ökologie

Fleisch-Demokratie oder Sozialismus?

Über BSE, Vegetarismus und die industrialisierte Fleischproduktion

| Frank Tiresias

Es sei der GAU der industriellen Landwirtschaft. Zwei MinisterInnen mussten das Kabinett Schröder verlassen. Nun ist von der Wende in der Agrarpolitik die Rede. Seit Ende November letzten Jahres die erste an BSE (Bovine Spongiforme Enzephalopathie) erkrankte Kuh in der BRD offiziell vermeldet wurde, überschlagen sich Medien und PolitikerInnen in Superlativen über das Agrar-Krisenmanagement. Die hektische Geschäftigkeit hat den Zweck, das Nachdenken über Gründe und Ursachen den selbsternannten ExpertInnen und PolitikerInnen zu überlassen. Der grossspurig mit der Atomenergie parallelisierte Ausstieg aus der industriellen Landwirtschaft wird zur vergleichbaren Mogelpackung rot-grüner Reformpolitik. Die Stellfläche pro Rind wird wohl etwas erhöht werden, die Subventionen werden tendenziell von Massenproduktion auf ökologische Standards, selbst angebaute Futtermittel und „artgerechte Haltung“ – was immer das heissen mag – umgeschichtet. Der Anteil der ökologisch bewirtschafteten Landwirtschaftsfläche soll so in den kommenden Jahren von jetzt 2,6 auf das österreichische Niveau von rund 10 Prozent erhöht werden. (1) Dass sich damit grundsätzlich etwas an den gesellschaftlichen Bedingungen ändert, die zu BSE führten, darf aus libertärer Sicht stark bezweifelt werden. Und dass sich jede Agrarreform nach den Gesetzen des kapitalistischen Marktes richten wird, beweist schon das Festhalten der neuen Superverbraucherschutzministerin Künast an dem Vorhaben der Bundesregierung, zur Preisstützung mehr als 400.000 Rinder aufzukaufen, nur um sie dann zu verbrennen. (2) Wo sie nicht marktgerecht verwertet werden können, wo sie nicht als kapitalistisches Lebensmittel dienen, haben Tiere als Lebewesen kein Existenzrecht. Das ist der Imperativ der Fleisch-Demokratie. Wahrer VerbraucherInnenschutz führt aber nicht zu auch in der Krise noch konstruierten Bedürfnissen der VerbraucherInnen – Bio-Fleischer haben Hochkonjunktur und kommen mit den Aufträgen kaum nach -, er kann nur zu wirksamem Tierschutz führen.

Das Polit-Management in der BSE-Krise

BSE gibt es nicht erst seit gestern. Seit vielen Jahren ist bekannt, dass BSE durch Nahrungsmittelübertragung beim Menschen zu einer neuen Form der Creutzfeld-Jakob-Krankheit (CJK) führt. In Grossbritannien sind mehr als 180.000 Fälle verseuchter Rinder bekannt. Schätzungen zufolge waren allein dort 750.000 verseuchte Rinder unerkannt im Handel. Zur Zeit sind dort 88 Menschen an BSE-verursachter CJK erkrankt, höchstwahrscheinlich werden mehr als 200.000 Menschen allein in Britannien daran sterben. Auf dem Höhepunkt der britischen BSE-Krise wurden 14.000 Rinder in die BRD exportiert, zwischen 1987 und 1989 wurden 1200 Tonnen verseuchtes Tiermehl aus England eingeführt, jährlich bis zu 17000 Tonnen kamen aus anderen Ländern, in denen es bereits BSE-Fälle gab. Diese Fakten sind heute in jeder billigen Illustrierten nachzulesen. (3)

Und was machten die deutsche Agrarlobby und mit ihnen die PolitikerInnen im Grunde die ganzen letzten fünf Jahre hindurch? In nationalistischer und schlimmer antibritischer Selbstherrlichkeit erklärten sie die BRD ohne flächendeckende Kontrollen für BSE-frei. Eine Werbekampagne der Fleischindustrie ließ Aufkleber mit „Deutsches Rindfleisch“ über die Theken kleben wie ein Gütesiegel und deutsche PolitikerInnen gingen gegen EU-Richtlinien vor, Gehirn und Rückenmark von Rindern gar nicht erst in den Handel kommen zu lassen – deutsches Rinderhirn und – mark sei nicht betroffen. Angesichts dieser arroganten Hirnlosigkeit – im wahrsten Sinne des Wortes – kann man/frau die internationale Schadenfreude über die weltweite Inkriminierung deutscher Wurst, die kürzlich die inländische Fleischindustrie heimsuchte, nur teilen. Und selbst als das erste deutsche BSE-Rind in Norddeutschland nachgewiesen wurde, entblödete sich Stoiber nicht, als allererstes Bayern für BSE-frei zu erklären. Diese Anfälle von rein menschlichem Wahnsinn bei der Fleischindustrie und bei PolitikerInnen haben das Vertrauen der Menschen zunächst einmal tief zerstört: sie glauben nichts mehr – und das ist gut so.

Die industrialisierte Fleischproduktion

Etikettenschwindel bei Fleischprodukten, mangelnde Kontrollen, ungenaue Deklarationen beim Tierfutter, Schiebereien von infizierten Produkten und Rindern, neue Ekelbegriffe wie „Separatorenfleisch“ – was jetzt an die Öffentlichkeit kommt, ist nur die Spitze des Eisbergs. Die industrialisierte Fleischproduktion, ja Landwirtschaft, so heißt es, sei an einem Wendepunkt angelangt: es werde immer schneller, unter immer größerer Vernachlässigung von Qualitätskriterien produziert, um die Produkte immer billiger zu machen – das sei nicht mehr haltbar. Die politische Lösung wird auch gleich mitgeliefert: wer mehr Qualität will, muss auch mehr zahlen – dabei beweist jede Food-Coop, jede direkte ErzeugerInnen-VerbraucherInnengemeinschaft, die die Grossvermarktungsbürokratie der Agrarindustrie umgeht, seit zwei Jahrzehnten das Gegenteil, aber das sei nur nebenbei vermerkt.

Ist es wirklich ein Wendepunkt? Und die BSE-Krise damit eine Fehlentwicklung, die eben durch eine andere Agrarpolitik gelöst und von den VerbraucherInnen bezahlt werden kann?

Oder geht es hier nicht vielmehr um ein grundlegendes Prinzip kapitalistischen Wirtschaftens?

„Wer gegen konkurrierende Anbieter sich durchsetzen will, muß den Imperativen gehorchen, die maximalen Gewinn durch Senkung der Kosten (und sei es durch Hormonzusatz zum Futter), Erhöhung der Stückzahl (ob Autos, Kälber oder Maschinengewehre) und Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit (die zur Herstellung einer Ware erforderlich ist, eben der Aufzuchtzeiten für Kälber etwa) erzielen.“ (4)

Das stand übrigens in einer Analyse eines der letzten Skandale der Fleisch-Demokratie 1988 in der GWR: dem Kälberskandal. Auch damals wurden hormonverseuchte Rinder massenhaft notgeschlachtet. Auch damals wurde eine Kehrtwende in der Agrarpolitik versprochen. In der GWR wurde kommentiert: „Es ist denkbar, daß über veränderte Gesetze, Verordnungen, höhere Preise für nicht-industrielle Produkte die Richtung verändert wird. (…) Aber was ändert das?“ (5) Nichts, wie wir heute wissen. Der Kälberskandal wurde gerade wegen der damaligen politischen Geschäftigkeit – wie so mancher weitere Lebensmittelskandal – ausgesessen. Es spricht nichts dafür, dass das heute anders werden sollte.

Das billige Fleisch, die totale Verwertung des Lebewesens Tier, steht eben nicht am Ende der industrialisierten Landwirtschaft, sondern genauso am Anfang, ja es ist seine Grundlage. Niemand hat das literarisch besser beschrieben als der US-amerikanische Sozialist und große sozialkritische Romancier Upton Sinclair in seinem wichtigsten und gleichzeitig weltweit erfolgreichsten Buch Der Dschungel, in welchem er mit der industrialisierten Fleischproduktion im damaligen Zentrum kapitalistischer Industrialisierung in den USA, Chicago, abrechnete, und zwar den haarsträubenden Bedingungen für ArbeiterInnen sowohl wie für die Tiere. Da erzählt z.B. ein Fleischkonservenarbeiter von seiner Arbeit:

„Bei Durham (ein US-Fleischtrust um 1900, Red.) seien die reinsten Alchimisten am Werk; man (…) preise ein ‚Hühnerragout‘ an – und das sei wie die aus den Witzblättern her bekannte Hühnersuppe im Wirtshaus, durch die ein Huhn in Gummigaloschen hindurchgelaufen war. Wer weiß, vielleicht habe man ein Geheimverfahren, Hühner chemisch herzustellen; was in das Ragout hineinkommt, sei jedenfalls nichts anderes als Kaldaunen, Schweinefett, Unschlitt, Rinderherzen und schließlich noch, wenn gerade angefallen, Kalbfleischreste. Diese Mixtur werde in verschiedenen Qualitäts- und Preisklassen angeboten, der Inhalt aller Büchsen aber komme aus ein und demselben Pott. Es gebe auch noch ‚Wildragout‘ und ‚Wachtelragout‘, ja sogar ‚Schinkenragout‘, außerdem eine ‚Schinkenpaste‘ – von den Arbeitern ‚Stinkepaste‘ genannt. Die bestehe aus Abfällen von geräuchertem Rindfleisch, die zu klein sind, um von den Maschinen noch aufgeschnitten werden zu können, aus Gekröse, das chemisch gefärbt ist, damit es nicht weiß durchschimmert, aus Resten von Schinken und Corned Beef, aus Kartoffeln, mit Schale und allem, und schließlich aus knorpeligen Rindergurgeln. Diese einfallsreiche Mischung werde durch den Wolf gedreht und dann stark gewürzt, damit sie nach etwas schmeckt.“ (6)

Das war 1900. Und jetzt das Jahr 2000, Udo Pollmer, ein Kritiker der Fleischwirtschaft, über die Qualität der ca. 300 deutschen Wurstsorten:

„Der Verbraucher muss sich darüber im Klaren sein, dass er die Tierprodukte, die er beim Metzger nicht kauft, weil es ihn davor graust oder Verbraucherschützer ihn davor gewarnt haben, also Nieren, Lunge, Schweinemicker – das ist das Gekröse -, Kutteln, Milz, Magen und Vormagen, in der Wurst wiederfindet. Der Fleischer wirft das Zeug ja nicht in Rhein, Spree oder Elbe.“ (7)

Hat sich da in 100 Jahren irgendwas grundsätzlich verändert? Wirklich nicht. Upton Sinclair hat für seine Romanbeschreibungen damals gut recherchiert. Da das Buch ein internationaler Renner wurde, sah sich die US- Regierung gezwungen, die Angaben zu überprüfen. Dazu Sinclair-Herausgeber Dieter Herms: „Zwei Referenten begaben sich nach Chicago, um im Auftrage des Weißen Hauses zu recherchieren. Sie kamen zurück mit einem Bericht, der Sinclairs Funde voll inhaltlich bestätigte, mit einer Ausnahme: Es gab keine Evidenz für die Behauptung, daß Arbeiter, die in die Brühkessel gefallen waren, als ‚Armours Feinschmalz‘ in die Welt hinausgingen.“ (8)

Sinclairs Buch produzierte einen frühen Skandal in der Fleischindustrie. Schon damals forderte eine erschreckte Öffentlichkeit eine Wende in der Fleischproduktion und minimale Qualitätsverbesserungen wurden durchgeführt – sehr viel später auch bei den unmenschlichen Arbeitsbedingungen, die Sinclair in seinem Roman noch stärker in den Mittelpunkt stellte und schließlich zu einem flammenden Aufruf für den Sozialismus ummünzte. Und hier haben wir einen entscheidenden Unterschied zwischen dem damaligen Beginn und der heutigen angeblichen Wende in der industrialisierten Fleischproduktion: heute redet niemand vom Sozialismus als einer Lösungsmöglichkeit der BSE- Krise! Genau das aber wäre nötig, wenn es eben nicht mehr so weiter gehen sollte wie bisher!

Chicago

Die USA waren die erste Industrienation, die die Landwirtschaft komplett industrialisierten. Und die Chicagoer Fleischproduktion, in der ImmigrantInnen aus verarmten europäischen Ländern unter unglaublichen Bedingungen arbeiteten, wurde schnell zum Prototyp der modernen, organisierten, arbeitsteilig strukturierten kapitalistischen Industriegesellschaft. Am Anfang des Romans beschreibt Sinclair die Struktur der Chicagoer Stockyards sehr plastisch: „Die Yards dehnen sich über eine Fläche von mehr als einer Quadratmeile aus, und über die Hälfte davon nehmen Rinderpferche ein; nach Norden und Süden erstreckt sich, so weit das Auge reicht, ein einziges Meer von Pferchen, Buchten und Boxen. Und die waren jetzt alle voll – nie hätte man gedacht, daß es so viele Rinder überhaupt gab (…), sanftäugige Milchkühe und wilde Texas-Jungochsen.“ Sie werden – Kennzeichen der arbeitsteiligen Industrialisierung – nicht mehr auf den Bauernhöfen geschlachtet, sondern kommen aus allen Teilen der USA nach Chicago, und zwar in Viehwaggons der Eisenbahn. Die litauischen EinwandererInnen von Sinclairs realistischem Roman „standen in der Nähe des östlichen Eingangs, und die ganze Ostseite der Yards entlang laufen die Bahngleise, auf denen die Schlachttiere herangebracht werden. Die Nacht hindurch wären ununterbrochen Viehwagen gekommen, erklärte Jokubas, und jetzt seien die Pferche voll; am Abend würden sie sämtlich wieder leer sein, und dann gehe das Ganze von neuem los. ‚Und was geschieht mit diesen vielen Geschöpfen?‘ rief Teta Elzbieta. ‚Bis heute abend sind sie alle geschlachtet, ausgenommen und zerteilt‘, antwortete Jokubas. ‚Dort drüben hinter den Fleischfabriken befinden sich noch mehr Gleise. Die sind zum Abtransport.‘ In den Yards gebe es zweihundertfünfzig Meilen Eisenbahnschienen, berichtete ihr Führer weiter. Auf ihnen kämen jeden Tag rund zehntausend Rinder angerollt, die gleiche Anzahl Schweine und halb so viele Schafe – das bedeute, daß hier im Jahr acht bis zehn Millionen Lebendtiere zu Fleisch verarbeitet werden. Während man so stand und schaute, erkannte man allmählich, wohin die Flut ging, nämlich in Richtung Fleischfabriken. Gruppenweise wurden die Rinder auf die Rampen getrieben, etwa fünf Meter breiten massiven Stegen, die über den Pferchen entlangliefen. Auf diesen Rampen zog ein nicht abreißender Strom von Tieren dahin; es war geradezu unheimlich mit anzusehen, wie sie ahnungslos ihrem Schicksal entgegendrängten, ein wahrer Todeszug. Unsere Freunde waren nicht poetisch veranlagt, und der Anblick bewog sie nicht zu Vergleichen mit dem Menschenlos; sie dachten nur daran, wie großartig das alles organisiert sei. Die Rampen für die Schweine führten weit hinauf, bis zu den obersten Stockwerken von Gebäuden im Hintergrund, und Jokubas erklärte, für den Transport der Schweine nutze man deren eigene Kraft: für den hinauf ihre Muskelkraft und für den wieder herunter – durch all die für ihre Umwandlung in Büchsenfleisch nötigen Verarbeitungsprozesse hindurch – ihre Schwerkraft. ‚Hier wird überhaupt nichts ungenutzt gelassen‘, sagte er, lachte und fügte ein Witzchen hinzu, von dem, wie er zu seiner Freude merkte, die anderen in ihrem schlichten Gemüt annahmen, es stamme von ihm: ‚Vom Schwein bleibt absolut nichts unverwertet – bloß für das Quieken hat man noch keine Verwendung gefunden.'“ (9)

Das wurde 1906 geschrieben.

Die industriell-kapitalistische Fleischproduktion kann nicht reformiert werden, sie muss abgeschafft werden.

Freiheitlicher Sozialismus als Vegetarismus

Die derzeitige Hochkonjunktur von Bio-Landwirtschaft und Bio-Fleischertum führt daher in eine perspektivische Sackgasse – verspricht einen billigen Ausweg, um das ganze Falsche am Laufen zu lassen. „‚Wir wissen ganz genau, was der Verbraucher will‘, sagt Professor Stefan Dabbert, Experte für Ökolandbau von der Universität Hohenheim. ‚Das Produkt darf nicht mehr als 30 Prozent teurer sein als das normale, es muss im Supermarkt erhältlich sein, es muss ein großes Sortiment geben, und es muss ganz leicht als Bio erkennbar sein.'“ (10) Das ist die alte Fleisch- Demokratie in reformierter Form. Doch so einfach sollte mit BSE nicht umgegangen werden, wie auch erste Fälle zeigen, bei denen BSE in ökologisch korrekt wirtschaftenden Betrieben nachgewiesen wurde. Dabei ist das gar nicht der biologischen Landwirtschaft vorzuwerfen, es dreht sich eher um das zentralistisch-industrialisierte Umfeld, das dadurch als Normalfall der Produktion nicht angetastet wird und in das die Bio-Höfe im Kapitalismus unweigerlich verflochten sind. Und jede Food-Coop ist unterstützenswert, aber es besteht wenig Aussicht, dass sie aus ihrer nicht- marktwirtschaftlichen Nischenexistenz herauskommt. Warum? Weil das dahinterstehende Gesellschaftsmodell dann eine bäuerliche Kleinwirtschaft und eine damit verbundene drastische Reduktion der industriellen Arbeitsteilung wäre. Das ist nicht nur nicht vorstellbar, weil es heute nur noch einen Bruchteil Bauern/Bäuerinnen im Vergleich zu den Zeiten vor der industrialisierten Landwirtschaft gibt. Es wirkt auch unattraktiv – und wer den enormen Zeitaufwand, den der Aufbau einer direkten ErzeugerInnen-VerbraucherInnen-Beziehung mit sich bringt, schon einmal am eigenen Leibe erlebt hat, weiss davon ein Lied zu singen. Das kann also nur ein Teil – und nicht der zentrale – der Lösung sein. Zu dieser Perspektive war in der GWR schon beim Kälberskandal zu lesen:

„Der bäuerliche Familienbetrieb (wahlweise Alternativ-Kommune) mache einen anderen Umgang mit den Tieren möglich. Artgerechte Haltung, Freilauf: gar ein ‚persönliches Verhältnis‘ zum Tier verspricht sich die Opposition davon. Das stimmt zum Teil, hat für mich aber doch den Beigeschmack: falsche Idylle gegen wirkliche Industrie und real existierenden Kapitalismus. (…) Einmal sollten wir den bäuerlichen Familienbetrieb und das alte Bauerntum nicht idealisieren: das Leben war hart, die Menschen oft roh, die Familienstruktur patriarchal… Aber dahin gibt es ohnehin keinen Weg zurück, die Mentalitäten und Bedürfnisstrukturen sind zu weitgehend verändert. Vielleicht ist, was für das alte Bauerntum selbstverständlich und alternativlos war, für Menschen, die heute nach den Grundlagen und der Beseitigung von Herrschaft fragen, ein Problem. Ich reiße hier die Frage nur an: Ist uns eigentlich die Vorstellung sympathisch, daß ein Bauer oder eine Bäuerin ’noch ein persönliches Verhältnis‘ zu einem Tier hat, es streichelt und beim Namen nennt – um ihm dann mit sicherer Hand die Kehle durchzuschneiden?“ (11)

Upton Sinclair hat sich in seinem Roman ebenfalls mit diesen Fragen beschäftigt. Und er propagiert am Ende des Romans durch feurige Reden und hitzige politische Diskussionen hindurch eine vegetarische Sozialismusvorstellung. Sozialismus in Sinclairs Verständnis bedeutet im Gegensatz zur Fleisch-Demokratie, dass Lebewesen zunächst als solche, und nicht als Lebensmittel betrachtet werden. Sinclair lässt am Ende des Romans einen „philosophischen Anarchisten“, mit Namen Schliemann, dozieren: „Nehmen Sie Kropotkins ‚Landwirtschaft, Industrie und Handwerk‘ und lesen Sie über die neue Agrarwissenschaft, die in den letzten zehn Jahren entwickelt worden ist. Mit deren Hilfe können Obst- und Gemüsefarmer bei entsprechend vorbereitetem Boden und Intensivkultur in einer einzigen Reifeperiode zehn bis zwölf Ernten erzielen.“ (12) Schliemanns Lösung für eine nicht konkurrenzförmig organisierte, sozialistische Nahrungsmittelproduktion geht in Richtung wissenschaftliche Automation: „Kommunismus in der materiellen Produktion, Anarchismus in der geistigen“ (13), wobei ihm die geistige Produktion das wahre Menschsein ausmacht. Diese Perspektive ist sicherlich zu technizistisch – eine Verbindung aus Kropotkins wissenschaftlich- moderner Vorstellung und den Erfahrungen des realen dezentralen Bio-Landbaus wäre wohl wünschenswert. Sinclair lässt seinen philosophischen Anarchisten weiter reden:

„Außerdem ist erwiesen, daß der Mensch kein Fleisch braucht. Und Fleisch ist doch unstreitig schwerer zu erzeugen als pflanzliche Nahrung, unangenehmer zu verarbeiten und auch leichter verderblich. (…) Solange wir Lohnsklaverei haben, spielt es überhaupt keine Rolle, wie erniedrigend oder abstoßend eine Arbeit ist – es läßt sich ja leicht jemand finden, der sie macht. Aber sobald die Arbeiter befreit sind, wird der Preis für solche Arbeiten steigen. (…) Proportional dazu, wie sich die Bürger unserer Industrie-Republik kultivieren, werden sich die Schlachthausprodukte von Jahr zu Jahr verteuern, bis schließlich, wer Fleisch essen will, selber schlachten muß – und wie lange, glauben Sie, wird sich der Brauch dann noch halten?“ (14)

Das ist der Zusammenhang von Vegetarismus – der als Vorform oder Ergänzung und nicht in dogmatischer Weise als Gegensatz zum VeganerInnentum verstanden werden sollte, wie viele sektiererische Vegangruppen meinen – und Sozialismus: „Um Grausamkeit und Ausbeutung gegen Tiere nicht wahrzunehmen, müssen die Menschen selbst unter der Herrschaft so gequält worden sein, daß sie nur weitergeben, nachvollziehen, anwenden, was ihnen doch nur immer neu an Leiden zugefügt wird: (das) Recht des Stärkeren. Sich selbst so fremd, daß Lohnarbeit ihnen normal erscheint oder eine Ausbildung, die auf das Abschlachten anderer Menschen orientiert (Wehrpflicht etwa), können sie auch Verstümmelungen anderer: die Leiden, die Gewalt den immer noch Wehrloseren zufügt, nicht erkennen. Daß viele lieber wegschauen, zeigt noch die Abwendung vom Terror. Aber erst das Hinschauen und schließlich das Begreifen der Schlachthäuser als Symbole einer Epoche, dann der Wille, diese zu beenden, wird uns der gewaltlosen Gesellschaft annähern.“ (15)

Der Sozialismus kann nur vegetarisch/tierschützerisch sein – oder er ist nicht! Ein neuerlicher Beweis dafür, dass er in der staatskapitalistischen Sowjetunion nie existierte… Anstatt die Bedingungen für die Herstellung von Bio-Fleisch zu verbessern, wäre demnach ein Vorschlag für eine libertäre Lösung der BSE-Krise, den Zivilisationsprozess „eher voranzutreiben als zurücknehmen zu wollen, was für unser Thema hieße“ (16): die vegetarisch-sozialistische Gesellschaftsperspektive überhaupt erst wieder denkbar und durchsetzbar zu machen!

(1) vgl. Spiegel 3/2001, 15.1.01, S. 20ff.

(2) Frankfurter Rundschau, 13.1.2001, S. 1 und erste Erklärungen von Künast.

(3) vgl. dazu z.B. Stern 49/2000, 30.11.2000, S. 26ff. Oder Focus-Booklet: BSE-Kompass, 15.1.01.

(4) Johann Bauer: Lebewesen oder Lebensmittel? in: Graswurzelrevolution Nr. 126, Sept. 1988, S. 2.

(5) ebenda.

(6) Upton Sinclair: Der Dschungel, (1906), Reinbek 1980, S. 134f.

(7) Udo Pollmer, zit. nach einem Interview im Stern 2/2001, 4.1.2001, S. 23.

(8) Dieter Herms: Nachwort, in: Sinclair: Der Dschungel, S. 480. Zum Erfolg des Romans siehe auch mehrere Aufsätze in Gulliver 25: Vergessene Rebellen? Upton Sinclair. Spanischer Bürgerkrieg, Hamburg/Berlin 1989.

(9) Sinclair, ebenda, S. 48f.

(10) vgl. Spiegel 3/2001, 15.1.01, S. 29.

(11) Johann Bauer, in Graswurzelrevolution 126, S. 2.

(12) Sinclair, ebenda, S. 468f.

(13) ebenda, S. 460.

(14) ebenda, S. 470f.

(15) Johann Bauer, in Graswurzelrevolution 126, S. 2.

(16) ebenda.