Mönche, in deren Kloster er bei einem Marsch durch die Alpen großzügig Aufnahme gefunden hatte. Distanz spürt man bei der Schilderung des „Ästhetenzirkels“ um den berühmten Stefan George. In München lernte er auch Ringelnatz kennen, ebenso den Freud-Schüler Otto Gross, „dem es wohl zu danken ist, daß die Psychoanalyse aus der einseitigen Betrachtung des Lebens von der sexualen Seite herausfand zur Erkenntnis der sozialen Bedingtheit des seelischen Erlebens.“ Ich denke, daß Freud hiermit jedoch nicht widerlegt ist: Der „sozialen Bedingtheit des seelischen Erlebens“ hätte der Neurosenforscher kaum widersprochen, aber wohl darauf hingewiesen, daß das Soziale durch (tabuisierte) sexuelle Vorstellungen mitgeprägt ist.

Der kommunikative und sozial engagierte Mühsam hat unzählige Menschen: KünstlerInnen, Roma und Sinti, „Genieanwärter“, Religionsstifter, tragische Gestalten usw. kennengelernt. Mit vielen war er freundschaftlich verbunden, etwa mit Frank Wedekind, Franziska Gräfin zu Reventlov und Paul Scheerbart, diesem Schriftsteller, Meister des Grotesken und Künstler-Original. Er hat versucht, FreundInnen wie GegnerInnen gerecht zu werden, ohne seine Haltung zu verleugnen. Vielen hat er ein liebevolles Denkmal gesetzt, etwa Peter Hille und Scheerbart. Ob die „Neue Gemeinschaft“ der Brüder Julius und Heinrich Hart, der Kreis um „Die Kommenden“ oder die Friedrichshagener Szene und das „Café des Westens“ in Berlin, die Schwabinger Boheme mit dem „Café Stefanie“, das „Café du Dome“ in Paris, der Hille-Kreis in Berlin, das Kabarett „Elf Scharfrichter“ usw.: Es gab Ansätze in Fülle, „aus dumpfen Proletarierkreisen, aus bigottischer Kleinbürgeratmosphäre, aus behütetem Bürgerwohlstand oder aus dem Museumsstaub adliger Herrenschlösser zur Freiheit der Künste und zur Geselligkeit auf sich selbst gestellter Menschen“ zu flüchten. Und eine Gegenwelt aufzubauen.

Abgerundet werden die Unpolitischen Erinnerungen durch einen Essay Hubert van den Bergs, der Mühsams Erzählungen durch Hintergrund-Informationen abrundet. Der Autor hat, so scheint es, ausgiebig recherchiert. Er ergänzt die Erinnerungen durch zusätzliche Informationen aus anderen Quellen, die ein genaueres Verständnis ermöglichen. Mühsam war kein Draufgänger, sondern ein eher schüchterner, mit übergroßem Herzen ausgestatteter Kämpfer und Dichter.

Bescheiden läßt er seine Schilderungen, die weder Anspruch auf Objektivität noch Endgültigkeit erheben, ausklingen mit einem Blick nach vorn: „Ich schöpfe aus meinen unpolitischen Erinnerungen, und ich finde in ihnen Freude und Kampf und die Unbefangenheit zu leben, wie es lebendigen Geistern geziemt. War ich früher den wenigen verbündet, die der Menschheit vorausliefen zu einer frohen Welt, so will ich auch den vielen verbündet sein, die die Not lehrt, daß eine frohe Welt erkämpft werden muß, eine Welt, in der wieder Freude und Lachen Raum hat, aber nicht als Vorrecht rebellierender Außenseiter, sondern als Inhalt des Lebens und der befreiten Menschheit“.

Erich Mühsam: Unpolitische Erinnerungen, Edition Nautilus, Hamburg, September 2000, 240 S., 36 DM