Als im vergangenen Herbst in den USA der Gesetzentwurf zur Anerkennung des Genozid an den Armeniern auf die Tagesordnung gesetzt wurde, waren die Sprecher der armenischen Gemeinde in der Türkei nicht sonderlich erfreut. Wichtig seien nicht die "von Staatsorganen getroffenen, sondern die auf dem Gewissen der Völker" beruhenden Entscheidungen, erklärten sie. Die Bemühungen müssten darauf konzentriert werden, dass sich die Völker einander nähern. Darauf müsse die Hoffnung gesetzt werden und nicht auf anderes.
Ist es möglich, dass in dieser Haltung Angst eine Rolle spielt?
Vielleicht. Niemand kann dieser Gemeinde einen Vorwurf machen, wenn sie Angst vor aufgehetzten, nationalistischen Reaktionen hat, falls irgendwer irgendwo in der Welt den „sogenannten Genozid an den Armeniern“ (1) offiziell ratifiziert und anerkennt. Aber nein, ich denke, dass die Sprecher der armenischen Gemeinde wirklich meinen, was sie sagen. Ohne die Bedeutung einer internationalen politischen und juristischen Festlegung des Massakers an den Armeniern zu negieren, lege ich mehr Wert auf zivile, inoffizielle Gedanken und Gefühle, auf Initiativen von Bevölkerung zu Bevölkerung, von Mensch zu Mensch. Meiner Meinung nach wird der Widerstand gegen die instrumentale Macht-Mentalität, die den auf Staaten gerichtete zwischenstaatlichen Initiativen zugrunde liegt, weiter an Kraft verlieren, wenn nicht Beziehungen zwischen Bevölkerungen und Menschen entwickelt werden.
Wie steht es in der Türkei mit der ‚zivilen’ Ebene? Wie steht es im öffentlichen Raum mit Bemühungen, den „Armenischen Fall“ zu bewältigen? Gibt es hoffnungsfrohe Zeichen?
Im Vergleich zu der Zeit der Militärdiktatur vor 20 Jahren, als der ASALA-Terror (2) die Tagesordnung bestimmte, sind, was in der Öffentlichkeit kursierende Äusserungen anbelangt, positive Entwicklungen erkennbar. Natürlich nur mit einem Schuss poliannischer (3) Haltung… Aber wir dürfen nicht vergessen, wie schlecht die Ausgangsposition ist. In einem Land, in dem „Armenier“ als ein Erniedrigungsadjektiv gebraucht wird und in dem versucht wird, das Ansehen des PKK-Führers „Apo“ mit dem ‚Argument’ niederzumachen, er sei „eigentlich ein Armenier“, mag ein wenig Poliannismus nötig sein!
Zunächst ist festzuhalten, dass während der letzten Kampagne in den linksliberalen Zeitungen der großen Medienkonzerne, die eine eher kleine Auflage haben, von der offiziellen Haltung abweichende Meinungen reichlich vertreten wurden. Aber auch bei offiziellen Verlautbarungen lässt sich ein erstes Abbröckeln beobachten. Der offiziellen Haltung gemäss ist es eine komplette Lüge zu behaupten, es habe einen Genozid an den Armeniern gegeben. Schon technisch gesehen sei eine Einstufung als „Genozid“ nicht möglich; ja es könne noch nicht einmal von einem Massenmord die Rede sein. Solche Behauptungen seien das übliche Instrumentarium der armenischen Lobby und des „Westens“, welcher darauf fixiert ist, die Türkei -gelinde ausgedrückt- zu destabilisieren. Die einzig richtige Erwiderung könne nur sein, zu leugnen und sich mit aller Kraft (in Anspielung auf „die Kraft der Türkei“) zu widersetzen. Es zeigt sich inzwischen eine Neigung, an das Thema mit einer taktischen „international public relations“ heranzugehen. Es finden sich Empfehlungen zur Toleranz oder dazu „die Sache an die Historiker weiterzugeben“ sowie „die Vergangenheit zu vergessen und sich an der Zukunft zu orientieren“. Diese Motive werden inzwischen auch von offizieller und halboffizieller Seite zunehmend vertreten.
Allerdings sind diese Empfehlungen für Toleranz und Dialog inhaltslos. Sie zielen z.T. sogar darauf ab, Rassismus zu vertuschen. Die Empfehlung, „den Fall der Geschichte zu übergeben“ ist nicht „versöhnend“; sie spielt das Thema herunter. Falls wir uns aber Poliannismus erlauben, dann könnten wir annehmen, dass diese „Sprüche“ eine Grundlage schaffen, auf der sich eine Tür zu Diskussion und Reflexion öffnet.
Das an die offizielle Haltung unbeholfen angehängte und auch von Präsident Sezer geäußerte Motto, „das Thema den Historikern zu überlassen“ stellt mit seinen nationalistischen Interpretationen keine Öffnung dar. Entweder zeugt es von dem Versuch, das Thema akademisch zu isolieren („lasst doch die Historiker sich in Diskussionen verlieren“) oder von einer ignoranten Ausrede („na und wenn schon!“) oder ist ein Anzeichen für die Absicht, mit Hilfe von think-tanks und pompösen Historienfilmen einen energischen Lobby-Angriff zu starten. Im Hinterhalt der „Geschichtsschreibung“ warten nicht nur Statistikduelle, die die Beweissammler der These, dass das eigentliche Massaker von den Armeniern ausgeübt wurde, in helle Freude versetzen werden. Es wartet auch die kriegsverharmlosende These des „gegenseitigen Massakers“, ja sogar die Haltung, die einen Massenmord als belanglos ansieht, da er dem „antiimperialistischem“ Ideal gedient habe. Offensichtlich ist aber, dass eine Horizonte eröffnende Diskussion gestärkt würde, wenn es gelänge, Raum für einen Geschichtsschreibungsansatz zu schaffen, der sich nicht durch die offizielle Geschichtsschreibung einengt. Der Historiker Halil Berktay hat -heftige Reaktionen und Drohungen in Kauf nehmend- einen wichtigen Schritt getan. Er behauptete, der Massenmord sei von semi-konspirativen paramilitärischen Organen der damals herrschenden Ýttihat ve Terakki-Partei (4) verübt worden. (5)
Diskussionen, die nicht durch die makropolitischen Dimensionen des Problemfelds eingeschränkt werden, sondern eine Dimension von sozialer Historik beinhalten, können viel erreichen. Sie können Vorurteile erschüttern, eine Konfrontation mit der Vergangenheit und der Gegenwart erleichtern und möglich machen, dass die uns aufgestülpten homogenen Identitäten hinterfragt werden. Wie in der Erklärung von Berktay vorgeführt, ist der solideste Schritt rassistische Stereotypen zu überwinden, wenn in verschiedene „türkische“ und „armenische“ Gruppierungen und politischen Richtungen innerhalb der entsprechenden Bevölkerungen unterschieden wird, statt platt „die Armenier“ und „die Türken“ zu vereinheitlichen. Ayda Erbal z.B. schlug am 29. September 2000 in der Wochenzeitschrift Agos (6) eine „spezielle“ Mikro-Historik, eine „Historik der Zivilcourage“ vor. Bezugnehmend auf die Menschen in Deutschland, die ihrem Gewissens gehorchend während der Vernichtung der europäischen Juden ihre jüdischen Nachbarn und Bekannten versteckten, meinte sie: „Wenn es eine Geschichtsschreibung geben soll, muss sie -auch wenn sie eine Minderheit waren- mit der Geschichte dieser mutigen Menschen anfangen. Wer auch immer das Baby, das in Amasya auf einem Acker zurückgelassen wurde, aufgezogen hat; seiner/ihrer Geschichte gebührt Priorität. Denn dann und nur dann, können wir die Geschichte davor retten eine ‚Geschichte der Barbarei’ zu werden. Das Gegenteil verspricht nichts anderes als eine Steigerung von Hass und Feindschaft.“
Traumata zu vergessen, zu verleugnen oder mit einer aggressiven Defensivhaltung und epischer Verherrlichung zu übergehen sind Angewohnheiten des nationalistischen Geschichts(unter)bewusstseins. Hieraus ergibt sich nichts anderes als ein kollektives (Unter)Bewusstsein, dass unfähig ist, Trauerarbeit zu leisten, zu reifen, mündig zu werden.
Manche linke oder (kurdische) anti-nationalistische Haltungen entledigen sich dem Trauma des Massakers an den Armeniern, in dem sie es mit dem „türkischen Staat“ gleichsetzen. Hiermit setzen sie auf eine „Schwäche“, mehr noch, auf einen strategischen „wunden Punkt“ des „Gegners“ und tragen zur Reproduktion des aufgeführten (Unter)Bewusstseins bei. Mikro-Historik, soziale Geschichtsschreibung kann wirklich von Nutzen sein, diese Erstarrung zu überwinden.
Seit den letzten zehn Jahren sammelt sich langsam eine Literatur von sozialen Geschichts- und Kulturrecherchen an, die einen entsprechenden Nutzen herbeiführen könnten. Viele Kassetten/CDs und Bücher (hauptsächlich Memoiren) zur Geschichte und Kultur der nicht-moslemischen Minderheiten sind erschienen. (7) Es ist wahr, dass der Konsum dieser Bücher von einer mittelständischen Nostalgie geprägt ist („Wie schön war das Leben früher. Wir hatten armenische und griechische Nachbarn. Was für gute Menschen das doch waren…“). Aber besonders in den Memoiren der ArmenierInnen schimmert die Vertreibung und das Massaker zwischen den Zeilen durch und es tritt in den Vordergrund, dass diese Menschen hier gebürtig sind und sie tiefe Wurzeln des gemeinsamen Lebens mit den Türken/Moslems haben. Der Spielfilm „Salkým Hanýmýn Taneleri“ (Beeren der Dame Traube), thematisiert die im 2. Weltkrieg angewandte offen rassistische Vermögenssteuer. Er übergeht aus „technischen“ Gründen die Diskriminierung der JüdInnen und stellt die ArmenierInnen in den Vordergrund. Der Film macht das Lied „Sarý Gelin“(Gelbe Braut) berühmt und nun gibt es eine Diskussion darüber, ob die authentische Version dieses populären Liedes türkisch oder armenisch sei. Dabei kommt es zu der Erkenntnis, dass beide Ethno-Musikarten nur sehr schwer zu differenzierende gemeinsame Grundstöcke haben und dann ist da der international bekannte Musiker Civan Gasparyan, dessen mit der „duduk“ (8) gespielte Musik den Menschen in der Türkei unglaublich bekannt vorkommt… Das Interesse für all dies, hat dafür gesorgt, dass der Glaube an eine Gebürtigkeit der Armenier in der Türkei und an eine Ähnlichkeit mit uns sich verbreitete und das die heutige Situation mit der vor zehn Jahren nicht zu vergleichen ist.
Aber Obacht: Im romantischen Interesse an der Gebürtigkeit, der Ähnlichkeit mit uns verbirgt sich auch ein „vornehmer“ Rassismus. Dieses Interesse täuscht über die im „multikulturellen“ (aber ungleich multikulturellem) Osmanischen Reich de facto angewandten, in der Republik fortgesetzten und andauernden diskriminierenden und kriminalisierenden Mechanismen hinweg. Ausserdem erklärt dieser Romantismus „unsere Armenier“ für frei vom Tadel armenisch zu sein. Unsere armenischen Nachbarn, unsere Armenier sind über das Attribut Armenier (also Verräter und per Definition Türkenfeind) erhaben; sie sind eine andere Art, besondere Armenier. Kurz: Türkei-Armenier sind uns nicht nur durch Staatsbürgerschaft (was hat das schon für eine Bedeutung?!), sondern kulturell und im „idealen“ Sinne verbunden.
Diese Differenzierung verbindet sich mit Kategorisierungen, wie sie durch aktuelle politische Analysen zur armenischen Problematik sich einnisten. Demnach muss der „Armenier“, der bisher als ein teuflischer Monoblock bewertet wurde, in drei Teilen verstanden werden: Armenien, die armenische Diaspora in den USA und Europa und die Türkei-Armenier. Die Bewertung der Gefahr, die von diesen drei Kategorien von Armeniern ausgeht kann grob gesehen folgend zusammengefasst werden: Die Türkei-Armenier gehören, logisch, zu uns. Armenien kann, da es aus geostrategischen und ökonomischen Gründen der Türkei gegenüber vorsichtig sein muss, durch diplomatische und ökonomische Mittel („lasst uns die Vergangenheit vergessen… konzentrieren wir uns auf unsere Interessen und den Handel“) unter Kontrolle gebracht werden. Der wirkliche Eigentümer der teuflischen Mission ist die armenische Diaspora, die sich mit dem „Westen“ in einem antitürkischen Verschwörerpakt befindet. Das diese Differenzierung auf einer absolut strategischen Überlegung fußt ist offensichtlich. Mehr noch: die willkürliche Zuschreibung anders zu sein, ein „anderer“ Armenier zu sein, reproduziert die rassistische Sichtweise. Außerdem lassen politische Führer wie Tansu Çiller (frühere Premierministerin) und Journalisten wie Emin Çölaºan, die die „Türkei-Armenier“ zu einer energischen protürkischen Propaganda aufrufen, um ihre Loyalität unter Beweis zu stellen, uns auf den Gedanken kommen, dass „unsere Armenier“ auch nicht von ganzem Herzen akzeptiert, sondern eher konditionell geduldet werden.
Falls wir an Poliannismus festhalten sollten, können wir ohne weiteres davon ausgehen, dass der Romantismus um „unsere Armenier“ wenigstens einen emotionalen Erweicherungseffekt der nationalistischen Vorurteile bewirken mag. Ja, es gibt abseits von politischen und offiziellen Autobahnen, Wege von Mensch zu Mensch und in Tabuthemen wie der armenischen Problematik sind dies die verlässlichsten Wege. Wege, die nicht mit Vereinfachung, Blockade und Instrumentalisierung gegangen werden können. Wege, die eine ausdauernde und kritische politische Einstellung als Lotsen beanspruchen…
(1) Das Thema wird in der Türkei ohne die Vorbemerkung "sogenannt" allgemein nicht zur Sprache gebracht. Der Autor weist auf dieses Dogma hin. (Anm. d. Übersetzers)
(2) ASALA (Armenian Secret Army for the Liberation of Armenia) wurde im Januar 1975 gegründet und hat zwischen 1975 und 1982 unter anderem Anschläge auf türkische Diplomaten durchgeführt. Für weitere Infos s. www.armenians.com (Anm. d. Übersetzers)
(3) Romancharakter. Polianna deutet alles was ihr widerfährt immer positiv. (Anm. d. Übersetzers)
(4) Partei für Einheit und Fortschritt (Anm. d. Übersetzers)
(5) Interview mit Neºe Düzel, 9. Oktober 2000, Tageszeitung Radikal. (Anm. d. Übersetzers)
(6) Agos wird vorwiegend von in der Türkei lebenden Armeniern gelesen. (Anm. d. Übersetzers)
(7) Die seit ca. fünf Jahren in Türkisch-Armenisch erscheinende wöchentliche Zeitschrift Agos, ist mit ihrer Linie, die Armenier nicht auf ihre armenische Identität reduziert und neben Problemen des ArmenierInnen-Seins auch sonstige Beschäftigungsfelder und Neigungen thematisiert, sehr wichtig.
(8) Armenische Version von "düdük" (Hirtenpfeife). (Anm. d. Übersetzers)