Einleitung
Für die folgende Erklärung gibt es zahlreiche Gründe. Über den aktuellen Anlaß hinaus hat die Auseinandersetzung um den „Buback-Nachruf“ exemplarischen Charakter, es handelt sich in der Tat um ein Lehrstück. In den Diskussionen um den Nachruf sind wichtige Fragen zur politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der BRD und zur Strategie der sozialistischen Bewegung gestellt worden; an dieser Diskussion wollen wir uns beteiligen.
Spätestens seit dem ersten Weltkrieg haben alle großen Krisen des Kapitalismus zur Entwicklung von zwei Strömungen in der revolutionären Bewegung geführt, die sich in mehreren Fragen heftig widersprechen, die für den Widerstand gegen die Barbarei und den Kampf für eine sozialistische Gesellschaft sich ausschließende Strategien vorschlagen. Auf der einen Seite steht hier die Theorie und Praxis des bewaffneten Kampfes für die Diktatur des Proletariats, die sich auf verschiedene Erfahrungen der Klassenkämpfe beruft die russische Oktoberrevolution, die chinesische, kubanische und vietnamesische Revolution und aus der Erkenntnis, daß die herrschenden Klassen niemals freiwillig abtreten und alle Mittel einsetzen, um an der Macht zu bleiben, folgert, daß die Vorbereitung des Volkskrieges notwendig ist und die Guerilla in den Metropolen wie in der Peripherie die zeitgemäße Methode der Revolution ist, In den ersten Schriften der Rote Armee Fraktion werden diese Ansätze ausgeführt.
Die zweite, weit schwächere Tendenz, die eine radikal andere Antwort auf die Frage nach der Rolle von Gewalt und Terror in der Revolution gibt, sind die gewaltfreien Anarchisten. In der Bundesrepublik sind dies unter anderem die gewaltfreien Aktionsgruppen und Individuen um die Zeitschrift Graswurzelrevolution. Es ist interessant, daß beide Tendenzen in der BRD im Zusammenhang mit der Studentenbewegung, der antiautoritären Protestbewegung entstanden sind und ihre Wurzeln in noch früheren Widerstandsbewegungen wie etwa den Ostermärschen der Atomwaffengegner haben. Wir glauben, daß es in jeder relevanten Massenbewegung, die mit staatlicher Repression und Ansätzen reaktionärer Massenbewegungen konfrontiert wird, Tendenzen zu diesen beiden politischen Haltungen geben wird, die wir in den Guerillagruppen und den Gewaltfreien Aktionsgruppen sehen.
Damit soll keineswegs gesagt werden, die vielen hier nicht genannten Emanzipationsbewegungen, Gruppen und Organisationen seien gegenüber diesen beiden etwa irrelevant. Es soll auch nicht der Anschein erweckt werden, alle Anarchisten seien gewaltlos, alle Gewaltlosen seien Anarchisten oder es bestünde eine direkte Beziehung zwischen Marxismus und RAF.
Es gibt eine Vielzahl von Fragen, die von anderen Gruppen intensiver bearbeitet werden als gerade von uns; es liegt uns fern, unsere Bedeutung zu überschätzen.
Sicher liegen viele Bewegungen: die feministische, die Anti-Akw-Bewegung, regionalistische Strömungen, Gruppen gegen psychische Verelendung usw. quer zu der von uns hier gemachten Einteilung. Aber in Beziehung auf die Fragen, die uns vor allem interessieren, nähern sie sich mehr dem einen oder anderen Pol oder es gibt in diesen Bewegungen Gruppen, die für den bewaffneten Kampf eintreten und solche, die eine gewaltfreie Strategie verfechten.
Obwohl wir in diesem Streit Partei sind, glauben wir nicht, daß die Dämonisierung von Menschen, die sich für den bewaffneten Widerstand entscheiden oder mit der Guerilla sympathisieren, richtig ist. Es gibt selbstverständlich Gründe, die den bewaffneten Kampf und das Ziel der proletarischen Diktatur gerechtfertigt erscheinen lassen. In Deutschland ist es die Erfahrung des Faschismus, der unvorstellbare Grausamkeiten begangen hat und noch immer unbewältigt ist, in gewisser Weise immer eine Drohung bleibt, der die Ideen des bewaffneten Kampfes z.T. plausibel macht. Der Völkermord und die Folter sind unbestreitbar Bestandteile der Politik der herrschenden Klassen zahlreicher Länder; eine revolutionäre Bewegung kann das nicht ignorieren. Aber diese Repression trifft keineswegs nur revolutionäre Bewegungen (ob sie bewaffnete Aktionen befürworten oder nicht), sondern alles was Widerstand leistet oder nach Meinung der Meister des Krieges in ihrer Welt keinen Platz hat.
So könnte man auch den Konflikt um den Buback-Nachruf des unbekannten göttinger Mescalero so interpretieren: die totalitäre Gesellschaft, die Todesmaschine im Kampf gegen die letzten der Mohikaner. Zweifellos gibt es reale Entwicklungen, die auf perfektionierte Kontrolle von oben nach unten hinweisen, Tendenzen zu einem Atomstaat, einem 1984, einer schönen neuen Welt. Dies ist die eine Perspektive, die sich am Konflikt um den Mescalero zeigt, Die andere ist: Der Anfang vom Ende der Herrschaft. Daß einer so lange verbotene Gefühle sich nun eingesteht und den Mord an Buback ablehnt, weil diese Tat den Handlungen der Herrschenden so ähnlich sieht, das zeigt eine tiefe Krise an.
Diese Krise ist Chance und Gefahr. Was daraus wird, das ist von keinem Schicksal vorgezeichnet, es liegt auch an uni nie Ergebnisse des Konfliktes um den Buback-Nachruf werden auch über die weitere politische und gesellschaftliche Entwicklung in der BRD ein wenig mitentscheiden. Wenn die Partei der Staatsräson gewinnt, dann bedeutet das auf alle Fälle mehr Gewalt.
Ein Anlaß für diese Erklärung ist, daß Hajo Karbach, der Mitglied der Gewaltfreien Aktion Göttingen ist und bis Anfang 1977 in der Redaktion der Zeitung „Graswurzelrevolution“ gearbeitet hat, als Redakteur der AStA-Zeitung „göttinger Nachrichten“ wegen der Veröffentlichung des Buback-Nachrufs angeklagt ist. Wir fordern Einstellung aller Verfahren; notfalls Freisprüche!
Der Staat in Putativnotwehr gegen die Freiheit
Die Affäre
Anfang Mai letzten Jahres war Göttingen in den Mittelpunkt des Interesses der deutschen Presse gerückt. Am 7.4.77 war der Generalbundesanwalt Buback auf offener Straße erschossen worden. Am 25.4.77 erschien in den „göttinger nachrichten“ (gn), der Zeitung des AStA „Buback – ein Nachruf“.
Sein Autor, ein „Göttinger Mescalero“ kritisiert und verurteilt die Liquidierungspolitik der Stadtguerilla ausgehend von Seiner „klammheimlichen Freude“ als erster unmittelbarer Reaktion auf die Nachricht von Bubacks Ermordung..
Wollte er sich den bewaffneten Kämpfen anschließen, so müßte er werden wie Al Capone oder die Herrschenden oder die RAF: kaltblütig und brutal. Das würde ihn von seinem Ziel, einer menschlichen Gesellschaft, entfernen, denn der „Weg zum Sozialismus (wegen mir zur Anarchie) kann nicht mit Leichen gepflastert werden.“ Er kritisiert weiterhin die Willkür einer Liquidierungsstrategie, die die Frage unbeantwortet lasse, wieso ausgerechnet das jeweilige Opfer mehr Schuld trage, als der ‚Verkäufer an der Ecke, der dauernd ‚Kopf ab‘ brüllt“.
Der „Mescalero“ zieht aus diesen Ansitzen seiner Gewaltkritik keine klaren Schlüsse, wie wir Gewaltfreien sie ziehen. Er fordert eine fröhliche Militanz, die „den Segen der beteiligten Massen“ habe, was immer er damit auch meint.
Dieser Artikel, der ausschließlich an die studentische Öffentlichkeit in Göttingen gerichtet und besonders an die adressiert war, die Bubacks Tod mit ähnlichen Gefühlen wie der „Mescalero“ erlebt haben, sollte ein Nachdenken und eine Diskussion über solche Aktionen auslösen.
Er fiel jedoch dem Ring Christdemokratischer Studenten (RCDS) und der Presse zum Opfer, die ihn durch aus dem Zusammenhang gerissene Zitate, im Sinn entstellten und als Befürwortung der Ermordung von Generalbundesanwalt Buback ausgaben. Die Kommentatoren zogen nach und schrieben von blanken Faschismus (Frankf. Rundschau, 6.5.77), „krankhaften Hirnen“, „Rekruten des Terrors“ (Welt, 14.5.77).
In der Folgezeit wurde in den Massenmedien der Bundesrepublik lautstark die Forderung erhoben, den „Sumpf trockenzulegen“ und mit den „Sympathisanten des Terrors“ abzurechnen. Selbstverständlich paßte in diesen Zusammenhang die strafrechtliche Verfolgung der Herausgeber und Nachdrucker des Nachrufs.
Am Freitag vor Pfingsten 1977 erlebte Göttingen eine (glücklicherweise noch nicht alltägliche) Polizeiaktion, bei der 17 Wohnungen, das AstA-Gebäude, der Buchladen Rote Straße, das Büro des Kommunistischen Bundes Westdeutschland und zwei Druckereien durchsucht und Berge von Zeitungen, Aufzeichnungen, Tagebuchnotizen, Flugblättern beschlagnahmt wurden.
Empörte Studenten machten sich Luft durch ein Go-in beim Göttinger Tageblatt, das wegen seiner Berichte unbeliebt ist. Während einer großen Demonstration besetzte ein Teil der Demonstranten Schienen auf dem Göttinger Bahnhof, um den Abzug der Polizei aus dem AStA-Gebäude zu erreichen und ihre Bereitschaft zum Widerstand zu zeigen. Ms Polizei anrückte, begannen die Studenten freiwillig, die Schienen zu räumen und abzuziehen. Ohne vorherige Aufforderung, die Schienen zu räumen, prügelten die Polizisten auf die Demonstranten ein.
Im Konflikt um den Buback-Nachruf dauerten die handfesten Eingriffe der Staatsgewalt nur kurz, das Gewicht verlagerte sich wieder auf die feineren juristischen Methoden. Die zahlreichen Ermittlungsverfahren gegen Asten, Fachschaften und Alternativzeitungen in der ganzen Bundesrepublik, die wegen des Nachdrucks erfolgten, sind bekannt.
Professoren und Anwälte, die in einer Dokumentation den unverstümmelten Text öffentlich zugänglich machen wollten, wurden wegen dieser Dokumentation disziplinarisch gemaßregelt und öffentlich verurteilt – als „Sympathisanten“. In Niedersachsen mußten elf der Herausgeber dieser Dokumentation eine entwürdigende „Loyalitätserklärung“ unterzeichnen, die der Minister für Wissenschaft und Kunst, Prof. Dr-Ing. Dr. hc. Eduard Pestel ihnen vorgelegt hatte.
Prof. Peter Brückner (Hannover) wurde vom Dienst suspendiert, da er seine „feindselige Einstellung gegenüber unserem Staat wiederholt zum Ausdruck gebracht“ habe, wie eine Sprecher des Ministeriums sagte. (P. Brückner hat eine Broschüre herausgegeben. „Die Mescalero-Affäre. Ein Lehrstück für Aufklärung und politische Kultur“ und ist Mitherausgeber der Dokumentation.)
In Göttingen wurden – nach der mageren Ausbeute der Durchsuchungen von Freitag vor Pfingsten – vier Studenten, darunter Hajo als Herausgeber des Artikels in den göttinger nachrichten angeklagt. Die Staatsanwaltschaft beschuldigt sie der Volksverhetzung (§130 StGB) indem sie durch die Verbreitung des Nachrufs zum Haß gegen „den Bevölkerungsteil, der den Terrorismus zu bekämpfen hat“ aufgestachelt hätten, außerdem lautet die Anklage auf Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 189 StGB). Es ist offensichtlich, daß der Nachruf nicht „aufstachelt“, sondern vielmehr eine begründete Absage an die Strategie der Stadtguerilla darstellt. Den Angeklagten liegt es fern, irgendjemanden zu verunglimpfen – ihre Gründe, den Artikel in der AStA-Zeitung zu veröffentlichen, liegen in seiner wesentlichen politischen Aussage, (der Terror-Kritik), die ihnen so wichtig war, daß sie den Artikel der Studentschaft nicht vorenthalten wollten, auch wenn es inhaltliche Differenzen zum Text gab, auch wenn er vieles offen ließ und auch wenn seine Sprache nicht die der Redakteure war.
(Abgesehen davon kann § 189 als persönliches Äußerungsdelikt allenfalls auf den Autor angewandt werden, nicht aber auf Verbreiter!) Auch entsprach es nicht dem Konzept der göttinger nachrichten als einem offenen Diskussionsforum und Sprachrohr aller Strömungen der (in den Asta-tragenden Gruppen repräsentierten) neuen Studentenbewegung, von solchen Gruppierungen eingereichte Artikel zu zensieren, frisieren oder ohne absolut zwingende Gründe zurückzuweisen. Vor allem um diesen Charakter der Zeitung zu gewährleisten war Hajo als BUF- Studentenratsmitglied in die Redaktion der göttinger nachrichten gewählt worden.
In diesem Sinne wollen die Angeklagten im Prozeß den Anklagepunkten inhaltlich entgegentreten und deutlich machen, daß die Mescalero-Affäre vor allem ein Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit darstellt unter dem Vorwand einer – recht(s) einseitigen – „Rechtspflege“.
Warum der Nachruf ein Ereignis wurde
Die heftigen Reaktionen von Presse, Justiz und Regierung auf den Nachruf können nicht aus einer Ursache allein erklärt werden. Die Versuchung, den mißliebigen, weil linken Göttinger AStA zu diffamieren, um so seine Suspendierung vorzubereiten hat sicher eine Rolle gespielt. Die Auseinandersetzung um den Buback-Nachruf ist also Teil der Auseinandersetzung um das Politische Mandat der Studentschaft. Selbst die relativ liberale Frankfurter Rundschau schrieb: „Wenn sich in kranken Gehirnen die Karlsruher Bluttat als freudiges Ereignis darstellt, dann ist das eine persönliche Angelegenheit. Ein öffentliches Ereignis wird es aber, wenn ein derartiges Musterbeispiel für blanken Faschismus im Publikationsorgan einer Einrichtung studentischer Zwangsmitgliedschaft verbreitet wird…“ (FR v. 8.5.77)
Mit dem Erschrecken des Bürgers über die hämische Billigung des Buback-Mordes die er durch solche Desinformation ja in dem Mescalero-Text sehen muß, werden gleich eine ganze Reihe heimlicher Steckenpferde der verschiedenen Fraktionen der „Öffentlichkeit“ geritten:
- Angriff auf das politische Mandat
- Hetze gegen als krank, verrückt, untermenschlich gezeichnete Minderheiten, seit der Studentenbewegung ein gern geübter Brauch besonders der Springer-Presse
- der Rheinische Merkur sieht eine seiner Lieblingsideen: Verwirkung von Grundrechten für Staatsfeinde näherrücken und schlägt vor, statt des Bundesverfassungsgerichts die Justiz- oder Innenminister der Länder damit zu betrauen
- unter dem Vorwand, die Ursachen des Terrorismus zu bekämpfen wird mobil gemacht gegen Nonkonformisten, gegen eine bunte Vielfalt „staatsabträglicher“ Gedankengänge und Entwicklungen.
Dies alles muß in einem größeren Zusammenhang gesehen werden: der Staat, die rechte Publizistik, die Parteien bereiten sich auf Widerstandsbewegungen vor, besonders deutlich wird dies seit den Notstandsgesetzen. Sie benutzen jeweils verschiedene Ereignisse, um den weiteren Ausbau des Repressionapparates, seinen Einsatz und den Abbau von Freiheiten zu legitimieren. Diese Tendenz hat einige extreme und allzu offene Erklärungen erfahren, besonders die berühmte Sonthofener Rede von Franz-Josef Strauß. Diese Tendenz ist aber keineswegs auf die CSU beschränkt. Wir zitieren einige weniger bekannte Aussagen dazu: „Die wachsende Kompliziertheit des gesellschaftlichen Lebens mit ihren durch die Demokratie nur in langwierigen Prozessen zu lösenden Problemen sowie das steigende politische Bewußtsein der Bevölkerung werden wahrscheinlich dazu führen, daß die Neigung zu öffentlichen Konfrontationen ansteigt. Die Polizei geht deshalb davon aus, daß auch im kommenden Jahrzehnt eine erhebliche Anzahl von Einsätzen aus Anlaß von Demonstrationen notwendig werden wird.“ (aus dem niedersächsischen „Landesentwicklungsplan 1985“)
Der für die Innere Sicherheit in Baden-Württemberg zuständige Ministerialdirigent schrieb 1975 in der Zeitschrift „Die Polizei“:
„Es steht für mich außer Zweifel, daß wir noch kritischeren Zeiten entgegengehen. Teilweise haben wir in bestimmten Bereichen und bestimmten Stadien ganz begrenzt Anzeichen einer prärevolutionären Zeit. Es besteht jedoch keinerlei Grund, ängstlich zu resignieren, da wir die Dinge voll in die Hand bekommen können. Wohl aber besteht Grund dazu, sich rechtzeitig auf die gestiegenen und veränderten Anforderungen einzustellen. Daß dabei die Polizei in den nächsten Jahren besonders stark gefordert sein wird, steht ebenfalls außer Zweifel, Ja es wird möglicherweise sogar der Bestand des Staates davon abhängen, ob seine Polizei steht oder nicht.“
Aus diesen Zitaten, und man könnte eine ganze Reihe ähnlicher ergänzen, wird klar, daß es eine vorausschauende Planung für Repression gegen Bürgerbewegungen gibt (zur Zeit ist die Bewegung gegen Kernkraftwerke stark betroffen) und daß man die bestehende Krise nutzen will, um die Loyalität zum Staat zu verstärken und die bestehenden Institutionen zu stabilisieren (dazu besonders Pestels „Loyalitätserklärung“).
Der Widerstand entwickelt sich
Gibt es dabei Besonderheiten, oder ist das die in Klassengesellschaften nun einmal übliche Art der Unterdrückung? Interessant für uns ist dabei nicht nur, die Qualität der Unterdrückung. sondern die Qualität des Widerstandes, auf die die Unterdrückung abzielt.
Vergleicht man die heutige Situation mit der der fünfziger Jahre, so muß man feststellen, daß die Repressionen in ihren Auswirkungen auf den Einzelnen und die Gesellschaft ähnlich wirken. Dennoch bestehen wesentliche Unterschiede. In den fünfziger Jahren wurde die Widerstandsbewegung gegen die Wiederaufrüstung im wesentlichen von den Bürokratien der SPD und der Gewerkschaften bestimmt. Als diese den Widerstand aufgaben, waren die Entscheidungen im wesentlichen gefallen, weil sehr viele Menschen sich auf diese Organisationen verließen. Auf dieser Ebene und im Parlament existiert seither keine Opposition mehr. Die Parteien sind als sogenannte Volksparteien alle auf die neue Mitte geeicht und Teile des Staatsapparates geworden
Dadurch daß der Widerstand sich außerhalb der politischen Parteien organisieren mußte, hat er eine neue Qualität gewonnen. Ostermarsch der Atomwaffengegner, Studentenbewegung und Bürgerinitiativen sind Etappen eines Befreiungsprozesses von der Bürokratie. In weiten Teilen der Bürgerinitiativbewegungen werden heute grundlegende Strukturen und Inhalte unserer politischen und wirtschaftlichen Ordnung in Frage gestellt.
Es bilden sich Werte heraus wie Autonomie, Selbstbestimmung. Eigenverantwortung Die ökologische Frage hat große Risse in der Rechtfertigung und Funkionsweise dieser Gesellschaft sichtbar gemacht; Forderungen nach Dezentralisierung, nach einem anderen Charakter der Arbeit, nach anderen zwischenmenschlichen Beziehungen machen es in der Tat verständlich, daß in dem Zitat weiter oben von einer vorrevolutionären Situation gesprochen wird.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser
Die Repressionsmaßnahmen entsprechen vor allem dem Interesse, die Kontrolle von oben nach unten aufrechtzuerhalten. Die Angst, diese Kontrolle zu verlieren, erklärt zum Teil die hysterischen Reaktionen auf den Buback-Nachruf. Der „Mescalero“ hat sich der Kontrolle entzogen und seine unbotmäßigen Ansichten in einer rüden Sprache vorgetragen; er ist ungreifbar geblieben. Noch bietet die Universität (kleiner werdende) Freiräume, solche Gedanken zu diskutieren. Diese Freiräume erscheinen um so gefährlicher – und darauf hat die Mescalero-Affäre die Aufmerksamkeit der Herrschenden wieder gelenkt – als der durch Arbeitslosigkeit von Proletarisierung bedrohte akademische Nachwuchs sie zur Entwicklung und zum Ausbau des Widerstandes benutzen könnte.
Die Kontrolle, die notwendig ist, um die wirtschaftliche Ausbeutung und die politische Macht aufrechtzuerhalten, muß modernisiert werden. Dabei kommt z.B. Datenbanken eine große Bedeutung zu, die den Einzelnen für die staatlichen Bürokratien und die Personalbüros der kapitalistischen Unternehmen durchsichtig machen sollen. Der Staat kommt zu einer Art Putativnotwehr gegen Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Organisations- und Versammlungsfreiheit. Die Polizei, der Bundesgrenzschutz, die Nachrichtendienste werden ausgebaut. Terroristenverfolgung wird zum Vorwand für die Aushöhlung aller Bürgerrechte. Die Entrechtung wird verrechtlicht, ständig neue Gesetze bringen härtere Maßnahmen für Oppositionelle. Dabei ist diese Opposition noch relativ ohnmächtig; die Repression wird, besonders nach Tenoranschlägen von der Bevölkerung gefordert und unterstützt.
„Amtssprache ist meine einzige Sprache“ (Eichmann in Jerusalem (H. Arendt) S. 77)
Ein Aspekt dieser Kontrolle, der im Zusammenhang des Buback-Nachrufs wichtig ist, ist die Kontrolle der Sprache. Diese Kontrolle der Sprache (und des Denkens) wird von den Kontrolleuren zum Teil bewußt angestrebt (sie haben wohl auch Orwells „1984“ gelesen). Die Konservativen im Übergang zum Rechtsradikalismus verstehen Worte als Waffen und geistige Auseinandersetzung als Schlachtfeld. Es interessiert sie nie die Wahrheit einer Aussage, sondern ausschließlich, ob diese Aussage im „semantischen Weltkrieg“ (Die Welt, vgl. dazu Franz J. Hinkelammert, Die Radikalisierung der Christdemokraten Berlin 1976 S.78 ff) ihre Position verbessert oder die des Gegners. Wer bestimmt, was die Worte bedeuten, z.B. was Gewalt ist und was nicht, was Anarchismus ist und was nicht, was Freiheit ist usw. der kann über die Weltanschauung derer entscheiden, die diese Worte benutzen. Das Ideal dieser Reaktionäre ist ein stillgelegtes Bewußtsein, in dem alles Geschehen nur ihre Schablonen bestätigt, Feindbilder belebt und den Ruf nach der Polizei oder dem starken Mann als bedingten Reflex auslöst. Glücklicherweise kann, solange die Menschen nicht Roboter geworden sind, dieses Ideal nie in Erfüllung gehen.
Die Sprache des Mescalero hat auch für uns etwas Erschreckendes gehabt; es wird wohl noch klar werden, was uns daran erschreckt hat. Kurz zusammengefaßt: die Sprache des Mescalero hat eine Tendenz, politische Gegner als minderwertige Menschen darzustellen, womit immer auch eine gewisse Drohung verbunden ist, denn es gehört zu den Techniken der Unterdrücker, die Menschlichkeit ihrer Opfer zu verleugnen – eine Tatsache, die in der nicht endenwollenden Kampagne gegen den Mescalero deutlich hervortrat. denn hier wurde von den Saubermännern der Nation der Mescalero als Untermensch gezeichnet
Was aber die Anhänger revolutionärer Gewaltlosigkeit erschrecken kann, das er schreckt eine Regierung und den RCDS nicht – und umgekehrt. Wenn uns die Gewalt erschreckt, dann erschreckt jene das drohende Ende ihrer Herrschaft. Daß da eine Zeit nach der Revolution ausgedacht war, wo es kein Chaos gab, sondern „das kleine schwarzrote Verbrecheralbum“ und öffentliche „Vernehmungen“ „der meistgesuchten und meistgehaßten Vertreter der alten Welt“ (was wieder nicht unsere Perspektive ist, da wir Gegner jeder Strafjustiz sind), hat sie gewiß sehr beunruhigt. Dabei gibt es persönliche Aspekte und verständliche Ängste, die ein Richter, ein Beamter oder ein Journalist verspüren mag, der damit konfrontiert wird, daß er gehaßt wird und dem der Verlust seiner Privilegien angedroht wird. Vorerst wird es den Lesern aber nicht allzu wahrscheinlich vorkommen, daß so etwas geschehen könnte, aber man muß den Anfängen wehren. Doch schon, daß solche Gedanken, solche Sprache möglich sind, scheint gefährlich. Die Kontrolle hat versagt. Wenn es möglich ist, an Richter, Regierungsmitglieder oder andere Menschen zu denken, die man „in diesem ,unserm Land“ (wie man es jetzt gerne nennt) als geachtete Personen sehen möchte, und dabei „Killer“ zu assoziieren, dann sind noch ganz andere Entwicklungen möglich.
Die gesamte Aussage des Textes zu verstehen liegt wieder nicht im Interesse eines solchen Richters, Beamten oder Journalisten, es würde seine „semantische Kriegführung“ und sein reibungsloses Funktionieren auch stark behindern und als mangelnde Qualifikation für so eine verantwortungsvolle Aufgabe erscheinen.
Wo beginnt die Schuld und wer definiert das Böse?
Natürlich denkt man bei „Killervisage“ an Straßenterror, Gangstertum – und nicht in erster Linie an die Banalität des Bösen, an die Schreibtischtäter, die Bürokraten des Todes. Aber: an ihren Werken sollt ihr sie erkennen!
Daß aber die normalen, angepaßten Menschen eben durch ihr reibungsloses, widerstandsloses Funktionieren und durch die „Pathologie der Normalität“ (Erich Fromm) an zahlreichen offenen und auch längst alltäglich gewordenen Grausamkeiten mitschuldig sind, zeigen alle Untersuchungen über den Faschismus. Dies hat u.a. deshalb eine besondere Brisanz, weil die Leute in der RAF und ähnlichen Gruppen zum Teil eine besondere Moralität beanspruchen, die aus der Beschreibung der Barbarei des reibungslosen Fortschritts des Imperialismus den Terrorismus rechtfertigen will. Wir halten diesen Schluß nicht für gerechtfertigt, wenn nicht plausibel gemacht werden kann, daß gewählte Widerstandsformen der bestehenden Gewalt nicht nur zusätzliche hinzufügen, sondern das Kontinuum der Unterdrückung tatsächlich aufbrechen und Grausamkeit beenden. Wir werden später begründen warum wir nicht glauben, daß die Politik des bewaffneten Kampfes das erreichen kann.
Die Fragen, die nach dem Zusammenbruch des Faschismus in Deutschland leider viel zu kurz und viel zu oberflächlich diskutiert wurden: Wie konnte das geschehen? Warum war der Widerstand so relativ selten und schwach? Die Fragen der Kinder an die Eltern. was sie gewußt haben, was sie getan und durch Unterlassung getan haben, sind oft nicht beantwortet worden. Bei einigen blieb aus diesen Diskussionen, so hat es Horst Mahler gesagt und es scheint für Menschen wie Ulrike Meinhof richtig zu sein, der Wille auf jeden Fall Widerstand zu leisten, nicht mitschuldig zu werden an verbrecherischen Handlungen. Die Paradoxie, daß aus solchen guten Gründen schlechte und dem vorgeblichen Zweck nur schädliche Handlungen gefolgt sind, macht das Anliegen selbst nicht absurd.
Heute haben viele Menschen diese Situation vor Äugen: man wird uns fragen „was habt Ihr dagegen getan? Wußtet Ihr nicht Bescheid? „Gerade in den Bewegungen gegen Krieg und Atomkraftwerke findet man viele Menschen, die von solchen Fragen getrieben werden Deshalb ist auch die Folge solcher Bewegungen weit über den Kern ihrer Forderungen hinaus zu spüren. nie Bewegungen, die sich gegen die ungeheuerlichen Vernichtungsdrohungen gebildet haben“ die am klarsten von der Gefahr des Nuklearkrieges und der Zerstörung der natürlichen Grundlagen allen Lebens ausgehen, entwickeln neue Wertvorstellungen und eine neue Moral, die der der Besitzenden und Mächtigen überlegen ist. Woraus wiederum nicht geschlossen werden darf, daß die rohe Gewalt und die Techniken der Psychokontrolle eine solche Bewegung etwa nicht zerschlagen könnten!
Das Schlimme ist, daß eben die Bedingungen, die viele zum Widerstand gebracht haben, noch viel mehr Menschen in die Verzweiflung, die Abhängigkeit von Drogen, Alkohol und ähnlichem getrieben haben. Die Macht der Bürokratien und die Autoritätsgläubigkeit, die Unsicherheit der Existenz lassen viele Menschen in Furcht vor der Freiheit verharren. Die Möglichkeit von ungeheuerlichen Morden, eines Atomkriegs, der alles menschliche Leben vernichtet, perfektionierter Todesmaschinen, Neutronenbomben, automatisierter Schlachtfelder kann nicht ohne Einfluß auf das menschliche Denken und Handeln bleiben. Es wird verantwortungsloser. Ob morgen schon alles vorbei ist oder nicht“ darauf ist dem einzelnen jeder Einfluß entzogen. Schon der Gedanke ist zu monströs, um nicht sofort verdrängt zu werden. Durch 20000 Tote im Straßenverkehr jedes Jahr, durch die Bilder von Kriegen, durch billige, Gewalt verherrlichende Romanheftchen und Fernsehserien, die „bis in den letzten Winkel der Erde ausgestrahlt werden“ (Peter Turrini, Spitze des Eisberges in: NF 289/290) wird die Empörung über den Terrorismus als heuchlerisch entlarvt. Chile, der Iran und eine Reihe von Staaten, die Aufzählung der Ausnahmen wäre kürzer, benutzen die Folter, Todesstrafe, staatlichen Terror in vielen Formen; Opposition wird als Verbrechen mit staatlicher Blutrache gerächt oder sie gilt als Geisteskrankheit und wird der Psychiatrie anvertraut.
Während der RAF-Granatwerfer als Ausgeburt von Wahnsinnigen herumgezeigt wird, schmückt man die Konstrukteure von Wasserstoffbomben mit Verdienstorden. Dies ist die Logik und Moral der Herrschenden!
Maßstäbe
Wenn man sich nicht den Vorwurf gefallen lassen will, leichtfertig und aus reiner Lust an der Polemik solche schwerwiegenden Anklagen zu erheben, wird man seine Maßstäbe der Beurteilung offenlegen müssen, denn offensichtlich sind sie den an der Diskussion beteiligten nicht gemeinsam.
Da die Diskussion um den Buback-Nachruf von dessen Gegnern mit moralischen Argumenten geführt wurde, müssen wir auch dazu einige Bemerkungen machen. Es ist einer der alten Streitpunkte zwischen Marxisten und Anarchisten, welche Rolle die Moral bei revolutionären Bewegungen und in der Gesellschaft überhaupt spielt. Viele Marxisten sind aufgrund ihres Geschichtsverständnisses a-moralisch, d.h. sie fragen: nützt dieser Standpunkt dem fortschrittlichen oder reaktionären Lager? Ob Aktionen gerechtfertigt sind oder nicht erweist sich daran, ob sie den historischen Prozeß voranbringen oder nicht. Suche nach moralischen Grundsätzen ist Kennzeichen der Zwischenschichten, die Angst haben, zwischen die beiden Heere zugeraten. Für alle bindende Moralvorschriften gibt es nicht, sie sind Ideologie, die die Kriegführung der herrschenden Klasse verschleiert. Dieser Standpunkt hatte u.a. zur praktischen Konsequenz, daß die stalinistischen Lager, Zwangsarbeit usw. von vielen Marxisten und Bürgerlichen nicht kritisiert wurden, weil sie angeblich die Sache des Sozialismus voranbringen oder es nur den Gegnern nützt, über so etwas zu sprechen. Wem aber nützt es, darüber zu schweigen?
In diesem und den meisten anderen Fällen ist unser Standpunkt auf der Seite der Opfer. Nicht nur da, wo diese Opfer eine angeblich zum Sieg berufene Klasse, Nation oder Gruppe darstellen. Folter, Zwangsarbeit, Unterdrückung und Erniedrigung sind niemals revolutionär. Die Überlegenheit des Anarchismus über andere politische Theorien ergibt sich für uns daraus, daß es keine anarchistischen Konzentrationslager geben kann.
Der Maßstab unserer Kritik der herrschenden Klasse und der alten Ordnung ist alles andere als frei von Moral. Die Frage, ob diese Ordnung den Menschen gemäß ist, ob sie ihre Bedürfnisse befriedigt, ihnen Leben, Freiheit und Glück sichert oder ob sie sie krank macht, unzufrieden, passiv und hilflos führt uns zu der Antwort, daß wir diese Gesellschaft bekämpfen, weil sie der Selbstverwirklichung der Individuen entgegensteht, sie unterjocht, manipuliert und auf vielfache Weise um ihr Leben bringt.
Strukturelle Gewalt
Die Ansicht, daß die kapitalistische Gesellschaft weltweit als Träger „struktureller Gewalt“ verstanden werden muß, einer Gewalt also, die nicht von einem klar erkennbaren Akteur vertreten wird wie die direkte Gewalt und nicht unbedingt blutig und offen gewaltsam ist, sondern in den Strukturen als ein stummer, aber von den Resultaten her gesehen nicht weniger grausamer Zustand, diese Ansicht wird zunehmend auch kriminalisiert und soll aus dem Verkehr gezogen werden. Auf der CDU-Tagung zum Terrorismus wurde der Begriff der strukturellen Gewalt kritisiert: seine Konturen seien unscharf und man könne so keine klare Grenze mehr zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit ziehen. Damit meint die CDU und ihr „wissenschaftlicher Anhang“: es droht eine Niederlage im semantischen Weltkrieg, wenn das staatliche Gewaltmonopol und wirtschaftliche Ausbeutung als strukturelle Gewalt in Frage gestellt werden können. Die behauptete Gewaltlosigkeit der Herrschaftsordnung wird in Frage gestellt, und dies rechtfertigt Gegengewalt, glaubt z.B., Prof. Kielmansegg. Daß dies so einfach gerade nicht ist, ist ein zentraler Gegenstand der kritischen Friedensforschung; und wenn alle, die strukturelle Gewaltverhältnisse in dieser Gesellschaft erkennen, sich bewaffnen würden, dann wäre der Bürgerkrieg allerdings im vollen Gang.
Dabei ist die Position, nicht nur diese oder jene Gewaltform zu betrachten und die dagegen antretende blind zu rechtfertigen die einzige, die eine begründete und nicht platt-ideologische Gewaltkritik ermöglicht. Dies ist auch an dem Mescalero-Text erkennbar.
Die streitbare Demokratie und der „gewaltlose“ Nationalsozialismus
In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Mosaikstein der Repression erwähnenswert. Es gibt eine Debatte uni die „streitbare Demokratie“ (vgl. dazu beispielsweise aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung das Parlament 3/78). Diese Debatte ist der Suche nach den geeigneten Mitteln zur Abwehr „gewaltlos vorgehender antidemokratischer Bestrebungen“ gewidmet (so Hella Mandt: Grenzen politischer Toleranz in der offenen Gesellschaft. Zum Verfassungsgrundsatz der streitbaren Demokratie ebenda S. 8). Als eine gewaltlose Form der Machtergreifung wird dabei der Nationalsozialismus genannt, nach dem bundesrepublikanischen Muster der Vergangenheitsbewältigung, nach dem etwa Berufsverbote mit dem Sieg der Nazis begründet werden, was die doppelte Funktion hat, einerseits den Erfolg des Nationalsozialismus nicht weiter erklären zu müssen, und andererseits die Tradition der Abwehr gegen links mit der oberflächlichen Formel links=rechts fortsetzen zu können. Der Höhepunkt solcher interessenbedingter Ignoranz ist es natürlich den Nationalsozialismus als „gewaltlos“ zu bezeichnen. Hier erweist sich gerade die Notwendigkeit des Begriffs der strukturellen Gewalt, obwohl selbst eine oberflächliche Betrachtung die faschistischen Banden niemals „gewaltlos“ erscheinen lassen dürfte.
Die interessante Frage dabei betrifft eher den Parlamentarismus und die staatliche Bürokratie, die es den Faschisten allerdings leicht gemacht haben. Wenn man das staatliche Gewaltmonopol mit der Bezeichnung gewaltlos beschreiben will, wie es die Demagogie tut, der es nicht um die Schicksale wirklicher Menschen. sondern um die Staatsräson geht, dann allerdings ist es nur natürlich, daß man auch den Nationalsozialismus als „gewaltlos“ verstehen kann.
Wichtig ist es festzuhalten: während die kritische Friedensforschung wegen des Begriffes der strukturellen Gewalt als Wegbereiter des Terrorismus angeschwärzt wird, werden die schlimmsten Terroristen (die ein für alle mal Skepsis gegenüber staatlicher Macht begründen sollten, auch bei denen, die keine Anarchisten sind) als „gewaltlos“ bezeichnet! Dies mit dem Zweck, die wirklichen gewaltlosen Bewegungen heute – als terroristisch hinstellen oder jedenfalls mit sogenannten demokratieadäquaten Mitteln bekämpfen zu können.
Wir haben in diesem Abschnitt einige ideologische und politische Entwicklungen skizziert die die herrschende Politik gegenüber oppositionellen Bewegungen kennzeichnen. Der Zusammenhang mit wirtschaftlichen Krisen und den ökonomischen Interessen des BRD-Kapitals ist teils offensichtlich, teils würde es zu weit führen unsere Einschätzung dazu hier darzustellen. Wichtig erscheint uns, festzuhalten, daß die Maßnahmen, die als Terroristenbekämpfung ausgegeben werden, teilweise sicher schon ältere Pläne und allgemeine Ziele herrschender Politik hier nur aktualisieren. Daß allerdings die Politik der bewaffneten Gruppen so ist, daß damit der massive und ungeduldige Abbau von Freiheitsrechten legitimiert werden kann und einen breiten Widerstand gegen solche Einschränkungen verhindert, spricht gegen die Politik dieser Gruppen. In welchem Ausmaß sie dem Kalkül des Staates dienstbar gemacht werden können, zeigt sich vor allem daran, daß sie die Identifikation mit dem Staat und besonders militaristischen Attitüden wie die Heldenverehrung der GSG 9 voranbringen. Allerdings ist in Mogadischu der Staat tatsächlich als Retter unschuldiger Geiseln aufgetreten, während das „Commando Martyr Halimeh“ hier ein My Lai inszenieren wollte. In diesem Zusammenhang: die Rolle der bewaffneten Gruppen bei der Rechtfertigung staatlicher Aktivitäten, die ohne sie schwerer zu begründen wären ist oft auf einen direkten Zusammenhang zwischen Spitzeln, agents provokateurs und der Politik des bewaffneten Kampfes zurückgeführt worden. Obwohl es das erwiesenermaßen gegeben hat, läßt sich die RAF nicht darauf reduzieren.
Eine andere Frage allerdings ist, ob nicht durch den Staatsapparat, besonders die Justiz, Leute regelrecht und vorhersehbar in den Untergrund getrieben werden. Damit soll ihre Entscheidung nicht verneint und ihnen ihre Verantwortung nicht abgesprochen werden. Die Entscheidung, den bewaffneten Kampf aufzunehmen, wird allerdings oft aus der Ansicht heraus getroffen, daß es in solchen eingeengten Verhältnissen, die kaum Luft zum Atmen lassen und die Menschen allmählich umbringen, keine Alternative gibt als Unterwerfung und Selbstaufgabe oder bewaffneter Kampf Daß Leute nur diese Wahl sehen, ist auch ein Versagen der legalen Linken und der gewaltfreien Aktionsgruppen.
Wenn es dem Staat gelingt, Menschen durch Repressionen fertig zu machen und ihnen jede Hoffnung zu nehmen, dann wird die „Terroristenbekämpfung“ zur Ursache des Terrorismus. Die Möglichkeiten, sich zu wehren und eine lebendige Alternative zum Bestehenden aufzubauen, sind tatsächlich sehr beengt. Wenn man sich anschaut, wie Schadenersatzforderungen (wie sie den Bewohnern der Anti-Atom-Dörfer Brokdorf und Grohnde geschickt wurden, die die Kosten des gegen sie unternommenen Polizeieinsatzes tragen sollen) und Haftstrafen (wie sie den angeklagten Grohnde-Demonstranten vom 19.3. drohen) die Perspektive eines Menschen ruinieren können, und daß der Staat alles daran setzt, das zu erreichen, dann könnte man glauben, er wolle die eingeplanten Terroristen selbst erziehen.
Einige Bemerkungen zum Nachruf
Das Aufregende am Mescalero-Artikel war gerade das offene Eingeständnis von Gefühlen, die später als ambivalente deutlich werden und die der Mescalero selbst kritisiert (vergl. den Text im Anhang).
Das Verbot, sich solche Gefühle einzugestehen, sich zuzugestehen, daß man nicht unberührt geblieben ist von der Repression. daß man Feindschaft spürt, auf Rache sinnt, ohnmächtige Gewaltphantasien ausspinnt, hat er durchbrochen Anzunehmen daß auf solche Rechenschaft über die Gewalt in uns eine gewaltsame Praxis folgen muß, ist völlig falsch. Eine solche Aufgabe der Heuchelei kann im Gegenteil sehr gut den Übergang zu einer gewaltlosen Theorie und Praxis begründen. Gewaltlosigkeit verlangt auch den Mut zur Selbsterkenntnis, Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber, Wenn die Journalisten, Politiker und Juristen, die den Mescalero wegen seines Fasziniert-seins von der Gewalt als Unmenschen hingestellt haben, sich nicht selbst belügen müßten, kämen sie wohl zu dem Ergebnis, daß sie nicht weniger von Gewalt fasziniert sondern nur weniger ehrlich sind.
Allerdings erscheint uns das Eingeständnis der klammheimlichen Freude (ein Begriff der vielleicht deshalb so zum geflügelten Wort geworden ist, weil die darin ausgedrückte Faszination von sehr vielen Menschen geteilt wird?) teilweise übertrieben und sehr dick aufgetragen. Es drängt sich der Gedanke auf, der Mescalero habe hier seine Gefühle stilisiert, vielleicht, um Leute, für die er diesen Text besonders geschrieben hat, Leute, die sich mit der RAF identifizieren, davon zu überzeugen, daß er keine weichlicher, schüchterner Pazifist ist, sondern ein wilder, wütender Kämpfer. Wenn er wirklich Leute überzeugen wollte/will, die wie er es von sich sagt, die Aktionen der bewaffneten Kämpfer goutieren und sich daran aufgeilen „wenn mal wieder was hochging…“ dann kann seine Überzeugungskraft tatsächlich davon abhängen, ob er als einer der ihren akzeptiert wird. Vielleicht also muß die Sprache des Mescalero auch als eine Art Ausweis verstanden werden, auf dieser Seite der Barrikade zustehen und die Parole zu kenne.
Anti-autoritäre Gewalt
Der Mescalero lehnt die Gewalt ab, weil er die Strategie der Liquidierung als Strategie der Herrschenden begreift, weil er den Weg zum Sozialismus nicht mit Leichen gepflastert sehen will, weil Sozialisten den M Capone, dem erfolgreichen Geschäftsmann, ähnlich sehen sollen.
Er sieht auch, daß die Eingrenzung der Gewalt sehr schwer möglich ist, denn mit den Begründungen, mit denen Buback, Göbel und Wurster getötet wurden, ließen sich sehr viele Morde rechtfertigen: „Der Verkäufer an der Ecke, der dauernd Kopf ab brüllt.“ Er kritisiert die Aktionen der Guerilla als Stellvertreterpolitik und Politik der Persönlichkeiten.
Allerdings scheint er für Argentinien oder Spanien die Skrupel zurückzuweisen, die er für die BRD formuliert. Wenn wirklicher Volkshaß auf die Unterdrücker zielt, dann soll ihre Liquidierung gerechtfertigt sein, Ist die Mehrheit ein Maßstab? Ist sie berechtigt, über Leben und Tod zu entscheiden?
Offen bleibt bei dem Nachruf auch die alternative Strategie zur RAF. Eine antiautoritäre Gewalt, eine fröhliche und populäre Militanz wird da gefordert. Dazu müssen einige Bemerkungen gemacht werden:
Wenn Gewaltanwendung effektiv sein soll, dann kann sie nicht spontan sein und sie wird bald alles andere sein als fröhlich. Wer einen Krieg gewinnen will, der muß tatsächlich die Tötungsmaschine werden, kalt und gehorsam, von der Che Guevara gesprochen hat Im Krieg gewinnt nicht das Recht und die Wahrheit und das Glück, sondern hier entscheiden Waffen, Disziplin, Härte. Gewalt ist niemals antiautoritär.
Es ist kein Zufall, daß sich Anarchisten für gewaltfreie Aktionen interessiert haben, denn die Praxis der Gewalt ist mit antiautoritären Prinzipien unvereinbar. Dies haben die Gegner der Anarchisten früh begriffen:
„… Sie fordern, daß der erste Akt der sozialen Revolution die Abschaffung der Autorität sei. Haben diese Herren nie eine Revolution gesehen? Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding (!) das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem andern Teil seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritärsten Mitteln aufzwingt; und die siegreiche Partei muß, wenn sie nicht umsonst gekämpft haben will, dieser Herrschaft Dauer verleihen durch Schrecken (!), den ihre Waffen den Reaktionären einflößen (Friedrich Engels, Von der Autorität (1873) MEW 18 S.308)
Wir werden auf die Frage der Alternative zur Gewaltpolitik noch eingehen. Jetzt wollen wir noch einige interessante Aspekte der Diskussion um den Nachruf aufgreifen.
Nicht der Indianer ist grausam, sondern die Gesellschaft, die ihn ausrottet!
Wohl um zu beweisen, wie ernsthaft und auf der Höhe der Zeit sie selbst sind, haben zahlreiche Kommentatoren den „Mescalero“ wegen seines „Indianerspiels“ attackiert – Custers letzter Einsatz. So hat der AStA der PH Göttingen den Nachruf nachgedruckt mit einem erklärenden Kommentar: der Schreiber bezöge seinen theoretischen Hintergrund „aus der überaus sorgfältigen Lektüre der Werke von Bakunin, Cohn-Bendit und Karl May (und ein ganz klein bißchen von Karl Marx). Einmal mehr hat der alte Satz von Lenin seine Richtigkeit unter Beweis gestellt, wonach der Anarchismus (….) ein Produkt der Verzweiflung (ist). Die Geisteshaltung des aus dem Gleise geworfenen Intellektuellen (…) aber nicht des Proletariers!“ Man selbst ist nicht verzweifelt, wer verzweifelt ist, ist kein Proletarier, die verzweifeln offenbar nicht.
Schade, daß auch Thomas Schmid in der Autonomie 10 solche abgeschmackten Sätze nicht vermeiden konnte ,das ist kein Kokettieren mit Indianern mehr, nicht Mescaleros sanfter und gewaltloser Neoprimitivismus“ (5.43). Nein, das ist der Neoprimitivismus derer, die den allseits belächelten und gebeutelten Mescalero mit solchen billigen Sprüchen bedenken. Die Indianer-Identifizierung ist nämlich viel interessanter und aussagefähiger als diejenigen ahnen, die dabei nur Karl May assoziieren und nicht einmal ihm gerecht werden.
In links Nr.94 (Dez.77) hat Jens Huhn einige Traditionen genannt, in denen das Interesse für Indianer eine Kritik bestehender Lebensformen ausdrückte – mit unterschiedlichen Graden der Bewußtheit. In der Charakterisierung des unentfremdeten, gütigen Wilden drückte sich oft die Forderung nach der Verwirklichung bürgerlicher Humanitätsversprechen aus. Dieses Versprechen wurde mehr und mehr in Randschichten des bürgerlichen Bewußtseins abgedrängt und so besonders zum Bestandteil der Kindheit (Vgl. GWR 20/21 Kindermärchen). Hier war die Freiheit zum Abenteuer gemacht und als unreif ausgegrenzt. Die Wiederbelebung indianischer Traditionen, eine gewisse Aufklärung des Mythos durch weit verbreitete Bücher und Filme aber auch neue Mystifikationen der Stammesgesellschaften üben heute eine beträchtliche Faszination aus. Es gibt dabei verschiedene, widersprüchliche Elemente, aber der Zusammenhang zur Kritik des entfremdeten Lebens, der Großtechnologie und der staatlichen Bürokratien ist unübersehbar. Bei den Stadtindianern ist eine höchst ambivalente Mischung aus Aufklärung (die das ausgegrenzte Freiheitsversprechen wieder in den Mittelpunkt stellt) und Mythos (der Vorurteile über Indianer teils tradiert, teils parodiert) erkennbar. Es besteht durchaus die Gefahr, daß die Tragödie des Völkermords an den Indianern als Farce wiederersteht. Aber daß man die imperialistische Identifizierung mit den Siegern der Geschichte aufbricht und sich mit den Opfern identifiziert ist ein Zeichen der Hoffnung. Die imperialistische Moral, die Menschen als Hindernisse (die extensive Wirtschaftsweise der Indianer und ihre Unfähigkeit und Unwilligkeit, ihre Lebensweise aufzugeben, wobei man sehen muß, daß oft genug schon die Andersartigkeit den Völkermord rechtfertigte und selbst Indianer, die sich der ‚weißen‘ Kultur anpassen wollten, sterben mußten .. .) oder als bloße Mittel (Sklaven) sieht, ist eine der wichtigsten Quellen der Gewalt, und wenn sie hier überwunden wird, dann ist damit viel gewonnen, Das Bewußtsein, daß ganz andere Lebensformen eine Existenzberechtigung haben und vielleicht sogar in bestimmten Bereichen überlegen sind, ist wichtig, um die totalitäre Waren und Staatenwelt, die sich tief in jedem Individuum verankert hat, zu zerstören und um die Autonomie der Menschen, kleiner Gruppen, die ich auf ihre Vernunft und ihr Gewissen verlassen, statt auf Befehle und Spezialisten zu stärken.
Schlimm wäre es, wenn sich daraus ein neuer Rassismus entwickeln würde, der gerade andersartigen Menschen die Existenzberechtigung abspräche und beispielsweise die Normen der jugendlichen Subkultur absolut setzte. Für den Erfolg des revolutionären Projekts ist ausschlaggebend, daß Menschen Subjekte werden, ohne andere zum Objekt zu machen, daß sie ihre Freiheit nicht auf Kosten anderer wollen.
Im Text des Mescalero gibt es in dieser Frage einige Ambivalenzen, die ihm teilweise bewußt sind. Neben dem schon oben erwähnten schwarz-roten Verbrecheralbum gehört dazu auch die Passage: „Warum liquidieren? Lächerlichkeit kann auch töten“ Aber muß mm denn töten? Ist die Wahl, die man zu treffen hat, nur die zwischen Waffen, die man aus der Hand geschossen bekommen kann und anderen? Der Gesamtzusammenhang des Textes läßt hier durchaus die Deutung zu, daß nicht die reale Tötung gemeint ist, sondern der Entzug von Macht (durch Lächerlichkeit, ein wenig erinnert das an des Kaisers neue Kleider).
Aber es ist nicht eindeutig, was da gemeint ist. Sollte „Lächerlichkeit kann auch töten“ so zu verstehen sein, daß man nur selbst die Konsequenz scheut, aber das Ziel verfolgt, einen Menschen so „unmöglich“ (!) zu machen, daß er sein Gesicht verliert und nicht weiterleben kann, dann ist dies ja auch eine Liquidierungsstrategie, die nur weniger ehrlich ist. Aus dem Zusammenhang des Textes muß man deshalb wohl schließen, daß gemeint ist, daß hier die Rolle unmöglich gemacht wird, nicht die Person. Und das ist in der Tat revolutionär.
Im Reservat
Allerdings kann sich in dem Mescaleropseudonym noch etwas anderes ausdrücken, das spezifischer ist als die Identifikation mit den Opfern, statt mit den Siegern der Geschichte. Es kann sich darin das Gefühl offenbaren, zum Untergang verurteilt zu sein, eigentlich keine Chance zu haben gegen die überwältigende Maschinerie. Die Frage ist u.a.: Hat Güte und Menschlichkeit eine Chance, wenn sie mit denen konfrontiert ist, denen ihr Erfolg jedes Mittel rechtfertigt. Die Freiheit des herrschenden weißen Mannes ist die Vernichtung. Unsere Freiheit in völlig anders, aber kann sie überleben?
Das ist, für Linke in Deutschland, noch immer eine aktuelle Frage. Es ist eine Tatsache, daß die Linke (das gilt für alle Fraktionen) eine Randgruppe darstellt. Sie hat keine Stimme in der bürgerlichen Öffentlichkeit, ist isoliert und immer in Gefahr, ihre Marginalisierung zu akzeptieren, nicht offensiv ihre Alternativen zu verteidigen. Sie muß Angst haben, wenn sie realistisch ihre Kräfte und die der Reaktion sieht. Die Linke ist selten Täter und meist Opfer gewesen. Gerade jetzt wird sie verstärkt ausgebiirgert. Durch diese Prozesse ist die Linke immer in Gefahr, ein Stück ihres Selbstverständnisses von ihrem Gegner zu übernehmen und ihre Waffen aus den Händen ihrer Feinde zu nehmen. Peter Brückner hat mehrmals, auch in seiner lesenswerten Broschüre „Die Mescaleroaffäre“ auf das Problem hingewiesen, daß die Sieger den Besiegten, die Herrscher den Beherrschten „ein Stück falsches Selbstbewußtsein implantieren. Daß der majoristische Druck, der dann auf revolutionäre Köpfe und Herzen ausgeübt wird, so stark ist, daß sozusagen die Betroffenen anfangen, die Vorurteile der Gesellschaft gegen sie in eigene Regie zu übernehmen und so selbst meinen, sie seien so, wie sie da gezeichnet worden sind.“ (Peter Brückner, Gewalt, Gewaltlosigkeit, Gewaltmonopol des Staates, 8.1.76, Vortrag auf einem ESG-Seminar in Dassel).
Am Beispiel der Mescalero-Affäre und der Diskussion über die „Sympathisanten des Terrors“ hat sich eine Tendenz gezeigt, die sehr alt ist, archaisch könnte man auch sagen, und oft die schlimmste Barbarei zur Folge hatte. Prof Habermas hat das so beschrieben (Süddeutsche Zeitung v. 26./27.11.77):
„Es besteht heute die Gefahr, daß in Rechtsprechung, Politik, Verwaltung und Publizistik, in Schulen, Universitäten und Betrieben Carl Schmitts Theorie der ‚innerstaatlichen Feinderklärung‘ zur Routine wird. Nach dieser Theorie beweist der Staat seine Autorität in Gefahrensituationen dadurch, daß er ‚den inneren Feind‘ bestimmt…
Vor diesem Hintergrund erhält die systematische Suche nach Sympathisanten einen makabren Sinn. Die ‚geistig- politische Auseinandersetzung‘ verwandelt sich in dem Maße, wie sie zur Intellektuellenhetze ausartet, zum Versuch, den inneren Feind zu definieren.“
Diese Definitionsmacht muß in allen ihren Konsequenzen bekämpft werden (Traubes Lebenswandel/Matratzenlager hat ihn verdächtig gemacht). Sich die Mittel der Auseinandersetzung und das Selbstverständnis in keiner Weise vom Gegner diktieren zu lassen ist auch eine Forderung des Buback-Nachrufs, die der Nachruf selbst nicht ganz einlöst.
Wer freut sich und worüber in Deutschland?
Der folgende Abschnitt unserer Erklärung wird kurz sein; er soll das Ereignis des Buback-Nachrufs und der anschließenden breitgestreuten Empörung mit der Nicht-Empörung über ein Nicht-Ereignis konfrontieren.
Der SS-General Karl Wolff, „der ehemalige Chef von Himmlers persönlichem Stab, der – nach einem Dokument das 1946 dem Nürnberger Gericht vorgelegen hatte -„mit besonderer Freude“ die Nachricht begrüßt hatte, daß ’nun schon seit 14 Tagen täglich ein Zug mit je 5000 Angehörigen des auserwählten Volkes‘ von Warschau nach Treblinka, einem östlichen Vernichtungslager, gefahren wurde…“ (Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen S. 40) dieser Karl Wolff, der darüber ganz offen seine besondere Freude erklärte, wurde in der BRD erst sehr spät angeklagt. Erst nach Eichmanns Verhaftung gab es in der BRD die ersten ernsthaften Bemühungen, wenigstens die Nazis vor Gericht zu bringen, die an Morden beteiligt waren. 1958 war eine Zentralstelle für die Aufklärung von Nazi-Verbrechen (Leiter: Oberstaatsanwalt Erwin Schüle) gegründet worden, die aber große Schwierigkeiten hatte, in den Ländem Strafverfolgungen durchzusetzen. Bekannte Nazis, deren Verbrechen längst bewiesen und veröffentlicht waren, lebten völig ungestört und ohne falschen Namen in der BRD. Selbst später noch kamen sie mit „phantastisch milden Urteilen“ (H. Arendt, S.39) davon.
Der letzte dieser Prozesse, der zur Zeit in Düsseldorf gegen Nazis läuft, die das Vemichtungslager Majdanek mitbetrieben hatten, ist zum Tummelplatz neonazistischer Agitatoren geworden, die Zeugen für unglaubwürdig erklären, wenn sie mit Juden befreundet sind oder jüdische Lehrer hatten. Diese Agitatoren sind von Beruf Anwälte (vgl. FR v. 22.2.78).
Eichmann selbst wäre vielleicht nicht entdeckt worden, wenn er nicht mit seinen Taten angegeben hätte. In den letzten Kriegstagen hatte er schon den verhängnisvollen Satz gesagt: „Ich werde freudig (!) in die Grube springen, denn das Bewußtsein, fünf Millionen Juden (…) auf dem Gewissen zu haben, verleiht mir ein Gefühl großer Zufriedenheit.“ (zit. bei H. Arendt, S.75).
Für uns ist die Konsequenz aus diesen Verbrechen: alles zu tun, um nicht in Situationen zu kommen, wo wir als Herren über Leben und Tod agieren, also Handlungen und Strukturen, die der Nazibarbarei ähnlich sehen oder ihr dienen können oder ähnliche Terror-Regimes vorbereiten können oder sie rechtfertigen radikal abzulehnen. Dies ist eine Quelle unserer Ablehnung der Gewalt, nicht zuletzt auch der Staatsgewalt.
Damit soll keineswegs gesagt werden, Staat sei gleich Staat. Selbstverständlich besteht zwischen einer formalen Demokratie wie der der BRD und einem terroristischen Regime ein riesiger Unterschied; und es ist eine entscheidende Aufgabe der Sozialisten, die Rechte zu verteidigen, die erkämpft wurden. Sie werden allerdings nicht erkämpft und verteidigt durch parlamentarische Aktionen und Gesetzgebung, sondern durch das Bewußtsein und die direkte Aktion der Basis.
Über politische Moral
„Als Hitler sich bemühte, alle Juden umzubringen, wurde er uns als Verbrecher bezeichnet. In Ost und West verfolgen Kennedy, McMillan und andere eine Politik, die nicht allein sämtliche Juden, sondern auch alle übrigen Menschen umbringen wird. Sie sind noch um vieles ärger als Hitler, die Idee der Waffen als Massenvernichtung ist über alle Maßen grauenhaft und müßte jedem Menschen, der nur einen Funken Menschlichkeit in sich hat, ungeheuerlich erscheinen.
Ich werde nicht den Anschein erwecken, einer Regierung zu gehorchen, die das Massaker der Menschheit organisiert. Solchen Regierungen werde ich mich mit allen Mitteln der Gewaltlosigkeit widersetzen, die einigermaßen Erfolg versprechen, und fordere Sie auf ebenso zu fühlen. Wir können diesen Mördern nicht gehorchen. Sie sind schlecht und abscheulich. Sie sind die verdorbensten Menschen der gesamten Menschheitsgeschichte, und es ist unsere Pflicht, zu tun, was wir tun können.“
(Bertrand Russei, in einer Stegreifrede am 15.4.1961. Wegen dieser Rede wurde der 90jährige von einerm britischen Gericht zu Gefängnis verurteilt. Bereut hat er nicht. Vgl. Autobiographie Band III, besonders S. 215 ff)
Wir sind Gegner der Todesstrafe, die von naiven Weltverbesserern immer wieder gefordert wird, um das Böse (= die anderen) durch Abschreckung zu bannen.
Wir sind Gegner der Todesstrafe in jedem Fall und wie auch immer sie vollstreckt wird. Sei es per Atombombe oder mit dem Maschinengewehr, mit der Gaskammer oder mit dem Fließband, durch Schikanen und Erniedrigung oder durch öffentliche Hinrichtung. Ob formale Demokratie oder Volksgerichtshof, ob Volks- und Zukunftsstaat oder Fememord: die Strafe ist ein Verbrechen, das Menschen emiedrigt, Ungleichheit kraß bestätigt und Herrschaftsverhältnisse krönt, denn die Herrschaft über Leben und Tod ist die drastischste Form der Ungleichheit.
Kardinal Höffner hat in seinem Buch „Christliche Gesellschaftslehre“ (1975) dem Staat dieses Recht über Leben und Tod zugesprochen:
„Das Schwertrecht des Staates ist eine eindringliche Anerkennung der Unantastbarkeit höchster menschlicher Güter, besonders des menschlichen Lebens. Die Heiligkeit der Gottesordnung wird durch die Todesstrafe auch in diesem Äon als ‚mächtig‘ erwiesen.“ (zit. n. Hinkelammert a.a.O. S. 32)
Der vom Staat für die gute Sache dem Verbrecher und Rebellen beigebrachte Tod gilt als Tod des Todes, also als lebensfördernd. Genau dies ist die Rechtfertigung aller, die das Töten bejahen; das weitere ist dann eine Frage der Macht; wer kann seinen Anspruch, das Leben durch die Tötung der Gegner des Lebens zu schützen, durchsetzen und erfolgreich legitimieren?
Böse ist der Mord, der den Falschen trifft
In den Diskussionen um die Ermordung von Siegfried Buback, Wolfgang Göbel und Georg Wurster wurde der Mord manchmal auf eine Art und Weise verurteilt, die andere Morde gerade rechtfertigen sollte oder die unbeabsichtigte Wirkung haben kann, andere Morde zu legitimieren.
Das gilt schon für die Konzentration auf Buback, hinter dem seine Begleiter zurücktraten. Wer aber Mord vor allem dann verdammt, wenn davon ein exponierter Vertreter des Staates betroffen ist, oder dies gar noch als exponierter Vertreter des Staates tut, etwa als Bundeskanzler, ansonsten aber kühl und distanziert bleibt, der wird wohl allein die Wirkung erzielen, daß das Reden über moralische Prinzipien als interessenbedingte, eigentlich recht billige Propanganda gilt. Im vorliegenden Fall des Bundeskanzlers ist sein Verhalten angesichts der Selbstverbrennung von Hartmut Gründler vielleicht lehrreich, um die Funktion, die Moral für ihn hat, zu verstehen. Hartmut Gründler hat sich am Buß- und Bettag in Hamburg verbrannt, um u.a. den gleichzeitig stattfindenden SPD-Parteitag damit zu konfrontieren, daß das Kernenergieprogramm, das nach seinen Erkenntnissen zahlreiche schädliche Folgen und unkontrollierbare Gefahren mit sich bringt, unverantwortlich ist, und nur mit brutaler Gewalt und verlogener Propaganda gegen die Bürger durchgesetzt werden kann. Ein wirklicher „Bürgerdialog“ würde seiner Meinung nach zu dem Ergebnis führen, daß die gesundheitlichen Gefahren, Unfallrisiken und politisch-militärischen Folgen der Ausbreitung der Kernenergie so sind, daß die einzige rationale Entscheidung sein kann, die „friedliche Nutzung der Kernenergie“ abzulehnen. Hartmut Gründler hat sich stets an das Gewissen der Verantwortlichen gewandt und versucht, deren Versprechen einzuklagen und ihren Selbstdarstellungen (etwa Helmut Schmidts Buch „Als Christ in der politischen Verantwortung“) praktische Konsequenzen abzuringen. Dieses Experiment muß als bisher weitgehend gescheitert angesehen werden.
Die Folgen sind weitreichend: wenn etwa der Bundeskanzler einen Mord verurteilt (welche verurteilt er nicht?), so fragen sich tausende, die den Mord mit Erschrecken und Trauer erlebt haben, ob hier etwas nicht stimmt. Es ist möglich, daß es dem Tötungsverbot mehr schadet, wenn die Zyniker der Macht es im Munde führen als wenn ein Mord geschieht. Das Schlimme ist, daß jeder, der weiß, daß die Regierenden, die Militärs, die Manager der großen Konzerne nur eine Moral haben: den Erfolg, selbst zynisch wird und die Feiertagsreden über hehre Ideale verachtet, auch wenn die darin ausgesprochenen Gedanken eigentlich wahr sind.
Schließlich ist die offiziell verordnete Trauer (ein Widerspruch in sich) nur eine neue Bestätigung des Zwangs zur Heuchelei und ein Beweis der Unfähigkeit zu trauern in einer herrschenden Klasse, die nur Werte verteidigt, die sich in DM ausdrücken lassen. Zur Verteidigung dieser Werte können die Repräsentanten solcher Politik einmal hochmoralische Reden halten und im nächsten Moment über Leichen gehen, den Einsatz der Neutronenbombe rechtfertigen, den Todesschuß einführen, Staatsbesuch in Diktaturen genießen. Nichts bringt die ethischen Ideen so in Verruf wie dieser Gebrauch, den die Regierenden von ihnen machen – und die tatsächliche Ohnmacht wirklich freiheitlicher Bewegungen.
Aber nicht nur die Regierenden lehren Zynismus und sehen ihre Gegner als Tiere, für die die von Menschen gemachten Gesetze nicht anwendbar sind. Verzweiflung über die Ohnmacht moralischer Ideen aber auch Identifikation mit Machtpolitik anderer Nationalstaaten hat zur Folge, daß viele auf der Linken nur Hohn und Spott für solche Fragen kennen, die als „unwissenschaftlich“ ausgegrenzt werden. Während unter den Herrschenden viele fortgesetzt vom Schutz des Lebens reden, während sie das Gegenteil durchsetzen, reden unter den Linken viele über „die Schweine“ und über Volksbewaffnung, während sie den Schutz des Lebens versuchen. Die Ablehnung des Mordes wird auch von denen, die noch andere Gründe haben, meist mit den negativen Folgen: verschärfter Repression, Identifizierung der Bevölkerung mit dem Staat usw. begründet, was keineswegs als „bloß taktisch“ mißverstanden werden soll. Viele unter denen, die so argumentieren, würden den Mord auch zu einer anderen, „günstigeren“ Zeit verwerfen; wenn der Staat die terroristischen Aktionen nicht zum Generalangriff auf Freiheitsrechte nutzte, dann würden die Gründe gegen den Mord klarer hervortreten, da die staatliche Repression oft wieder eine gewisse Rechtfertigung für die Guerilla darstellt…
Besonders in den linken Organisationen, die hierarchische Parteiorganisationen ablehnen, entwickelt sich ein Interesse an solchen Fragen. Das ist natürlich, da hierarchische Organisationen eine wichtige Instanz der Gegenaufklärung sind und bei der Zerstörung der Urteilsfähigkeit der Individuen eine große Rolle spielen. Beispiele für dieses Interesse sind „Stammheim und Tel Zaatar. Versuch über Moral und Politik“ in Autonomie 10, die Diskussionen im „Pflasterstrand“ nach der Erklärung von Hans-Joachim Klein gegen die Guerilla und auch der Erfolg eines Buches wie „Köchin und Menschenfresser. Über die Beziehung zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager“ (Wagenbach) von Andre Glucksmann. Selbstverständlich muß hier auch das Sozialistische Büro genannt werden und die Schriften von Peter Brückner (und Barbara Sichtermann: „Gewalt und Solidarität“). Und hierhin gehört exakt der Mescalero, dessen Schrift auf einige dieser Diskussionen verweist und den Ablösungsprozeß von der Gewaltfaszination dokumentiert.
Aber selbst in Organisationen, deren Programm den bewaffneten Kampf befürwortet, gibt es Individuen, die skeptisch sind, die Alternative nicht für glaubwürdig halten, aber mutig eingreifen würden, um Gewalt zu verhindern, wenn sie in einer Situation sind, wo sich diese Frage stellt. Leider haben viele von ihnen gelernt, ihre eigenen Gefühle gegen Gewaltanwendung abzulehnen oder für fernere Zeiten und ungewisse Situationen einen Gewaltvorbehalt zu machen, der sie hindert, die Möglichkeiten gewaltfreien Widerstandes emsthaft in Erwagung zu ziehen.
Ein Argument der RAF war: Stadtguerilla „geht davon aus, daß dann, wenn die Situation reif sein wird für den bewaffneten Kampf, es zu spät sein wird ihn erst vorzubereiten.“ (Rote Armee Fraktion: Das Konzept Stadtguerlla) Wenn der gewaltsame Klassenkrieg unvermeidlich kommt und man den Volkskrieg wlll, dann ist dieser Satz richtig. Ob es allerdings möglich ist, ihn antizipatorisch zu führen und welche Folgen das hat, ist eine andere Frage, die man sich auch stellen muß und zu deren Beantwortung inzwischen einiges Material vorliegt.
Person und Rolle
Bevor wir darauf näher eingehen, wollen wir noch einige Gedanken zur Moral des Widerstandes, im Gegensatz zur Moral der Herrschaft darstellen. Die endgültige, nicht wiedergutzumachende Schädigung und Zerstörung eines Menschen ist nie einfach ein untergeordneter Teilaspekt eines großen Kampfes, sondern von unsrer Perspektive her wird ein einmaliges Leben, eine Person zerstört. Davon zu abstrahieren, daß Unschuldige getötet werden, ist gefährlich. Unschuldig sind nicht nur die, die von einer Bombe zerrissen werden, die nicht besonders sie treffen sollte oder nach ihrem Selbstverständnis Unbeteiligte.
Die Annahme, dieser oder jener Mensch sei nur schlecht und man selbst sei zu einem endgültigen Urteil über ihn berechtigt ist falsch. Wenn man sieht wie Leute aus den Guerillagruppen zu einer Selbstkritik und zur Veränderung fähig waren (Bommi Baumann, H.J. Klein, Horst Mahler, Hans-Jürgen Bäcker und andere), was ein großer Anlaß zu Hoffnung ist, dann verbietet sich jede Verteufelung, auch wenn man Zorn über ihre Aktionen empfinden muß. Das gleiche gilt für Individuen aus der herrschenden Klasse. Wenn man an Pastor Albertz denkt, der zu seiner Zeit als Regierender Bürgermeister von West-Berlin große Schuld auf sich geladen hat, später sich aber von dem Amt und seiner Sicht der Dinge so distanzieren konnte, daß seine Stimme warm und menschlich wurde, dann sieht man wie unsinnig es ist, Konflikte zu personalisieren und eine Pogromhetze gegen einzelne anzustimmen. Für uns ist ein Polizist, der seinen Dienst quittiert, der sich weigert, auf friedliche Demonstranten einzuschlagen, der einen anderen Polizisten zurückhält, unendlich viel wichtiger als ein verprügelter „Bulle“. Ein Manager, der die Todesindustrie verrät, ist für uns ein Gewinn, ein erschossener Manager der Todesindustrie eine Niederlage. Wissenschaftler, die ihre Kenntnisse und Fähigkeiten für den Kampf um eine neue Gesellschaft einsetzen und die Energieprognosen, Kontrollpro gramme, Pseudoreformen entlarven (und die Bewegung gegen Kemenergie kennt ja eine große Zahl Beispiele für solche Entscheidungen), verbieten es, den Stab über Menschen zu brechen und ihnen jede Veränderungsmöglichkeit abzusprechen.
Wohlgemerkt, wir stellen uns das Ende des Kapitalismus nicht so vor, daß die Herrschenden sich bekehren. Schließlich wird ein Untemehmer, der nicht mehr mitmachen will, nicht das System der Ausbeutung verändern, sondern nur bankrott gehen oder sich eben zur Ruhe setzen. (Was übrigens zeigt, daß der Ermordung einzelner Personen ebensowenig wie deren Bekehrung eine Bedeutung für die zentralen Probleme der Revolution zukommt Trotzdem ist der Unterschied in den Wirkungen gewaltig. Die Macht, die eine Bewegung hat, die Individuen aus der herrschenden Klasse überzeugen und herrschende Gewalt neutralisieren kann, ist in jeder Hinsicht viel bedeutsamer als die einer Bewegung, die Individuen aus der herrschenden Klasse liquidiert, und die Wirkungen beider Ereignisse sind gerade an Punkten verschieden, die für eine revolutionäre Strategie von großer Bedeutung sind.)
Die Unterscheidung von Rolle und Person ist notwendig für jede Bewegung die nicht rassistisch werden will.
„Heute ist’s so, daß die Kleider, die wir umhängen haben, einander auf Leben und Tod bekämpfen, daß aber die lebendigen Menschen an Leib und Seele die Wunden davontragen. Der Waffenrock und die Arbeitsbluse sind heute die Dirigenten des Lebens; das Fleisch und Blut, das darin steckt, ist der mechanische und folgsame Automat … Besser wird’s erst, wenn die Menschen keine Rolle mehr spielen …“ (Gustav Landauer, Polizisten und Mörder in: Zwang und Befreiung. Eine Auswahl aus seinem Werk, Köln 1968 S. 226)
Die Moral der Revolte ist gerade (und nicht nur zunächst) Protest gegen die Ungleichheit, gegen das Töten, sie braucht zu ihrer Begründung den glaubwürdigen Anspruch auf Brüderlichkeit/Schwesterlichkeit unter allen Menschen, was entschieden mehr ist als Gleichheit vor einem tyrannischen oder demokratischen Gesetz, das an alles und jeden den gleichen jakobinistischen Maßstab anlegt.
Ziele und Mittel
„Aber das ist doch unhistorisch! Gewalt hat doch in der Geschichte eine unleugbare Bedeutung gehabt, progressive Bewegungen zu verteidigen. Sie ist der Geburtshelfer jeder neuen Gesellschaft.“ Unserer Meinung nach ist diese pauschale Aussage, die oft gemacht und mit meist eher diffusen Beispielen aus der Geschichte belegt wird, zu simpel. Man müßte hier jeweils konkret den Zusammenhang zwischen Zielen und Mitteln, den KIasseninteressen und Forderungen, für die Gewalt eingesetzt wurde, untersuchen. Daß fur die bürgerliche Revolution die Guillotine ein geeignetes Instrument war, heißt nicht, daß sie es für eine proletarische auch wäre. Wenn am Anfang der bürgerlichen Gesellschaft Gewalt eine entscheidende Rolle spielte, dann ist das keine „Erfahrung“, die ohne weiteres für den Übergang einer Gesellschaftsform in eine andere Gültigkeit beanspruchen kann. Wenn nationalistische Bewegungen ein beinah natürliches Verhältnis zur Gewalt pflegen, dann sagt das über den freiheitlichen Sozialismus gar nichts aus. Viele der in der Geschichte als „progressiv“ vorgestellten Bewegungen sind gelinde gesagt sehr widersprüchlich, oder es gab schon zu Zeiten ihres Kampfes andere Gruppen, die weitergehende Forderungen hatten und der Geschichtsschreibung der Sieger zum Opfer gefallen sind. Die Diskussion, die hier erforderlich wäre, läßt sich in dieser Erklärung nicht führen.
Die Abhängigkeit der verschiedenen Formen von Gewaltstrategien von den Zielen derer, die sie propagieren, hat schon Michail Bakunin 1868 aufgezeigt:
„Um eine radikale Revolution zu machen, muß man also die Stellungen und Dinge angreifen, das Eigentum und den Staat zerstören, dann wird man nicht nötig haben, Menschen zu zerstören und sich zu der unfehlbaren, unvermeidlichen Reaktion zu verurteilen, die in jeder Gesellschaft das Massakre von Menschen stets herbeiführte und stets herbeiführen wird.
… Man darf sich nicht wundern, wenn die Jakobiner und Blanguisten, die mehr aus Notwendigkeit als aus Überzeugung Sozialisten geworden sind, und für die der Sozialismus ein Mittel, nicht das Ziel der Revolution ist, da sie die Diktatur, das heißt die Zentralisation des Staates wollen und der Staat sie mit logischer und unvermeidlicher Notwendigkeit zur Wiederherstellung des Eigentums führen würde,- es ist sehr natürlich, sagen wir, daß diese, die keine radikale Revolution gegen die Dinge machen wollen, von einer blutigen Revolution gegen die Menschen träumen…“
Die Erkenntnis des Zusammenhangs von Zielen und Mitteln ist bei allen Anarchisten der entscheidende Ansatz ihrer Kritik am autoritären Sozialismus, der per Dekret und Gewalt eine neue Gesellschaft aufbauen will, der eine Minderheit von oben nach unten eine neue Gesellschaft aufbauen sieht, der die Freiheit abtötet unter dem Vorwand sie zu schützen. Die Inkonsequenzen, die verschiedene anarchistische Theoretiker dann begangen haben, können hier nicht erklärt werden; es spielen dabei verschiedene theoretische Einflüsse, Handlungszwänge in bestimmten Situationen usw. eine Rolle, schließlich auch, daß Gewaltlosigkeit lange ausschließlich christlich oder religiös begründet wurde und es isolierte Gruppen waren, die etwa Kriegsdienst- und Steuerverweigerung praktizierten, keinen Eid schworen usw. Dazu kommt eine Begrifflichkeit, die Gewaltlosigkeit als „Nicht-Widerstand“ (nach den Bibelworten „Widersteht nicht dem Bösen…“) interpretierte, was naturgemäß den antiautoritären Revolutionären die Beschäftigung mit gewaltlosen Aktionen nicht erleichterte. Schließlich gab es kein solch ausgeprägtes organisatorisches und waffentechnisches Übergewicht der herrschenden Klassen, so daß bewaffnete Aufstände, Barrikadenkämpfe aussichtsreich erschienen.
Bei den Versuchen, aus der Ziel-Mittel-Kritik ein konstruktives Programm abzuleiten, gab es auch viele Irrwege, Vorschläge, die entscheidende Fragen wie etwa die, wie man mit der Repression fertigwerden sollte, zu blauäugig lösten oder von Siedlungsexperimenten, Genossenschaften und freiheitlichen Lebensformen zu weitgehende Wirkungen erwarteten und deren Chancen erheblich überschätzten.
Trotzdem gibt es eine an Einsichten reiche Auseinandersetzung von Anarchisten mit der Gewaltfrage, die bei einigen Individuen und Gruppen des Anarchismus zu einer reflektierten und überzeugenden Gewaltkritik und Begründung für revolutionäre Gewaltlosigkeit geführt hat. (Wir haben in. „Anarchosyndikalismus und Gewaltfreiheit“, Sonderblatt zu GWR 32 einige dieser Stimmen zitiert. Das Buch von Gemot Jochheim: „Antimilitaristische Aktionstheorie, Soziale Revolution und Soziale Verteidigung. Zur Entwicklung der Gewaltfreiheitstheorie in der europäischen antimilitaristischen und sozialistischen Bewegung 1890-1940, unter besonderer Berücksichtigung der Niederlande“ Frankfurt 1977 enthält wertvolles Material, sehr viel ist noch unveröffentlicht und noch zu entdecken…)
Gustav Landauer hat in seinem Aufsatz „Anarchistische Gedanken über Anarchismus“ (l90l), mit dem individuellen Terror abgerechnet. Er sagt dort u.a.:
„Ein Ziel läßt sieh nur erreichen, wenn das Mittel schon in der Farbe dieses Ziels gefärbt ist Nie kommt man durch Gewalt zur Gewaltlosigkeit. Die Anarchie ist da, wo Anarchisten sind, wirkliche Anarchisten, solche Menschen, die keine Gewalt mehr üben.“
Er beruft sich auf Tolstoj, der durch seine Flugschriften gegen den Krieg und den Staat viele Anarchisten beeinflußt hat und für die Entwicklung einer Theorie und Praxis gewaltloser Kämpfe große Bedeutung hat.
Die Entwicklung der russischen Revolution zur Parteidiktatur wurde von den Anarchisten früh kritisiert; durch ihre Marxismus-Kritik verfügten sie über das entsprechende Instrumentarium und die nötige Sensibilität. Dazu kommt natürlich, daß sie bald von den Gewaltmethoden der Bolschewiki unangenehm betroffen waren.
„Dieselben Mittel, die sie zur Anwendung brachten, haben die Verwirklichung ihrer ursprünglichen Ziele verhindert. Kommunismus, Sozialismus, Freiheit, Gleichheit – alles, wofür sich die russischen Massen den größten Leiden unterzogen hatten, ist durch die bolschewistische Taktik, durch ihren jesuitischen Grundsatz, daß der Zweck alle Mittel heilige, in den Kot gezogen worden.“ (Emma Goldmann, Die Ursachen des Niedergangs der russischen Revolution Berlin 1922 (Neudruck 1968 u. 78))
„Es gibt keinen größeren Irrtum als den Glauben, Ziele und Zwecke seien eine Sache, Methoden und Taktiken eine andere … Jede menschliche Erfahrung lehrt, daß Methoden und Mittel nicht vom Endziel zu trennen sind. Durch individuelle Gewöhnung und soziale Praxis werden die angewandten Mittel zum integrierenden Bestandteil des Endziels; sie beeinflussen und modifizieren es, und schon werden Ziel und Mittel identisch.“ (E. Goldmann, Die russische Revolution und das autoritäre Prinzip, in: Borries/Brandies: Anarchismus Theorie/Kritik/Utopie Frankfurt 1970 S. 228)
In seiner Kritik des Etatismus hat Svetozar Stojanovic eine ähnliche Position vertreten:
„Der tatsächliche Charakter einer Bewegung kann nicht nur nach den propagierten Zielen, sondern muß auch an der tatsächlichen Aktivität, d.h. an den gebrauchten Mitteln gemessen werden…
Nicht nur das Mittel wird gemäß dem Ziel gewählt, sondern auch die echte, volle Natur des Ziels entdeckt sich erst in den gewählten und gebrauchten Mitteln. …
Die Erforschung der Mittel enthüllt häufig auch die Disproportion zwischen dem bewußten und unbewußten Ziel, nach dem man in Wirklichkeit strebt. Wenn sich die Menschen bei der Wahl der Mittel für dasselbe Ziel sehr uneinig sind, ist sofort zu befürchten, daß verborgene Unterschiede aller Wahrscheinlichkeit nach auch im Ziel bestehen…
Was ist Realisierung eines Zieles andereres als der Prozeß der Anwendung von Mitteln? Deshalb müssen wir von Anfang an einzelne Elemente des Zieles entwickeln. Andernfalls werden die Mittel ein anderes, nicht das angestrebte Ziel realisieren, das in diesem Fall bloßer Gedanke oder Wort bleibt.“ (S. Stojanovic, Kritik und Zukunft des Sozialismus München 1970 S. 177 ff)
Gegen die militaristische Skrupellosigkeit eines Trotzki, der von „quäkerischem Geschwätz über die Heiligkeit des Lebens“ sprach und sich bei der Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes um den Stalinismus verdient gemacht hat, wendet Stojanovic ein:
„Wenn ein Kommunist auf die sadistische Brutalität des Feindes mit gleichem Maß antwortet, wodurch unterscheidet er sich dann von diesem? Der rote Terror, der so auf den weißen Terror reagiert, ändert auch selbst, allen proklamierten humanistischen Zielen zum Trotz, unmerklich die Farbe … In seinen Händen verwandelt sich die revolutionäre Gewalt in Gewalt über die Revolution.“ (S. 196 f)
Aus den Schriften von Victor Serge und Isaak Steinberg kann man über diese Reaktion in der Revolution und die Verkriegung der Revolution sehr viel lernen, auch wenn wir nicht den Anschein erwecken wollen, die genannten und hier zitierten Autoren stützten unsere Schlußfolgerungen aus ihren Darstellungen.
Die Probleme, freiheitliche Formen des Kampfes gegen Gegner zu entwickeln, die alle Freiheit bekämpfen und aufgrund ihrer barbarischen Ziele vor barbarischen Mitteln nicht zurückschrecken müssen, sind uns bekannt und wir wollen nicht den Eindruck erwecken, hier ein „Rezept“ verkaufen zu können, das für jede Situation richtig ist. Wir können in dieser Erklärung nur einige Gesichtspunkte diskutieren, die berücksichtigt werden müssen und die für uns allerdings bestimmte Kampfformen ausschließen.
„Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution“ (Bart de Ligt)
Daß die Moral und damit auch die Stärke des Widerstandes andere Quellen und Formen als die Moral und die Stärke der Herrschenden hat, sagen auch die Terroristen, so die Leute, die Buback und seine Begleiter erschossen haben:
„Was revolutionärer Krieg ist – und das werden Bullen wie Buback nie begreifen -ist die Kontinuität, die Solidarität, die Liebe, die die Aktion der Guerilla ist…“
Vor allem ist revolutionärer Krieg – Krieg. Was da von der Revolution bleibt ist eine offene Frage. Wir wollen eine Antwort versuchen.
An dem oben zitierten Satz aus der Begründung für Bubacks (und die anderen?) Hinrichtung ist einiges bemerkenswert. Wer die Behauptung, Krieg sei Liebe, gegen die so ziemlich alles spricht, nicht teilen kann, der hat keinen Platz in einer Welt in der dieser Satz gilt. Vielleicht erklärt eben dies auch, warum der Mord an Bubacks Begleitern nicht der Rede wert scheint. Darin drückt sich aus, daß es außerhalb der Reihen der „fighter“ keine Unschuldigen gibt. Deshalb war auch vor der Flugzeugentführung die Behauptung falsch, das Volk wisse, gegen wen sich die Aktionen der Guerilla richten.
Das Volk weiß vielmehr recht genau, und dies auch nicht erst seit den Bomben bei Springer, daß es alles andere als unschuldig ist an der Existenz der Springer-Presse, der herrschenden Klasse und ihren Aktionen und an allen Fortschritten der formierten Gesellschaft. Dies ist eine der Grundlagen der Identifikation mit der Regierung (neben der Tatsache natürlich, daß sie die stärkeren Batallione besitzt und daß eben keine offensichtliche revolutionäre Krise besteht) …
Die Anzeichen einer reaktionären Mobilisierung wie der Beifall für die Nachricht von den „Selbstmorden“ in Stammheim auf dem Frankfurter Flughafen, Ansätze von Heldenverehrung für GSG 9 usw. sind nicht eindeutig. Sicher gibt es keine offen faschistischen Massen. Aber die Anhänger der Todesstrafe, die sich so bestätigen möchten, daß sie zu den netten Leuten gehören und nicht zu denen, die nicht resozialisierbar sind, suchen nicht einfach nur Abwechslung in ihrem langweiligen, nervtötenden Alltag. Natürlich wird die „Volksseele“ gekocht, aber warum ist das möglich?
Daß es wirklich eine Art Kriegszustand gibt, ist eine Vereinfachung, aber einige Anzeichen sind tatsächlich zu entdecken: Burgfriede und Volksgemeinschaftspropaganda, Feinderklärungen, Strafen für Fahnenflucht und Hochverrat, Aktionen gegen Kriegsdienstverweigerer. Natürlicherweise auch wachsender Nationalismus, was zum „Modell Deutschland“ dazugehört.
Und es zeigt sich wieder: die Moral des Widerstandes ist nicht die des Krieges, sondern die des Kriegsdienstverweigerers. Das bedeutet: Wir ziehen nicht in Euren Krieg. Wir nehmen Eure Waffen nicht. Und dies nicht zu tun, ist unser erster Sieg.
Der Kriegsdienstverweigerer hat neben den alten Ängsten: Angst vor Verfolgung, Isolation, getötet zu werden, eine neue alte Angst: Gewissensangst, die uns androht, das eigentliche Versagen, sei gerade das Funktionieren, das eigentlich tödliche sei: zu töten.
Fünftausend Jahre haben die herrschenden Klassen ihre Waffen entwickelt bis an einen Punkt, wo nichts mehr sicher ist und sie alles zerstören können. Aber nicht einmal diese Waffen können ihren Sieg sichern, können den Gehorsam unter allen Umständen erzwingen. Sie haben erreicht, was sie erreichen konnten, aber sicher ist ihre Sache damit keineswegs geworden.
Der Kriegsdienstverweigerer macht seine Moral, die ihm das Töten verbietet, zu einer politischen Tat. Diese Tat bleibt auch keine bloße Verweigerung, nicht passiv, sondern mobilisiert für die Selbstbestimmung und gegen den staatlich geplanten Massenmord.
Im Gefängnis wird der Kriegsdienstverweigerer nie zum Kriegsgefangenen, zum Bürger eines anderen Staates, von dem er seine Befehle empfangen will.
Er begibt sich nicht auf eine Ebene, die der Gegner bestimmt und wo er sich auskennt, er kämpft nicht mit den gleichen Mitteln, weil er für eine andere Sache kämpt. Dies ist keineswegs bloße Individualethik, die ein reines Gewissen macht, ohne den Mächtigen in den Arm zu fallen.
Revolutionen sind noch nie gegen eine intakte Armee, bewaffnete Kräfte, die auf Seiten der Herrschenden funktionierten, erfolgreich gewesen. Wenn die Truppen nicht (besonders nach verlorenen Kriegen) unzufrieden und unzuverlässig waren, mit der Sache des Volkes sympathisierten oder sogar in Scharen überliefen, war die Niederlage der revolutionären Sache unvermeidlich. Durch die Entwicklung der Destruktivkräfte hat sich die Aussicht, mit einer Freiwilligenarmee, schlecht ausgerüsteten und bewaffneten und disziplinierten Truppen gegen die Armee anzutreten, nur verschlechtert, obwohl sie, wie gesagt, noch nie gut war. Wenn die Moral von Soldaten und Polizisten nicht gebrochen wird und sie den Einsatz verweigern, wird es nichts als ein Blutbad geben. Früher hatte auch der bewaffnete Kampf, Barrikadenkampf und die militärische Taktik der bürgerlichen Revolutionen im wesentlichen die Aufgabe, die Moral der herrschenden Truppen zu zerrütten, nicht sie militärisch zu schlagen!
Die allgemeine Dienstpflicht hat im Gegensatz zur marxistischen Theorie nicht die Armee auf die Seite des Proletariats gebracht, sondern eher umgekehrt das Proletariat auf die Seite imperialistischer Kriegsziele.
Die Macht kommt aus den Gewehrläufen – aber wo läuft sie hin
Diese Probleme hat die RAF gesehen, und sie hat darauf eine Antwort versucht:
„Abzutragen ist der Berg der militärischen Potenz des bürgerlichen Staates. Wir können nicht erwarten, daß sich diese Potenz in einem internationalen Krieg, der ein Weltkrieg wäre, verschleift. Ein solcher Krieg würde in Mitteleuropa nicht nur die Armeen des Klassenfeindes, sondern auch die proletarische Bevölkerung vernichten. Eine Revolution stände nicht mehr zur Debatte. Ein solcher Krieg muß mit allen Mitteln verhindert werden. Er ist nur durch eine Revolution zu verhindem.“ (RAF, Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa)
Dem stimmen wir zu bis auf den Punkt, der Krieg müsse „mit allen Mitteln“ verhindert werden. Er kann nicht mit allen Mitteln verhindert werden, nicht alle Mittel sind erfolgversprechend; dieses Ptoblem der Wahl der Mittel haben wir ausführlich diskutiert. Es ist bezeichnend, wie schlampig die RAP gerade darüber spricht.
„Ist die Ausschaltung des bürgerlichen Militärapparates durch einen internationalen Krieg nicht zu erwarten (? zu erwarten ist das leider schon, aber es ist nicht wünschenswert! Anmerkung GA) und durch einen allgemeinen Aufstand der herkömmlichen Art nicht zu erreichen (wo wurde denn ein Krieg durch einen Aufstand der „herkömmlichen Art“ verhindert? Anmerkung GA), so müssen sich die Überlegungen auf jene Kampfformen und Taktiken richten, die eine allmähliche Auszehrung der Kräfte des Feindes im Sinne eines moralischen (im Original gesperrt) Verschleißes und gleichzeitig die Entwicklung der eigenen militärischen Potenzen des Proletariats möglich erscheinen lassen: auf die Kampfform des Guerilla-Krieges…“
Die Guerilla soll die Auflösung der Moral in den Institutionen der Repression betreiben nach dem Motto „Bestraft einen und erzieht Hunderte“. Für Offiziere und leitende Beamte „darf es nirgends mehr ein befriedetes Gebiet, eine ‚Etappe‘, eine friedliche Heimat, ein sicheres Privatleben geben“. Die Zustimmung der Massen ist nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis dieses Kampfes.
„Die politischen Möglichkeiten des Imperialismus sind hier weder in ihrer reformistischen noch in ihrer faschistischen Variante erschöpft … Das Konzept Stadtguerilla der RAF basiert nicht auf einer optimistischen Einschätzung der Situation in der Bundesrepublik und Westberlin…“
„Das Konzept Stadtguerilla stammt aus Lateinamerika. Es ist dort, was es auch hier sein kann: die revolutionäre lnterventionsmethode von insgesamt schwachen revolutionären Kräften…“
Nach unserer Einschätzung sind die Ergebnisse dieses Versuches nicht ermutigend. Auch wenn man eine lange Zeit des Bürgerkriegs annimmt und deshalb das Konzept der Stadtguerilla nicht als gescheitert ansehen will, muß man sich folgende Fragen stellen:
- unter welchen Umständen würde das Konzept als gescheitert betrachtet werden müssen? Wenn man solche Bedingungen nicht angibt, immunisiert man das Konzept gegen jede Kritik, es wird dann unwiderlegbar und es können in der Hoffnung auf das Gelingen weiterhin Menschenleben geopfert werden.
- Gibt es nicht alternative, gewaltlose Taktiken, die den „moralischen Verschleiß“ des Herrschaftsapparates voranbringen könnten? Genau dies nehmen wir an.
Der entscheidende Unterschied zwischen unseren Konzepten und denen der RAF läßt sich an dem bekannten Mao- Wort, daß die politische Macht aus den Gewehrläufen kommt, zeigen. Mao hat es in einer Situation geschrieben, in der die Gewehre als Voraussetzung dafür erschienen, daß eine Parteiorganisation geschaffen werden konnte. Ohne die Frage beurteilen zu wollen, ob dies stimmt, wird man sagen müssen, daß heute in der BRD legale Arbeit noch lange nicht unmöglich gemacht ist und schon von daher dieses Zitat nicht ohne weiteres angewandt werden kann. Die Verallgemeinerung, die es enthält, ist falsch und ein tödliches Mißverständnis.
Selbstverständlich ist Machtausibung für eine revolutionäre Bewegung eine entscheidende Frage, wobei wir unter Macht verstehen: die Möglichkeit, Ziele zu verwirklichen. So gefährlich das Streben nach Macht, Liebe zur Macht ist, so notwendig ist Macht im Sinne von Wirkung.
Die Macht, die von solidarischen Massenaktionen ausgeht und besonders von den Produktionsarbeitern an der Quelle der Herrschaft geübt werden kann, ist den Zielen adäquat. Direkte Aktionen, Besetzungen, Boykotts usw. üben durchaus Druck aus und können die Herrschenden zu Kompromissen zwingen, sie demoralisieren. Die Macht der Herrschenden stützt sich immer auf Gehorsam, der verweigert werden kann. Die Propaganda der Tat ist hier von großer Bedeutung: wenn entschlossene Minoritäten Dienste verweigern, so ist dies der Anstoß für Unzufriedene, die durch Angst und Isolation sonst passiv bleiben, ebenfalls „Nein“ zu sagen.
Wir erleben zur Zeit, daß viele Institutionen in Frage gestellt werden, daß der stumme Zwang, die Macht des Faktischen nicht mehr ausreicht, sondern direkte Gewalt in der Politik der Herrschenden an Bedeutung gewinnt. Dies könnte als Einwand gegen unser Konzept der Machtausübung verstanden werden: wenn es breiten und mächtigen Widerstand gibt, dann werden sie, wenn die Zugeständnisse, die gefordert sind, zu groß werden und die manipulativen Varianten der Bekämpfung des gewaltlosen Aufstands gescheitert sind, Waffen einsetzen. Und dann wird eine Bewegung, die sogar sehr stark sein kann, doch geschlagen.
Es gibt historische Beispiele der Konfrontation von gewaltlosen Bewegungen mit bewaffneter Macht, die wir hier nicht ausführlich diskutieren können. Es ist richtig, daß einige dieser Konfrontationen mit (vorläufigen, aber sehr schweren) Niederlagen der Unterdrückten geendet haben, z.B. in Südafrika, wo das Massaker von Sharpeville eine solche Niederlage war. Oft sind diese Niederlagen Folge einer naiven Einschätzung der Herrschenden, Resultat des Glaubens, man könne ihr Gewissen erweichen, Folgen einer falschen Taktik, die z.B. durch Demonstrationen auf der Straße Macht ausübt, aber die ökonomische Sphäre in ihrer Bedeutung unterschätzt oder praktisch vemachlässigt.
Wenn man sich die Ergebnisse von Konfrontationen gewaltloser Aufstände mit der bewaffneten Macht ansieht, so sind natürlich eine große Vielfalt von objektiven Bedingungen, den formulierten Zielen der Bewegung usw. zu untersuchen, so wie man es bei bewaffneten Aktionen auch muß.
Es läßt sich durch zahlreiche Beispiele belegen – das prominenteste aus den letzten Jahren ist vielleicht der gewaltlose Widerstand gegen den russischen Einmarsch in die CSSR – daß die Moral der bewaffneten Formationen durch gewaltlosen Widerstand zerstört werden kann (warum in der CSSR eine Niederlage der gewaltlosen Opposition zunächst ein Ende machte, diskutiert V. Horsky: Prag 1968…). Natürlich macht es einen Unterschied, ob die bewaffneten Formationen einem fremden Staat gehören, wie sie ausgebildet sind, aus welchen Klassen sich die Soldaten und Offiziere rekrutieren usw.; dies alles können wir hier nicht behandeln; wir möchten nur dazu anregen, diese Fragen etwas intensiver zu studieren, bevor man behauptet, daß der bewaffnete Kampf die einzige Lösung ist.
Daß es Repression gibt, heißt noch lange nicht, daß sie erfolgreich ist; daß sie Waffen haben, heißt noch lange nicht, daß sie die Macht behalten. Es gibt eine Reihe angebbarer Bedingungen, unter denen Repression, auch bewaffnete, das Gegenteil erreicht von dem, was sie sollte. Eine gewaltlose Strategie versucht, die Herrschenden in Situationen zu bringen, wo die Mittel, die sie einzusetzen bereit oder „gezwungen“ sind, sich gegen ihre Interessen wenden.
Einen Aspekt einer solchen Strategie beansprucht auch die RAF für sich:
„Demaskieren heißt, sie zwingen, den übernächsten Schritt vor dem nächsten zu tun, sie zwingen, ihre Ziele preiszugeben, so daß jeder sehen kann, wo’s lang geht. Ihnen das zu einem Zeitpunkt aufzuzwingen, wo die revolutionäre Linke noch zu Gegenstrategien in der Lage ist, nicht erst, wenn alles verboten und gefeuert ist und in den Gefängnissen sitzt…“
Dagegen wurde der RAF oft der Vorwurf gemacht, sie wolle den Faschismus herauskitzeln und eine Katastrophenpolitik machen. Die realen Folgen ihrer Konzepte sind so gewesen, daß diese Kritik zutrifft, denn die RAF hat nicht zu einem breiten Widerstand ermutigt. Trotzdem ist das Korzzept, das in dem Zitat zum Ausdruck kommt, nicht generell falsch. Wenn die Repression der Herrschenden schwer zu legitimieren ist und unverhältnismäßig erscheint (was besonders dann der Fall ist, wenn eine gewaltlose Bewegung betroffen ist), so kann das den Widerstand verbreitern. Wir haben bei der Entwicklung der Bewegung gegen Atomenergie Beispiele dafür gesehen: besonders die Reaktionen auf die Absicherung des Bauplatzes in Brokdorf (die berühmte Nacht-und Nebel- Aktion) und den Polizeieinsatz am 13.11.76.
Auch wenn die RAF sagt: „Die antiimperialistische Aktion zerstört die Symmetrie von Selbstdarstellung des Systems plus Manipulation plus Massenloyalität, provoziert es zum Eingeständnis der Wahrheit, zu der die Menschen noch allemal sagen das hätten sie nicht gewollt…“ (RAF: Den antiimperialistischen Kampf führen! Die Rote Armee aufbauen! Die Aktion des Schwarzen September in München), dann ist dies gerade in Hinblick auf die Aktion, der sie solche Wirkungen zuschreiben (die Geiselnahme bei der Olympiade) absurd, es ist aber möglich, durch direkte gewaltfreie Aktionen das zu erreichen, was sie als Ziel angeben; die von der RAF vielgeschmähte Bürgerrechtsbewegung unter der Führung von M.L. King hat einiges davon erreicht. Auch wenn diese Bewegung nicht revolutionär war, kann man über Wirkungen gewaltfreier direkter Aktionen viel lemen. Wer glaubt, dies, daß viele gewaltlose Bewegungen ihre Ziele nicht erreicht haben, daß Aktivisten geschlagen und ermordet wurden, rechtfertige Gewalt oder zeige, daß sie der einzige Ausweg ist, der irrt gewaltig. Gewaltlosigkeit ist ja kein einfacherer Weg als der des bewaffneten Kampfes und jede revolutionäre oder sogar nur oppositionelle Bewegung kostet unvermeidliche Opfer. Bereitschaft zur Gewaltanwendung erzeugt höchstens die Illusion, man würde nicht geschlagen, weil man eben selbst schlägt (was die Erfahrung völlig widerlegt). Daß Gandhi, King und zahlreiche namenlose Kämpfer ermordet wurden, kann nicht als Argument benutzt werden, um einen Bürgerkrieg zu rechtfertigen, der viel mehr Tote kostet und dessen Erfolgsaussichten gering sind.
Nicht die alte Bürgerkriegstheorie, sondern nur der industrielle Antimilitarismus und direkte gewaltfreie Aktionen können verhindern, daß die Revolution im Blut erstickt. Vor allem darf die Revolution nie auf eine militärische Frage reduziert werden. Eine militärische Frage ist sie vielleicht vor allem dadurch, daß der Militarismus in der Bevölkerung so verankert ist, daß Streiks der Rüstungs- und Munitionsarbeiter, der Transportarbeiter und Eisenbahner, die Truppen oder militärisches Gerät transportieren sollen und ähnlicher für den Militarismus notwendiger Funktionsträger vorerst eine Utopie bleibt. Besonders die Reaktionen der Mittelschichten sind sehr wichtig für den Sieg oder die Niederlage der Revolution. Wenn das Kleinbürgertum, Angestellte und Beamte, Bauern und kleine Geschäftsleute in Angst vor der Revolution, die sie mit Chaos und Blutvergießen identifizieren, sich in die rettenden Arme von Vater Staat stürzen oder zum massenhaften Anhang faschistischer Bewegungen werden (weil sie Angst haben, ins Proletariat abzusinken) dann wird keine Gewaltanwendung die Revolution retten. Ihnen muß eine Revolution reale Verbesserungen glaubwürdig versprechen (und das kann sie!) statt mit der Diktatur zu drohen. Glaubwürdig heißt aber wiederum auch: keine absurden Mittel anzuwenden, die das Ziel Lügen strafen.
Militärische Gewalt kann erfolgreich nur angewandt werden, wenn sie als Armee mit straffer Disziplin, Hierarchie, Befehl und Gehorsam organisiert ist.
Was wir hier nur grob andeuten konnten hat beispielsweise der gewaltlose Anarchist Pierre Ramus in den zwanziger Jahren schon entwickelt. (Z.B. in „Militarismus, Kommunismus und Antimilitarismus“ 1921 oder in seiner Kritik des Wiener Aufstands 1927. Dabei sind einige Ansichten zu kritisieren, aber die grundsätzliche Problematik militärischer Mittel für Ziele der sozialen Befreiung ist klar dargestellt.)
Krieg und Revolution
Seit der französischen Revolution haben Krieg und Revolution in zahlreichen Köpfen eine beinahe-Identität gehabt, für die es zahlreiche Gründe gibt. Diese Idee und Praxis des revolutionären Krieges oder der Revolution als Krieg muß aus zahlreichen Gründen, die wir hier nur anreißen konnten, scharf kritisiert und aufgegeben werden. Sie verstellt den Blick auf die realen Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Bewegungen gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg.
Rudolf Rocker hat in seinem Buch „Nationalismus und Kultur“, das wichtig ist, weil es zahlreiche Vorurteile im Geschichtsverständnis des bundesdeutschen Linken in Frage stellen könnte, deutlich dazu Stellung genommen. An einer Stelle spricht er über die Hussitenkriege und verallgemeinert:
„Schon damals zeigte es sich, daß eine revolutionäre Volksbewegung, wenn sie durch fremde oder eigene Schuld in einen längeren Krieg verwickelt wird, durch die Verhältnisse selbst dazu kommen muß, ihre ursprünglichen Bestrebungen aufzugeben, weil die militärischen Anforderungen alle gesellschaftlichen Kräfte restlos für sich verbrauchen und damit jede schöpferische Betätigung für die Entwicklung neuer Gesellschaftsformen zunichte machen. Nicht bloß, daß der Krieg im allgemeinen verheerend auf die Natur des Menschen wirkt, indem er fortgesetzt an seine brutalsten und grausamsten Triebe appelliert, die militärische Disziplin, die er erfordert, erstickt auch jede freiheitliche Regung im Volke und züchtet systematisch jenen Ungeist des Kadavergehorsams, der noch immer der Vater jeder Reaktion gewesen ist…
Hat man sich erst an den Gedanken gewöhnt, alle Probleme des gesellschaftlichen Lebens mit bewaffneter Hand lösen zu können, so muß man folgerichtig beim Despotismus angelangen, auch wenn man diesem einen anderen Namen gibt und seinen wahren Charakter hinter irgendeiner irreführenden Aufschrift verbirgt …“ (Bremen 1977 S.135/136)
Die Fehler der Rote Armee Fraktion sind keine Zufälle oder behebbare Mängel; auch wenn nicht alles, was unter diesem Namen getan wurde und wird, notwendig war, so gibt es doch erkennbare Strukturmerkmale, die sie mit erfolgreicheren Guerillabewegungen teilt (reiches Material zu anderen Guerillagruppen enthält z.B. Regis Debray: Kritik der Waffen. Wohin geht die Revolution in Lateinamerika? Reinbek 1974. Debray zieht andere Schlüsse als wir aus dem Material).
Natürlich sind die Bedingungen in jedem Land verschieden, und ein Export von revolutionären Modellen und ein Revolutionsschematismus hat sich immer negativ ausgewirkt. Trotzdem gibt es auch Fragen, die sich überall gleich stellen; viele der hier besprochenen Probleme gehören dazu. Selbstverständlich sind in Staaten, wo Hunger, Folter und Rassismus herrschen, wo es keine Freiheitsrechte gibt, alle Massenorganisationen vom Staat kontrolliert oder illegal sind, Analphabetismus herrscht, Fragen aktuell, deren Reichweite uns oft nicht hinreichend klar ist. Sicher gibt es die Gefahr einer ethnozentrischen Betrachtung, des Kolonialismus von links, der abstrakte Maßstäbe besserwisserisch auf Situationen anwendet, die er nicht versteht. Sicherlich sind wir nicht moralisch legitimiert, denen, die Gewalt als einzige Altemative zu Feigheit und Würdelosigkeit sehen, zu raten. Es scheint uns aber richtig, hier auf die gewaltlosen Widerstandsbewegungen in Ländern des peripheren Kapitalismus aufmerksam zu machen, die sonst keine Stimme haben.
Es ist eigentlich merkwürdig, daß manche Leute sagen, in der „Dritten Welt“ sei Gewaltanwendung der einzige Ausweg, während andere hier Beispiele gewaltlosen Widerstandes gefunden haben, die es in dieser Breite in Europa oder den USA kaum gegeben hat. Schließlich ist die wohl bekannteste Praxis der Gewaltlosigkeit der Kampf Indiens um Unabhängigkeit und soziale Reformen. Bevor Gandhi der Führer der indischen Bewegung wurde, sammelte er schon in Südafrika Erfahrungen mit zivilem Ungehorsam.
Heute gibt es in einigen der schlimmsten Diktaturen gewaltlose Bewegungen oder kleine Gruppen, über die es sehr schwer ist, Informationen zu erhalten, da sie, wenn sie ihre ohnehin geringen Möglichkeiten nicht gefährden wollen, nichts veröffentlichen können. In Indien gibt es die Bewegung von Jayaprakash Narayan für die Totale Revolution, die Indira Gandhi so gefährlich wurde, daß sie ihre Notstandsdiktatur nicht zuletzt gegen die gandhianische Bewegung richtete.
In Südkorea ist die Opposition und die Studentenbewegung gegen die Diktatur Park, Tschung His z.T. gewaltlos (vgl. Kim, Tschi-Ha: Mit brennendem Durst, München 1976).
In Vietnam gab es buddhistische Gruppen, die gewaltkritisch waren und neutralistisch (Bo Widmark: The Buddhists in Vietnam. An alternative View of the War. lntroduction by Daniel Berrigan Brussels 1974).
In den Ländem Lateinameikas gibt es gewaltfreie Aktionsgruppen, die gewerkschaftliche Arbeit und Bewußtseinsbildung machen. Sie sind, wie z.B. die christlichen Agrarligen in Paraguay heftiger Repression ausgesetzt, ihre Koordinatoren sind z.T. entführt (Adolfo Perez Esquivel, der Verantwortliche des „Servicio“ in Argentinien) und schweren Drohungen ausgesetzt. Einen gewissen, sehr begrenzten Schutz bietet oft die Kirche, die gespalten ist in einen reaktionären und einen oppositionellen Flügel, der besonders in Brasilien bedeutend ist. Der Wunsch, die „Spirale der Gewalt“ (Helder Camara) zu zerstören, ist in den Ländem des peripheren Kapitalismus so lebendig wie bei den Emanzipationsbewegungen in den „entwickelten“ kapitalistischen und staatskapitalistischen Industrienationen.
Jede militärische Organisation, also auch die Guerilla, entwickelt eine Hierarchie.
Der Zwang zur Geheimhaltung und Illegalität verhindert die Kommunikation mit den Massen oder anderen Linken Gruppen. Das Fehlen von Kritik und Selbstkritik, in gewissem Umfang eine Konsequenz der militärischen Prinzipien, bedeutet eine verzerrte Wahrnehmung der Folgen von Aktionen. Die Furcht vor Spitzeln und Verätern erzeugt eine Atmosphäre der Verdächtigungen und Denunziationen. Wer die Gruppen verlassen will, wird zur Gefahr. Liquidierung ist eine Lösung.
Willensbildungsprozesse verlaufen tendenziell von oben nach unten, der Druck des Feindes stabilisiert undemokratische Strukturen. So wie die Guerilla selbst Stellvertreterpolitik macht, gibt es in ihr wiederum Führer und Spezialisten.
Fehler sind unvermeidlich und nicht wiedergutzumachen. Die Tötung von Unschuldigen und die Stabilisierung einer scharfen Front verhindern gerade die Neutralisierung oder Überzeugung von „Betroffenen“. Häufig haben diese den Eindruck zwischen zwei Fronten zu kommen und von beiden Seiten beschossen zu werden. Um dieser Gefahr zu entgehen, muß eine Seite siegen, normalerweise die Herrschenden. So bekommen Arbeiter, Bauern und Intellektuelle ein Interesse am militärischen Triumph der Regierenden. Unter sehr, sehr seltenen Umständen nur kann das Kalkül der Guerilla aufgehen, daß die Unterdrückten ein Interesse am Sieg der Aufständischen bekommen.
Diese Kritik der Gewalt in revolutionärer Absicht hat einige Mängel, die uns schmerzhaft bewußt sind. Trotzdem halten wir eine Veröffentlichung jetzt für gerechtfertigt. Diese Erklärung sollte nach unserem ursprünglichen Plan auch eine umfassendere Begründung und Darstellung unserer Vorstellung einer gewaltlosen Revolution, ihrer Notwendigkeit und Möglichkeit werden. Das ist nun zu kurz gekommen. Die Fragen die in „Was heißt Graswurzelrevolution“ angerissen werden, verlangen eine ausführliche Antwort. Einige theoretische und praktische Probleme der gewaltlosen Revolution verlangen noch viel Arbeit; viele Aufgaben sind hier keineswegs leichter als für die Leute, die sich für den bewaffneten Kampf entschieden haben. Wir hoffen, daß die deutlichere Darstellung einer gewaltlosen Alternative und eine militante Praxis der Gewaltlosen den Regierenden mehr Schwierigkeiten bereitet als dies bishher der Fall war und für viele Menschen eine Entscheidung gegen die Waffen und für die Revolution ermöglicht. Der Militarismus ist Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.
„Alle Gewalt tendiert dazu, ‚reaktionär‘ zu sein, was auch immer die Ziele derjenigen sein mögen, die sie anwenden. Während auf lange Sicht den Wirkungen der Gewaltanwendung zweifellos in gewissem Grad entgegengewirkt werden kann, so läßt diese doch immer ihre Narben zurück; werden in Richtung auf eine egalitäre Gesellschaft Fortschritte gemacht, so geschieht dies in erster Linie trotz der Gewaltanwendung und nicht aufgrund von ihr.“ (Mulford Q. Sibley).