Günseli Kaya wurde 1955 geboren und lebt in İzmir. Bis zum Putsch von 1980 war sie Lehrerin. Von 1981 bis 1983 war sie im Gefängnis. 1986 folgte ein 10monatiger Gefängnisaufenthalt. Zuletzt war Günseli für fast vier Monate inhaftiert, weil sie sich an der Beerdigung eines Inhaftierten beteiligt hatte, der während des Massakers im Ankara Ulucanlar-Gefängnis getötet wurde. Der Prozess gegen sie dauert an. Günseli ist seit langen Jahren im Menschenrechtsbereich aktiv. Sie arbeitet hauptamtlich in der Menschenrechtsstiftung (TİHV) und ist derzeit Vorsitzende der Zweigstelle des Menschenrechtsvereins (İHD). Wir haben über die Typ F Gefängnisse und das Todesfasten gesprochen, welches inzwischen den 111. Tag (1) erreicht hat. Da es in Deutschland -für Interessierte- ausreichende Infos zu den Einzelheiten des Todesfastens gibt, haben wir hauptsächlich über Hintergründe gesprochen. Trotzdem wollen wir kurz an die aktuelle Situation erinnern: Während dem Angriff auf die Gefängnisse, welcher am 19. Dezember 2000 angefangen hat, wurden 33 Menschen ermordet und ca. 1000 der hungerstreikenden Inhaftierten wurden in die neu fertiggestellten F-Typ Gefängnisse verlegt (vgl. GWR 256). Seitdem wird der Informationsfluss stark behindert. Von ca. 2000 Inhaftierten, die sich im Hungerstreik befinden, beteiligen sich ungefähr 350-400 am Todesfasten und es wird jederzeit mit dem Sterben vieler von ihnen gerechnet.
Otkökü – Kannst Du uns kurz über die Gefängnisse vom Typ F informieren?
Günseli – Die Typ F Gefängnisse werden seit 1991 geplant. Schritte zur Umsetzung wurden aber erst 1997 eingeleitet. Ziel des Projekts ist es, die Meinungen und Überzeugungen der politischen-oppositionellen Inhaftierten zu vertilgen und sie zu isolieren. Allein wenn wir uns die Zahl der geplanten Gefängnisbauten und deren Kapazität vor Augen führen, wird ganz offensichtlich, dass das Projekt auf die 13.000 politischen unter den insgesamt 58.000 Inhaftierten gerichtet ist. Drei Gefängnisse sind bereits errichtet und wurden infolge des Angriffs vom 19. Dezember 2000 belegt. Sie befinden sich in Kocaeli, Ankara-Sincan und Edirne. Jedes hat eine Kapazität von 368 Personen. 2000 der politischen Inhaftierten sind sozialistisch links und ca. 8000 sind Anhänger der PKK. 56 Gefängnisse werden derzeit umstrukturiert und an den Typ F angepasst. Die Kapazität dieser 56 Gefängnisse und der zu errichtenden Typ F Gefängnisse ergibt die Summe der politischen Inhaftierten. Bis 2005 sollen insgesamt elf Typ F Gefängnisse und die 56 umgebauten Gefängnisse in Betrieb genommen werden. Für die verbleibende Kapazität sollen die restlichen Inhaftierten klassifiziert werden. Auch Inhaftierte, die aufgrund von organisierter Kriminalität, d.h. aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der Mafia, in diese Gefängnisse verlegt werden sollen. Aber das eigentliche Ziel ist es, die Meinungen und Überzeugungen der Mitglieder und Anhänger von politischen Organisationen auszulöschen und ihre Persönlichkeit zu brechen. Der Justizminister behauptet zwar, die Typ F Gefängnisse zielen darauf ab, das Gefängnisproblem (2) zu lösen, aber die Praxis bestätigt dies nicht. Die Einzelzimmer sind 10 m2 gross. Die zweistöckigen Dreierräume sind insgesamt 50 m2 gross.
O. – Wurde dieser Typ in der Türkei entworfen? Gibt es zwischen den Isolationsanwendungen im Westen und diesem Projekt eine Verbindung?
G. – Meiner Meinung nach, ja. Das 1991 verabschiedete Anti-Terror Gesetz, ist nicht vom türkischen Staat alleine entwickelt worden. Es gibt ähnliche Gesetze in vielen europäischen Ländern. Aber die Definition von Terror ist in bürgerlichen Demokratien eine andere, als bei uns. In der Türkei gilt jede Aktivität aller Gruppierungen, die nicht im Rahmen der Gesetze gegründet wurden als Terror. Ein illegales Flugblatt oder Plakat (3) gegen den IMF gelten schon als Terroraktionen. Daher wird eine AktivistIn, die sich an solch einer Aktion beteiligt hat, noch bevor ein Gerichtsurteil vorliegt, als „TerorristIn” inhaftiert. Die Umsetzung ist also eine andere. Trotzdem wurden diese Gefängnisse nach Vorbild europäischer Anti-Terror Gesetze, Vollstreckungspraxis und mit der Unterstützung europäischer Fonds gebaut. Es wäre also falsch zu sagen, der türkische Staat hätte dieses Projekt alleine aufgezogen.
O. – Mit den Typ F Gefängnissen wird nicht nur Repression, sondern auch ein neues Vollzugssystem diskutiert. Hat dies mit der ökonomischen und sozialen Strukturierung der Türkei etwas zu tun? Um das noch ein bisschen auszuführen. Z.B. werden Gefängnisse in den USA privatisiert, in Betriebe verwandelt und die Inhaftierten werden in den Dienst des Kapitals gestellt. Gibt es in der Türkei eine parallele Tendenz, wie die der „Globalisierung”, die dazu neigt, Zwangsarbeit zu legitimieren?
G. – Die Frage besteht aus zwei Teilen. Statt von einer Neustrukturierung, können wir eher von einer Konsolidierungsphase des Staates sprechen. Die politisch-oppositionellen Kreise haben sich nach dem Militärputsch von 1980 nicht wieder erholt. Die bis 1980 errungenen demokratischen und gewerkschaftlichen Rechte haben im Staat ernsthafte Breschen geschlagen. Es handelt sich um Projekte zur Institutionalisierung der Zurückdrängung dieser Rechte. Wir beobachten, dass seit 1980 der Anteil für die Justiz im Staatsetat stetig sinkt. Im Etat von 2001 wird der Anteil des Justizministeriums noch weiter sinken und zweidrittel des Justizbudgets werden für die Typ F Gefängnisse bereitgestellt werden. Der Anteil des Gefängnispersonals etc. beschränkt sich also auf eindrittel. Dies zeigt, dass im Rahmen der Konsolidierung des Staates es nicht darum geht, dem Recht zu dienen, sondern die politische Opposition auszulöschen. Um zum zweiten Teil der Frage zu kommen; diese Typ F Gefängnisse wurden nach den Standards der UN und EU entworfen, also eigentlich hauptsächlich in Anlehnung an Modelle in den USA, Frankreich, England und Deutschland. Das ist wichtig, denn die dortige Anwendung wird mit der Zeit hier eingeführt werden. Die Typ F Gefängnisse werden auf 10.000 bis 15.000 Hektar Boden ausserhalb der Städte gebaut. Hier geht es nicht nur darum, die Brutalität in den Gefängnissen zu verbergen. Ich denke, dass ausserdem beabsichtigt wird, die Industriegebiete aufs Land zu verlegen und um die Gefängnisse anzusiedeln, um billige -ja sogar fast unentgeldliche Arbeitskraft zur Vefügung zu stellen. In den Projekten wird sowieso ein viel grösseres Flächenmass vorgesehen, als die Gebäude einnehmen. Die Phase, die öffentliche Diskussion reifen zu lassen und zu erweitern, sie in der Gesellschaft zu verwurzeln, ist noch nicht abgeschlossen. Für die Arbeitgeber steigen die Kosten für Arbeit und selbst das hiesige Kapital wandert in Länder wie Rumänien aus, um den Gewinn mit billigerer Arbeitskraft zu maximieren. Daher denke ich, dass solch eine steuerfreie Erweiterung des Arbeitsmarktes unter den Ministern bestimmt diskutiert worden ist. Zusammengefasst kann ich sagen, dass das Prinzip von Häftlingsarbeit, wie es in den USA angewandt wird, innerhalb von 5 bis 10 Jahren unter Lenkung des Kapitals der Öffentlichkeit als Notwendigkeit aufoktroyiert und mit den nötigen gesetzlichen Regelungen in die Praxis umgesetzt werden wird.
O. – Verglichen mit dem Todesfasten 1996, war die Sensibilisierung und Mobilisierung in der linken und generellen Öffentlichkeit dieses Mal schwächer. Natürlich hat sich für die Organisationen der Inhaftierten an der Situation nichts geändert, aber wie deutest Du die partielle Lähmung der legal organisierten Linken?
G. – Ich denke, dass das für die Zeit bis zum Angriff auf die Gefängnisse nicht zutrifft. Z.B. hat es sich die Zweigstelle des ÝHD in Ýzmir seit 1997 zur Aufgabe gemacht, die Öffentlichkeit zu den Isolationszellen zu informieren. Diese Bemühungen wurden mit der Anti-Isolationsplattform im Juni 2000 weiter konkretisiert und mit der Teilnahme verschiedener Gewerkschaften und Vereine fanden wöchentliche Aktionen statt. In manchen Wochen, hauptsächlich im Juni und Juli, gab es 2-3 Aktionen und die Mobilisierung nahm zu. In diesen Aktionen wurden verschiedene Aspekte thematisiert. Z.B. die Beziehung der Gefängnisse zum Staatsetat oder es wurde verdeutlicht, dass die Gebäude selbst nur einen sekundären Teil des Problems darstellen. Dies ist ein Unterschied zu 1996. Damals fing die Mobilisierung in den 50er Tagen des Todesfastens an. Doch nach dem Angriff vom 19. Dezember hat das Staatssicherheitsgericht ein Nachrichtenverbot zur Gefängnisproblematik und zum Todesfasten verhängt. Kurz danach zog die Oberste Aufsichtsbehörde für Radio und Fernsehen (RTÜK) mit. Hierauf änderte sich die Situation und die Wahrnehmung hinsichtlich demokratischer und friedlicher Aktionen. Während die Kammern der ArchitektInnen, ÄrztInnen und AnwältInnen, die bis dahin Berichte über den Widerspruch der Typ F Gefängnisse zu universalen und juristischen Normen veröffentlichten und eine dynamsiche Linie zur Beendung des Todesfastens vertraten, wurde es nach dem Angriff still. Und mit den Erklärungen des Staates, die darauf abzielten die politische und demokratische Opposition zu unterbinden, führte die Stille, die unzureichende Mobilisierung und die Verdrängung des Themas aus der Tagesordnung zu einem regelrechten Tiefpunkt.
O. – Der Widerstand durch Todesfasten dauert nun 111 Tage an und es zeigt sich kein Lichtblick für irgendeine Übereinkunft. Dabei gab es auf die 60sten Tage hin Hoffnung auf eine Lösung, durch die Bemühungen der Vermittlerdelegationen, den Aktionen auf den Strassen und das relativ hohe Interesse in der Öffentlichkeit. Genau zu dem Zeitpunkt ereignete sich der bewaffnete Angriff der TKP-ML (4) . Wie bewertest Du die Auswirkung des Angriffs auf die Entwicklung der Ereignisse?
G. – Am 9. Dezember erklärte der Justizminister, die Eröffnung der Typ F Gefängnisse würde bis zu einer gesellschaftlichen Einigung -für mindestens sechs Monate- zurückgestellt. Es wurde gesagt, die Vorschläge der Architektenkammer und der Ärztekammer -ohne sie namentlich zu nennen- würden berücksichtigt, unabhängige Gefängnisaufsichtsräte würden gegründet und entsprechende Artikel des Anti-Terrorgesetzes, welche dem Vollstreckungsstandard widersprechen, würden justiert werden. Erst nach der Verabschiedung entsprechender Gesetze, sollten die Typ F Gefängnisse eröffnet werden. Doch zehn Tage später kam der Angriff auf die Gefängnisse. Damit hat der Staat sich selbst dementiert. Millionen hatten dieser Erklärung zugehört und wieder Millionen haben am 19. Dezember dem Angriff zugeschaut. Eigentlich hat der Staat hiermit seine Vertrauenswürdigkeit verspielt.
Die Aktion der TKP-ML hat die Entwicklung natürlich negativ beeinflusst. Sie hat die Legitimationsbasis derer, die auf demokratischen Plattformen, in der Öffentlichkeit gegen das Typ F Model arbeiteten ins Rutschen gebracht.
O. – Die Windrichtung hat sich also geändert…
G. – Ja, es wurde Öl in das Feuer gegossen. Zweifellos war die Auswirkung dieser Aktion negativ.
O. – Nach dem Streufeuer auf den Polizeibus ist mir keine Strategiediskussion innerhalb der linken Öffentlichkeit aufgefallen. Dabei hat eine derartige Aktion zu einem Zeitpunkt, in dem alles auf des Messers Schneide steht, ein eigenes Gewicht und Auswirkungen auf alle Aktiven. Ist es nicht endlich notwendig, dass die Linke -ohne zwischen Fraktionen/Parteien/Gruppen zu differieren- eine ganzheitliche Diskussion zur Gewalt als Mittel beginnt und Selbstkritik übt?
G. – Wenn wir von der Linken sprechen, können darunter die legalen linken Parteien oder Gruppen, die ausgehend von der Inexistenz einer politischen Demokratie sich nicht im legalen Rahmen deffinieren, verstanden werden. Es ist auch eine Herangehensweise denkbar, nach der die CHP (5) ein Teil der Linken ist. Es ist also nicht sehr klar, was gemeint ist, wenn wir von einer Linken sprechen. Daher ist ebenso unklar, wer dieses Problem diskutieren soll. Die legalen Parteien haben die Aktion kritisiert. Sie wiesen darauf hin, dass sie nicht dazu beitragen, die Demokratie zu verwirklichen. Die Zentrale des ÝHD bewertete sie als eine Aktion, die die Handlungsmöglichkeiten der demokratischen Kräfte einengt und dem Staat das Alibi liefert, seine Gewalt zu vertuschen. Die Kritik der Aktion durch die Medienkanäle hat keine Diskussion entfacht. Aber diese Aktionsmethode wird von den genannten Kreisen sowieso nicht akzeptiert. Diese Feststellungen wurden also gemacht und zurückgelassen. Die Gruppen, die sich nicht im legalen Rahmen befinden, haben auch nicht reagiert, da sie die Kritiker sowieso als Reformisten ansehen.
O. – Zuletzt zur aktuellen Situation: Wie ist die Situation der Todesfastenden? Und was läuft nun in den Typ F Gefängnissen ab?
G. – Die Situation in den Typ F Gefängnissen ist extrem schlecht. Es besteht auch kein Unterschied mehr zwischen den Typ F Gefängnissen und den anderen Gefängnissen, in denen die politischen Inhaftierten sind. Z.B. wurde behauptet, dass ein gelähmter Inhaftierter im Malatya-Gefängnis und viele Inhaftierte in Kocaeli-Kandýra vergewaltigt wurden. Die Hegemonie der Gendarmerie und ernsthafte Einschränkungen (der Inhaftiertenrechte) sind sehr deutlich. In den Gefängnissen, in denen das Todesfasten fortgeführt wird, wird ein Repressions- und Folterregime angewandt, welches den Ausnahmezustand von 1980 bei weitem übertrifft. In einer parlamentarischen Demokratie würde nicht nur der Justizminister, sondern die ganze Regierung zurücktreten müssen. Dabei wird diesen Behauptungen nicht einmal auf den Grund gegangen. Viele Inhaftierte befinden sich in der kritischen Phase. Nichts wird getan und es wird auf ein Massensterben gewartet. Der Staat ist entschlossen, den Menschen, denen er die Freiheit raubt, das Recht auf eine menschliche Existenz in Würde -ich spreche nicht vom Recht auf ein Vegitieren, wie eine Pflanze- zu verweigern. Erst vorgestern erklärte der Justizminister, dass keine der Forderungen der Inhaftierten akzeptiert werden wird. Es soll ein Massensterben geben und die Staatsautorität soll auf diesem Boden errichtet werden. Das soll die zukünftigen Inhaftierten ängstigen und diese Säule aus Angst soll aus der ganzen Türkei sichtbar sein. 33 Menschen sind gestorben. Es werden Hunderte folgen. Das ist ein Einschüchterungsversuch gegenüber allen demokratischen und oppositionellen Kräften. Aber ich denke, dass das so nicht weitergehen kann. Dieses Gebilde werden sie historisch nicht errichten können. Sie bereiten ihr eigenes Ende vor.
O. – Danke für das Gespräch.
(1) Dieses Interview wurde am 9. Februar 2001 gemacht.
(2) Überfüllung, soziales und hygienisches Chaos und unzureichende Staatsautorität (Anm. d. Übersetzers)
(3) Die Unterlassung einer Anmeldung reicht aus, um ein Flugblatt, bzw. Plakat illegal zu machen. (Anm. d. Übersetzers)
(4) Die TKP-ML (Türkische Kommunistische Partei - Marxistisch Leninistisch) hat am 11. Dezember 2000 einen Polizeibus angegriffen, als Vergeltung an der Ermordung eines Aktivisten, der sich an einer Plakatieraktion gegen Typ F Gefängnisse beteiligte. Zwei Polizisten kamen um. (Anm. d. Übersetzers)
(5) Republikanische Volkspartei. Von Kemal Atatürk gegründet. Versteht sich als sozialdemokratisch, stützt den autoritären, kemalistischen Staatsapparat und gelang bei den Wahlen 1999 zum ersten Mal nicht ins Parlament. (Anm. d. Übersetzers)