Geht es euch nicht oft genauso, liebe LeserInnen? Ihr geht durch die Welt, ihr beobachtet die Diskussionen im offiziellen Kulturleben ebenso wie in eurer örtlichen Politszene, ihr lest diese und jene Zeitschriften und schaut auch mal ins Fernsehen – und fragt euch: sag‘ mal, wo lebe ich hier eigentlich? Sind die jetzt alle verrückt geworden? Muss ich über den tagtäglichen Quatsch, diesen Wahnsinn der Normalität, der mir hier beständig mit bierernster Miene als Realität und bestmögliche aller Welten vorgegaukelt wird, lachen oder weinen? Wir haben nun eine Antwort auf diese drängende Frage: wir werden definitiv drüber lachen!
Ab sofort vergibt die Süd-Redaktion der Graswurzelrevolution jeden Monat einen Preis für den Menschenwahnsinn des Monats, den noch immer kein Rinderwahnsinn übertreffen kann! Kultiviert, wie wir nun einmal sind, haben wir den Preis Meister der Systemapologetik genannt. Der Begriff Apologetik kommt aus der Kritischen Theorie und bedeutet Rechtfertigung. Wir werden also jeden Monat eine/n dieser Kulturheinis ehren, die dieses (kapitalistische, rassistische, patriarchale, behindertenfeindliche, speziesistische, heterosexistische, staatliche Herrschafts-)System hier rechtfertigen. Oft ist es ja so, dass ihnen die blosse ideologische Rechtfertigung gar nicht mehr reicht: sie erklimmen im Eifer der Anpassungsleistung zuweilen schwindelerregende Höhen und salbadern einen Quatsch daher, der nicht nur quälend und gesundheitsschädlich für unsere Augen, unseren Magen und unseren Verstand ist, und auf den das System selbst zu seiner Rechtfertigung nicht nur getrost verzichten könnte, sondern auf den seine sozusagen offiziell Angestellten, die biederen BürokratInnen, nicht einmal im Traum kommen würden. Wir zeichnen hier also die Übereifrigen aus, die – selbst ohne Not – ihre ganze Einbildungskraft und Energie für die nichtswürdige Idee drangeben – „opfern“ müssten wir gerechterweise sagen -, eine Leistung der Überanpassung zu vollbringen.
Im Grunde ist das also eine Art Rettungsmassnahme: es gilt, zumindest den – letztlich aber wohl aussichtslos scheinenden – Versuch zu unternehmen, die Menschenwahnsinnigen vor der wohl trübsinnigsten und trostlosesten Lebensgestaltung zu warnen, die überhaupt vorstellbar ist: das Leben als Büttel des Systems. Unübertroffen in dieser Sportart ist bis heute eine der Kulturgrössen dieses Landes, offiziell gewürdigt als der grösste deutsche Literat des 20. Jahrhunderts, Thomas Mann. Den ganzen lieben langen Ersten Weltkrieg sass dieser Mann verkrampft, diszipliniert und heldenhaft hinterm Schreibtisch und schrieb seinen Essay Betrachtungen eines Unpolitischen, bis heute mit seinen über 600 Seiten eine der unerträglichsten und auch philosophisch widerlichsten Kriegsapologetiken in der gesamten Geistesgeschichte der Menschheit, nur um dann, als sein grandioses Werk fertiggestellt war und veröffentlicht wurde, feststellen zu müssen, dass nun aber leider der Krieg out und Revolution in war! Welch‘ Enttäuschung und auch: welch‘ Verkennung! Und weil Thomas Manns Werk so unübertroffen ist und jede/r Nacheifernden im 21. Jahrhundert von grossem Nutzen sein kann, bekommt unser monatlicher Preisträger (oder die Preisträgerin) von uns direkt nach Veröffentlichung der Preisverleihung als Würdigung eine Ausgabe dieses Oeuvres portofrei zugesandt, auf dass er/sie sich weiter bilde und noch viele weitere Menschenwahnsinne verbreche…
Wohlan, genug der Vorrede!
Preisträger des Monats Januar wird Spiegel-Reporter Reinhard Mohr
für seinen Beitrag „Abwasch für die Gruppe“ im Spiegel 46/2000, S. 153.
Laudatio: Schon die Ankündigung in der Inhaltsangabe des Spiegel, S. 6, sagt, worum es dem Selbst-68er Reinhard Mohr in seiner Systemapologetik geht: „‚Big Brother‘ wurde 1968 erfunden“ heisst es da. Im Prosatext kommt der Autor dann schnell zu einer intellektuellen Analyse des „Big Brother“-Alltags: „Man gammelt auf den roten Sofas herum, labert sich gegenseitig zu, kuschelt und krabbelt, holt die Gitarre hervor und veranstaltet total lustige Verkleidungsspektakel.“ So weit musste es ja kommen mit den Wohngemeinschaften, meint Mohr. Nur, aus welch historisch düsteren Epoche kommt das her, was heut‘ solche im Prinzip leitkulturfähige Sendungen verhunzt? Mohr weiss Rat: „Genau so war das in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren, damals, als in der berühmten Kommune 1 die Geburt der Gruppe zelebriert wurde, das öffentliche Leben im privaten Kollektiv bis zur ausgehängten Klotür (Ist die bei ‚Big Brother‘ auch wirklich ausgehängt, fragt der Laudator). Alles Intime war zugleich hoch politisch.“ In seiner unnachahmlichen Art, historische Zusammenhänge zu durchschauen, analysiert Mohr: „So erlebt die Revolte von 1967/68 mit ihrer Leitkultur von Straßenkampf, Eierwurf und Wohngemeinschaft – lange Zeit im Ruf schrecklicher ideologischer Vorgestrigkeit – ihre wundersame Auferstehung ausgerechnet im avanciertesten Medienprojekt des neuen Jahrtausends. Bei manchen wird selbst die Erinnerung an Stammheim wach, an RAF und Gruppenvollzug.“ Fragt sich nur, wo die RAFfies ihre Knete gebunkert haben, haben sie alle doch letztlich viel länger in der Zwangswohngemeinschaft ausgehalten als die ‚Big Brothers‘.
An irrelevanten Unterschieden hält sich Chefanalyst Mohr nicht weiter auf: „Fragen freilich wie die, ob das ’narzistische Individuum erst gruppenfähig werden muss‘ und ob die Kampfparolen ‚Schlagt das Kapital international‘ und ‚Lest Wilhelm Reich und handelt danach!‘ in einem produktiven Verhältnis zueinander stehen, werden die TV- Helden nicht recht bewegen.“ Dafür geht es aber auch bei ‚Big Brother‘ – wie schon in der Kommune 1, die der „Spiegel“ erklärend als Bild hinzufügt – „um Gefühle, Ängste und Beziehungsstress“, wie halt 1968 eben auch, und überhaupt in jeder Wohngemeinschaft seither. War da was? Wohngemeinschaft als politische Gemeinschaft, als Alternativkultur, als Vorform sozialistischer Vergesellschaftung gar? Da sei Langhans vor! Für Reinhard Mohr führt über Rainer Langhans ein Weg von der Kommune 1 zu ‚Big Brother‘: „‚Big Brother‘ ist ein soziologisches Déja vu für all jene, denen noch der Ton von 1968 in den Ohren klingt, (…) als Rainer Langhans‘ chronischer Liebeskummer die Kommune in eine psychoanalytische Laienspielgruppe verwandelt hatte und damit das eigentliche Ziel, die ‚Lebenstriebe gegen die kapitalistische Todesmaschinerie‘ zu mobilisieren, in den Hintergrund geriet.“ So endet eben jede Wohngemeinschaft! Nach Mohr wollte ‚Big Brother‘ 1968 kopieren. Doch: „Wer Geschichte nachmacht oder nachzumachen versucht oder auch nur Teile von ihr kopiert und/oder variiert, wird mit gähnender Langeweile nicht unter 100 Tagen bestraft.“ Auch wir würden Reinhard Mohr gerne so bestrafen, doch wir zeichnen ihn aus, das sei ihm Strafe genug…