Jan Engelmann (Hg.): Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies Reader; Frankfurt a.M./ New York 1999 (Campus Verlag); 318 S., 39,80DM, ISBN 3-593-36245-7
Stuart Hall: Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften III, Hamburg 2000 (Argument Verlag); 157 S., 29,80DM, ISBN 3-88619-260-1
Adorno verabscheute Jazz. Gekotzt hätte er von Presleys Rock’n’Roll und die Sex Pistols, so mutmaßte der Popkritiker Greil Marcus, hätte er für die Wiederkehr der „Kristallnacht“ gehalten, „wäre er nicht glücklicherweise 1969 gestorben“. In Deutschland stand die Rezeption, zumal die akademische, von Popphänomenen lange unter dem Einfluß der von Theodor W. Adorno zusammen mit Max Horkheimer ausgearbeiteten Kulturindustriethese. Massenkultur wie Hollywoodfilme und Popmusik, so die These in verkürzter Form, ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Sie mache nicht nur passiv, konform und gefügig, sondern vereinheitliche alle Lebensbereiche, manipuliere quasi unbemerkt und kolonisiere zudem alle anderen kulturellen Äußerungsformen. Hat die Popkritik um Zeitschriften wie Spex und Die Beute in den vergangenen Jahren immer wieder offenere Deutungsversuche von Popkultur unternommen, so haben diese Versuche nun auch die Universitäten erreicht. Das dazugehörige Label nennt sich Cultural Studies. Diese kommen aus Großbritannien, und haben in den USA und Australien in den 80er und 90er Jahren bereits eine enorme Institutionalisierung erfahren. Auch die Cultural Studies leugnen das Vorhandensein von Kulturindustrien nicht unbedingt, aber sie gehen anders damit um. „In der Optik der Cultural Studies“, schreibt Jan Engelmann in der Einleitung seines Sammelwerkes, „bringen die Kulturindustrien nicht einfach nur Waren in Umlauf, sondern stellen auch Bedeutungsrepertoires zur Verfügung, mit denen die soziale Wirklichkeit überhaupt erfahrbar wird“.
Die Alltagswelt stellt sich somit als gesellschaftlich und politisch umkäpfter Ort dar. Dies sichtbar und kenntlich zu machen, ist laut Stuart Hall einer der wichtigsten Ansprüche der Cultural Studies. Aufsätze über Musik, Quiz-Shows und Mode machen anschaulich, wie und auf welche Weise Gesellschaft heute nicht nur erfahren, sondern auch gemacht wird. Und so unterschiedlich wie die Gegenstände der Untersuchung, so vielfältig sind auch die Theoriemodelle, mit denen sie betrachtet werden. Um über beides Auskunft zu geben, ist die erwähnte compilation von Jan Engelmann bestimmt ein gelungenes Sammelsurium zu Einführung.
Kultur und mehr
Den theoretischen Ansätzen gemeinsam ist sicherlich die Annahme einer relativen Unabhängigkeit des Symbolischen vom Materiellen, der Kultur von der Ökonomie. Werken oder Aktionen, die aus dem Kulturellen hervorgehen, wird damit aber keineswegs eine gesellschaftliche Irrelevanz attestiert. Ganz im Gegenteil werden Bücher, Platten und andere Artikulationen als konstitutiv begriffen für die soziale Welt. D.h., sie sind nicht nur Ausdruck bestimmter Verhältnisse, sondern schaffen und gestalten sie auch.
Einerseits wird damit die Alltagswelt theoretisch zugänglich. Geschmack und Gewohnheiten werden als gesellschaftliche Phänomene begriffen, und nicht als sozial und politisch bedeutungslose Vorlieben einzelner. Andererseits werden mit diesem Ansatz aber oft gesellschaftliche Machtverhältnisse unterschätzt. John Fiske beispielsweise hält Fernsehshows wie etwa „Herzblatt“ für progressive Genderpolitik, weil Männer und Frauen gleichwertig behandelt würden. Die prägenden Einflüsse von patriarchalen Strukturen auf individuelles Handeln werden so doch – gelinde gesagt – etwas leichtfertig angegangen. Insgesamt stehen aber patriarchale Unterdrückung und kolonialistische Herrschaft ganz oben auf der Liste der Merkmale, die Cultural Studies aufspüren und untersuchen wollen.
Macht und Alltag
Anders als einige der US-amerikanischen VertreterInnen der Forschungsrichtung verfolgt der jamaikanisch-britische Intellektuelle Stuart Hall ein explizit politisches Theorieprojekt. Als ein solches erweisen sich Halls Studien schon insofern, als sie das Zusammenfallen von Alltag und Politik untersuchen und kulturelle Praxen innerhalb eines Machtspiels verorten. Jenes Aufeinandertreffen findet bereits in dem Moment statt, in dem jemand „wir“ sagt. Für undogmatische Linke gab es in der Geschichte viele Situationen, in denen diese Probleme mit dem politischen Pronomen auftauchten – ob aus Anlaß stalinistischer Säuberungen, der sozialdemokratischen Integration der ArbeiterInnenbewegung oder wegen kultureller Differenzen. Für wen spreche ich, wenn ich „wir“ sage? Die vermeintliche Stärke einer viel beschworenen Einheit erwies sich immer auch als Ausschlußverfahren. So beispielsweise mit dem politischen Begriff „Schwarzer“: Wo schwarze Frauen, asiatische Einwanderer oder die Differenzen von und innerhalb karibischer und afrikanischer Menschen immer nur mit gemeint, nie aber ausgesprochen, benannt und berücksichtigt werden, macht Hall nicht mehr mit. Stellvertretend für ein „wir“ reden zu müssen, beschreibt er als die „Lasten der Repräsentation“. Dennoch plädiert er vehement und eindeutig für die Fortführung eines politischen Projekts. Emanzipatorische Politik beginnt für Hall mit einer Positionierung, der Klärung des gegenwärtigen Standpunktes als SprecherIn. Theoretisch liegt dem ein Identitätsverständnis zugrunde, das Hall als „willkürlichen Abschluß“ (arbitrary closure) bezeichnet. Identität ist demnach ein vorübergehender Schlußpunkt in der ständigen Verschiebung von Bedeutungen.
Pop und Bedeutung
Was Elvis oder die Sex Pistols betrifft, läßt sich für ihre Entstehungs-, Auftritts-, Konsumbedingungen mit den Cultural Studies beleuchten, inwiefern es sich hier jeweils um Orte von Bedeutungsverschiebungen handelt. Oder macht Pop doch nur Ideologie sichtbar, weil es Ausdruck der ideologischen Sicht von Individuen ist, wie an Althusser anschließend gefragt werden könnte? Oder – mehr Frankfurter Schule-like – muß Pop auf seine ideologiekritischen Aspekte hin untersucht werden? Voraussetzung für die letzte Frage allerdings wäre, daß dem Pop wie der Literatur oder der Kunst die Fähigkeit zugestanden wird, sich der Ideologie zu entziehen (was Adorno verneinte): Sich also Pop als „Fluchtpunkt des Heterogenen“ vorstellen.
Schweiß und Emotionen
Fragen über Fragen. Bei allen Unterschieden zwischen den kritischen Diskursanalysen der Cultural Studies und der Ideologiekritik der Kritischen Theorie gibt es vielleicht doch ein gemeinsames Credo: Nicht allein der Text, sondern der Kontext macht die Musik. Pop nur als Abteilung der Kulturindustrie zu begreifen, hieße, auch ein Riot Grrrl- Konzert als den Ausdruck verdinglichter Pseudoindividualität zu verstehen. „Personality“ ist für solche Ausdrücke nichts als die „Freiheit von Achselschweiß und Emotionen“ (Horkheimer/ Adorno). Daß es bei solchen Frauenpunkevents aber eine Menge Transpiration und Wut gibt, ist schwer zu leugnen. Inwiefern beides auch von gesellschaftlicher Bedeutung ist, läßt sich mit Cultural Studies fragen – und manchmal auch beantworten.