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Revolution in Serbien?

Eine Momentaufnahme aus Belgrad

| rahel, belgrad

(GWR-MS) Die Ereignisse in Jugoslawien haben sich im Oktober überschlagen. Die us-amerikanische "Time" beschrieb das Geschehen als "grassroot revolt". GWR-Autorin Rahel (s. GWR 251, 252), die als Freiwillige der Kurve Wustrow e.V. (s. S. 20) seit mehreren Monaten in Belgrad aktiv ist, beschreibt ihre Eindrücke:

Eine Chronologie der Ereignisse? Dafür ist für mich das Erlebte noch zu frisch, jeden Spruch, jeden Demozug, der am 5. Oktober in Belgrad einzog, jede Branche, die im Streik war, würde ich erwähnen wollen, die Liste wäre unendlich. Eine Einschätzung über die Zukunft? Natürlich, das ist jetzt, nach der „Oktoberrevolution” eher möglich als nach dem ersten Wahlgang. Diskutiert werden müssen Nationalismus, europäische Integration, Beitritt zum Stabilitätspakt und internationale Investitionen, Marktwirtschaft, Rechtsstaatsystem und das Verhältnis zum Kosovo/a, um nur einige Schlagworte zu nennen. Doch noch möchte ich mir die Freude über die Proteste, zivilen Ungehorsam und Streiks nicht nehmen lassen, die Euphorie hat meines Erachtens ihren eigenen Stellenwert.

Die Erlebnisse der letzten Tage lassen eine schwindelig werden, das Gefühl ist nicht einzuordnen, wenn Hunderttausende selbstbewusst durch die Strassen ziehen, wütend und entschlossen demonstrieren, staatliche Gebäude besetzen, trotz heftigstem Tränengaseinsatz immer wieder kommen und dann tanzen, sich freuen, ausgelassen sind, singen, sich anlachen, pfeifen, hupen und immer wieder brüllen „Gotov je“ („Er ist am Ende“). Diesem Slogan bzw. der Einstellung, die dahinter steht, nämlich, dass Milosevic dieses Land zugrunde gerichtet hat, ist der Sieg dieser Bewegung zuzuschreiben. Die Menschen gingen nicht für gemeinsame politische Überzeugungen auf die Strasse, sondern aus der gemeinsamen Enttäuschung über verpfuschte zehn Jahre ihres Lebens, die je nach Generation ganz spezielle Auswirkungen haben. Die Befreiung ist überall zu spüren, es scheint, als ob langsam wieder Leben hierher zurückkehrt, wo ich bisher hauptsächlich Lethargie und Resignation begegnet bin.

So ließ ich mich überzeugen, dass Milosevics Entmachtung die Voraussetzung und der erste Schritt für Veränderungen sind.

Gleichzeitig merke ich genau an diesem Punkt, dass diese Tage nicht meine Tage sind, diese Revolution nicht meine Revolution. Denn viele gingen aus einer nationalen Motivation („Milosevic hat unser Land zugrunde gerichtet”) auf die Strasse, symbolisiert in serbischen und jugoslawischen Flaggen. Anderen geht es vorrangig um Normalität: Normalität, in der Geld da ist für ein neues Kostüm von Marco o’Polo, Normalität, in der sie für ihre Lohnarbeit nicht mehr mit Bohnen, sondern regelmäßig mit Geld entlohnt werden, sich jedoch nichts am Abhängigkeitsverhältnis ändert, Normalität, in der Fernsehen nicht mehr den Gesetzen einer Regierungspartei, dafür den Gesetzen des Marktes untersteht, Normalität, in der zwar der Arzt nicht mehr bestochen werden muss, aber Gesundheit durchaus ein privates Vergnügen bleibt, Normalität, in der Serbien international nicht mehr als Buhmann, sondern als Partner angesehen wird, ohne sich allerdings Fragen stellen zu lassen. Sie investierten so viel Energie, um sich endlich nicht mehr um Politik kümmern zu müssen, sondern dies sollen gewählte (und abwählbare!) PolitikerInnen erledigen. Über deren Verhalten, ob DOS oder SPS wurde und wird viel geschrieben, besonders Kostunicas nationalistische Einstellungen dürften bekannt sein, so dass ich nicht näher darauf eingehe. Doch spricht er damit für eine Mehrheit der Bevölkerung, auch in progressiven Kreisen begegne ich Nationalstolz („Auch ich bin stolz, Serbin zu sein.“) und Relativierungen („Wir müssen über die Kriegsverbrechen reden, aber Verbrechen gab es auf allen Seiten.“), beliebt ist auch die Opferrolle, die in der langen Geschichte Serbiens schon häufig von der eigenen Verantwortung ablenkte.

Internationale Unternehmen warten auf ihre Chance, Serbien ist ein großer Markt, die Preise steigen schneller als Einkommen überhaupt vorhanden sein werden und gesellschaftliche Debatten, ob über Korruptionswirtschaft, Amnestie für Deserteure, Minderheitenrechte oder Den Haag Tribunal werden nicht nur die Parteien, sondern auch die Menschen wieder trennen. Letzteres allerdings birgt die Chance für soziale Bewegungen, die sich dann vielleicht an positiven Zielen und Utopien orientieren anstatt an dem Ruf nach dem Ende.

Frauengruppen in Belgrad ist bewusst, dass es mit dem Ende Milosevics erst der Anfang getan ist (s. dazu den Aufruf von Women in Black). Jetzt kommt es auf solche Basisgruppen und -initiativen an, an die Öffentlichkeit zu gehen, Forderungen zu stellen und sich nicht mit dem Erreichten zufrieden zu geben. Dabei hilft es, dass Telefone nicht mehr illegal abgehört werden, Medien freier und umfassender berichten, Gesetze statt Korruption Einzug halten werden, das soll gefeiert werden – und dann heißt es: Unser Leben hat gerade erst begonnen!