(GWR-MS) In GWR 251 analysierte Rahel das serbische Oppositionsbündnis Otpor!. Rahel macht zur Zeit einen mehrmonatigen Freiwilligendienst bei einer Frauenrechtsgruppe in Belgrad. Drei Wochen vor den Wahlen in Jugoslawien hat sie gemeinsam mit Markus ein Interview mit zwei Anarchisten in Belgrad geführt:
Da wir kein Aufnahmegerät hatten, fasse ich die Ausführungen der beiden in freier Übersetzung zusammen. Dabei habe ich Aspekte, die mir aufgrund meiner Notizen in der Überarbeitung nicht mehr deutlich waren, gekürzt oder ausgelassen, wichtig war es mir, keine falschen Widergaben (i.S. von nicht Gesagtem) zu machen. Das beinhaltet, das einzelne Informationen nicht von uns überprüft wurden, sondern allein die Wahrnehmung von Andrej und Rata dargestellt ist.
Belgrade Libertarian Group
Unsere Interviewpartner Rata und Andrej, beide Mitte zwanzig, sind in der lokalen Gruppe „Belgrade Libertarian Group“ (BIG) aktiv, deren Schwerpunkt eindeutig in der theoretischen Arbeit liegt. Sie lesen und diskutieren gemeinsam anarchistische Literatur, wobei die einzelnen Themen von den Interessen der Mitglieder der Gruppe bestimmt werden, so bspw. Feminismus oder Anarchosyndikalismus. Zur Zeit beginnen sie damit, Klassiker wie Kropotkin, Tolstoi, Bakunin, Camus oder Gurine erstmals ins Serbische zu übersetzen. Letzten Monat ist in Serbien Andrejs Übersetzung von „Necessary illusions – thought control in democratic socities“ von Noam Chomsky erschienen. Die Gruppe besteht aktuell aus 10 bis 15 Leuten. Sie hat sich 1967 während der Studierendenunruhen informell gegründet und war bis in die 90er Jahre als Untergrundgruppe aktiv. Heute noch sind in der Gruppe auch Aktive aus den 60er Jahren dabei. Die BIG baute in Belgrad ein Zentrum für libertäre Studien auf, hauptsächlich um unter dem wissenschaftlichen Deckmantel anarchistische Aktivitäten/Aktionen durchzuführen. Sie betreiben dort eine kleine Bibliothek. Während des letzten Jahrzehnts lag ihr Aktionsschwerpunkt in der Teilnahme an Demonstrationen und Protesten gegen die Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Daneben gab es in der Vergangenheit Aktionen z.B. zu Mumia Abu Jamal oder während der 1.Mai-Demo dieses Jahr, ohne dass jedes Mal das anarchistische Logo hochgehalten würde. Aus ihrer theoretischen Auseinandersetzung entstehen immer wieder Vorlesungen oder workshops, die auch von Außenstehenden besucht werden. Die Atmosphäre in der BIG bezeichnen Rata und Andrej als sehr offen und diskussionsfreudig, das heißt dass unterschiedliche anarchistische Strömungen wie Anarchosyndikalismus, Anarchoindividualismus oder AnarchaFeminismus dort zusammentreffen.
Vernetzung
Anarchistische Gruppen haben in Jugoslawien nicht so eine lange Tradition wie in anderen Ländern, 1910 haben sich die ersten AnarchistInnen organisiert. Von den 60er bis 80er Jahren war anarchistische Arbeit verboten, und es gab nur AktivistInnen im Untergrund. Seit Mitte der 90er existieren wieder verschiedene Gruppen. Neben der BIG trifft sich in Belgrad eine weitere anarchistische Gruppe, Group for Libertarian initiatives Belgrade oder GLIB, was im serbischem Schlamm bedeutet. Sie besteht seit März 1998, engagiert sind dort vorwiegend männliche Studierende Anfang zwanzig, die sich stärker als die BIG an Aktionen wie an ihrer gemeinsamen Musikkultur orientieren. Des weiteren gibt es eine Gruppe in Kraljevo.
Trotz der Kriege gab es durchgehend Kontakt zwischen AnarchistInnen aus den verschiedenen Republiken des ehemaligen Jugoslawiens, weil sie sich als InternationalistInnen verstehen. Hauptsächlich läuft dieser Austausch über eine e-mailing- Liste und private Kontakte. 1990 allerdings fand in Italien ein Seminar von AnarchistInnen aus den verschiedenen Teilen Jugoslawiens statt, welches damals an den Nationalismen verschiedener Personen scheiterte. Im Mai diesen Jahres trafen sich in der Republika Srbska vorwiegend junge AnarchistInnen (u.a. viele von GLIB), d.h. Menschen, die 1990 nicht beteiligt waren, aus Ex-Jugoslawien zur Koordinierung weiterer Zusammenarbeit und Vernetzung. Im Endeffekt stand erst einmal der persönliche Kontakt und das Kennenlernen im Vordergrund, so dass ein Folgetreffen geplant ist.
In Belgrad selber ist die libertäre Graswurzelszene sehr schwach vernetzt, die BIG arbeitet mit einigen lokalen feministischen und ökologischen Gruppen zusammen, während sie mit politischen Gruppen wie „Women in Black“ oder „Helsinki Committee for Human Rights“ Schwierigkeiten haben. Women in Black werfen sie z.B. vor, während des Krieges in Bosnien-Herzegowina einseitig national bzw. religiös Stellung für bosnische Muslime eingenommen zu haben, indem sie Gespräche mit der bosnischen Regierung führten. KriegsgegnerInnen aber müssten gegen die Kriegsführung auf allen Seiten protestieren. Auch sei die Gruppe zu pro-amerikanisch, da sie Geld aus den USA bezieht.
Gegenüber Nichtregierungsorganisationen (NGOs; in Serbien bezeichnet sich alles als NGO, von der autonomen Frauengruppe bis zu OXFAM, einer großen brit. international tätigen Hilfsorganisation, d. Verf.) haben Rata und Andrej eine sehr kritische Einschätzung. Intern benutzen sie Begriffe wie GO-NGO (govermental NGO) und MO-NGO (money- NGO), um ihre Kritik zu verbildlichen. Besonders aggressiv verhält sich SOROS, eine amerikanische Stiftung, die mittels ihrer Zuwendungen versucht, den neoliberalen Freiheits- und Marktgedanken in Ländern Mittel- und Osteuropas zu fördern. Andrej bezeichnet solche Initiativen als gefährlicher für die weitere gesellschaftliche Entwicklung als die politischen Parteien.
Repression
Repression in Serbien bestand für Andrej und Rata lange Zeit eher in der Manipulation der Menschen als in offener Repression. Das hat sich jedoch in der letzten Zeit verändert, so dass jetzt wesentlich stärker offene Repression gegen politisch Andersdenkende, z. B. JournalistInnen oder Otpor!-AktivistInnen zu verzeichnen ist. Der Staat hat sich in den letzten Jahren von einem undemokratischen zu einem diktatorischem Staat gewandelt. Das führt Andrej darauf zurück, dass Milosevic mittlerweile nicht mehr genügend Unterstützung in der Bevölkerung hat (ob das an den verlorenen Kriegen, d.h. sehr nationalistischen Gründen, oder an der miesen und korrupten wirtschaftlichen Lage des Landes liegt, haben wir leider nicht angesprochen). Bisher gewann er alle Wahlen bis auf die Kommunalwahlen 1996, die er erst nach monatelangen Protesten der Bevölkerung (den täglichen Demonstrationen im Winter 1996/97) anerkannte, ohne dass nennenswert manipuliert werden musste.
Serbien ist ein Polizeistaat, doch sind die zivilen Rechte im Prinzip gewährleistet. Rata betont, dass die Polizei brutal sei und schnell körperliche Gewalt anwendet. Als schlimmer Höhepunkt gilt die Vergewaltigung eines Mannes durch Polizisten, der bei einer Demo im Winter 1997 eine Milosevic-Puppe trug. Es ist willkürlich, ob mensch beispielsweise wegen Tragen eines Otpor!-T-Shirts arrestiert wird oder nicht. Andrej stimmt darin überein, dass das Vorgehen der Polizei brutal sei, doch sei dies in anderen Ländern, beispielsweise in Deutschland auch so, Polizei gehe immer hart gegen ihre GegnerInnen vor, und in Serbien sei die Situation nicht so gewalttätig wie in verschiedenen Ländern Mittelamerikas, z.B. Nicaragua.
Repression wird nicht nur über Polizeigewalt ausgeübt. So liegt der Gesetzesvorschlag vor, dass zur Registrierung einer neuen NGO mindestens 100 Unterschriften notwendig sind. Dadurch wird vielen politischen Initiativen, aber z.B. auch Selbsthilfegruppen, die normalerweise wesentlich geringere Unterstützung haben, die Registrierung verwehrt.
Otpor!
Es besteht persönlicher Kontakt zwischen Otpor-AktivistInnen und AnarchistInnen, doch es gibt keine politische Zusammenarbeit. Otpor! wird als neoliberale und nationalistische Organisation beschrieben, die stark hierarchisch organisiert ist. „Otpor! veranlasst jeden ordentlicheN AnarchistIn dazu, dass es ihr/ihm aufstößt.“ Dann allerdings spezifiziert Rata, dass dies für die Führer der außerparlamentarischen Bewegung gilt, während bei den Mitgliedern alles anzutreffen ist, von AnarchistInnen bis hin zu NationalistInnen. So muss deutlich unterschieden werden zwischen der Bewegung in Belgrad und in der Provinz, bes. in Subotica gibt es eine progressive Gruppe. Viele sehen Otpor! als das kleinere Übel an und wollen irgendeine Veränderung, wobei es erst einmal egal ist, was für eine. Dabei wird dieser Bewegung die Kraft zugesprochen, wirklichen Einfluss auf politische Veränderungen in Serbien zu haben. Allerdings haben viele der Mitglieder wenig politisches Wissen, sind eigentlich eher unpolitische Menschen.
Von Rata und Andrej wird die gesellschaftliche Energie gewürdigt, die Otpor! entfalten konnte, sie hat sich in den letzten Monaten von einer Studierenden- zu einer Bewegung der Bevölkerung ausgeweitet. Dieses Mobilisierungspotential, ihre Struktur sowie ihr Geld, (große Unterstützung bekommt Otpor! indirekt vom CIA aus der Schweiz,) machen sie zu einer einflussreichen Bewegung.
Wahlen am 24. September und Nationalismus
Auf die Wahlen angesprochen, unterscheiden sich die Antworten der beiden Interviewpartner sehr stark, so dass ich sie trenne. Es ist auch hier keine wörtliche Wiedergabe, aber sehr eng an den wörtlichen Antworten.
Andrej: Deutschland ist eine Sache, Serbien heute ist eine andere Sache. Ich gehe wählen und werde für Kostunica, den Kandidaten des Oppositionsbündnisses, stimmen. Dieses ist das erste Mal im Leben, dass ich wählen werde. Warum? Ich bin überzeugt, Milosevic wird die Macht in keinem Fall abgeben, so dass es wichtig ist, dass Kostunica möglichst hoch gewinnt, denn nur dann werden die Menschen auf die Strasse gehen und protestieren. Sollte es dazu kommen, dass Milosevic die Macht doch abgibt, dann wird es in jedem Fall mehr Freiraum für politische Arbeit geben und wenn es nur dazu führt, dass wir unser Magazin mit unseren Veranstaltungen und Diskussionen veröffentlichen können. Jetzt kannst du für so etwas sofort arrestiert werden.
Rata: Natürlich gilt hier auch der Spruch ‚wenn Wahlen was verändern würden, wären sie verboten‘. Ich gehe nicht wählen. Dieses theoretische Argument des Anarchismus habe ich abgewogen mit situationsspezifischen Argumenten. Wenn ich sicher wäre, dass es mit Kostunica den Menschen besser gehen würde, würde ich wählen. Doch dazu bräuchte er die Unterstützung des Westens und die hat er meiner Meinung nach nicht. Also werden die Wahlen nichts verändern. Außerdem ist er ein Nationalist, macht Wahlkampf mit nationalistischen Parolen. Das einzige Bild, auf dem er lächelt, und ich habe viele gesehen, ist eines mit einem MG im Arm in Kosovo/a.
Andrej: Kostunica ist Politiker, Intellektueller, er verhält sich wie jeder Politiker, arrangiert sich mit den Rechten, redet mit Linken, da transportiert er eben auch nationalistische Ideen, wenn es opportun ist. Er will gewählt werden.
Näher auf den Nationalismus angesprochen, mit dem alle Parteien Wahlkampf machen, wird er teilweise mit dem realsozialistischen Regime erklärt. Historisch gibt es auf dem Balkan eine andere Nationalitätenstruktur als in Mittel – und Westeuropa, die als solche einfach erst einmal zur Kenntnis genommen werden muss. Tito allerdings versuchte nationalistische Tendenzen mit Gewalt zu unterdrücken, was sich auf lange Sicht hin als kontraproduktiv erwies. In den letzten zehn Jahren kann der Nationalismus in Serbien in Wellenbewegungen beschrieben werden, auf und ab. Nach der Bombardierung von Jugoslawien 1999 durch die NATO stieg er radikal an und ist seitdem in der Bevölkerung wieder sehr hoch.
Am Beispiel MonteNegro erklären die beiden ihre Einstellung zum Selbstbestimmungsrecht. MonteNegro hat in der Geschichte schon lange als Staat bestanden, doch es gab keine Ethnie von MonteNegrienerInnen. Es lebten in MonteNegro SerbInnen, so wie auch in Teilen Kroatiens, Bosniens oder im Kosovo/a. Nach dem 2. Weltkrieg erschien es einigen regionalen Politikern opportun, explizit eine eigene Nation von MonteNegrienerInnen zu kreieren. Während Andrej mit dem historischen Exkurs deutlich machen will, dass nationale Gedanken den Interessen der Herrschenden dienen und von diesen je nach Nutzen forciert oder unterdrückt werden, ist für Rata der Aspekt von größter Wichtigkeit, dass sich heute die Menschen dort als MonteNegrienerInnen fühlen. Das muss einfach akzeptiert werden, denn jedeR besitzt das Recht, sich als das zu bezeichnen, als was er/sie möchte.
Auf die Frage, worin sich nationalistische Ideen der Regierungsparteien (SPS und JUL) von solchen der Opposition und speziell Kostunica als Herausforderer im Präsidentenwahlkampf unterscheiden, blieben die Antworten sehr allgemein. Jede Form von Nationalismus ist zu verurteilen, und für Rata bestehen auch überhaupt keine nennenswerten Unterschiede. Andrej hingegen differenziert zwischen einem eher subtilen Nationalismus von Kostunica und offenem Chauvinismus von Milosevic, der nicht nur ein positives Selbstbild der eigenen Nation, sondern auch Verachtung anderer Nationalitäten beinhalte.
Anti-Amerikanismus
Uns ist hier ein starker Anti-Amerikanismus begegnet, während Deutschlands Rolle (wie auch die anderer Nato- Mitglieder) unseres Erachtens nach marginalisiert wird. Darauf angesprochen, teilen beide Interviewpartner die allgemein hier herrschende Meinung. Die deutschen Interessen seien gering und nicht so ernst zu nehmen. Allerdings bezeichnen sie es nicht als Anti-Amerikanismus, sondern treffender sei Anti-Neoliberalismus, um zu verdeutlichen, wogegen sich die Kritik richtet. Amerika sei das weltweit herrschende Imperium und vertrete, eben auch mittels der Nato, die Ideologie eines Imperialisten. Somit stehe die Nato unter der faktischen Kontrolle der USA oder um es mit Noam Chomskys Worten zu sagen: „Die Nato ist eine globale Macht unter der Vorherrschaft des amerikanischen Imperiums und zwar militärisch, ideologisch, kulturell sowie ökonomisch.“. Als Beispiel wird eine serbische Gewerkschaft zitiert, die die Interessen ihrer Mitglieder damit zu vertreten versucht, indem sie auf den Slogan setzt: „Lasst uns privatisieren!“ Ob es sich dabei um amerikanischen, deutschen oder anderen Neoliberalismus handelt, das sei im Endeffekt egal, doch vertrete die USA diese Einstellung am offensivsten.
Der Anti-Amerikanismus sei der einzige positive Aspekt in der Politik Milosevics. Allerdings sei er chauvinistisch zu erklären, so gehe es Milosevic darum, die Menschen damit für sich einzunehmen. Er biete sich den Menschen als Retter vor den USA an, somit benötige er die Feindschaft der Bevölkerung gegen die USA, um seine Macht zu stabilisieren.
Wir danken Rata und Andrej für das Interview.