Dieser Beitrag ist eine vertiefende Fortsetzung zu der in GWR 256, S. 6 veröffentlichten Buchbesprechung: Susan Arndt, Feminismus im Widerstreit, Afrikanischer Feminismus in Gesellschaft und Literatur, Unrast Verlag, Münster 2000.
Um einen Einblick in wesentliche Eigenarten der afrikanisch-feministischen Literatur zu geben, sei hier ein ausgewähltes literarisches Beispiel angeführt: Es handelt sich um den radikal-feministischen Ansatz von Calixthe Beyala in ihrem Roman Tu t’appelleras Tanga (Dein Name wird Tanga sein). Das Buch erschien 1988 in französischer Sprache, es liegt noch keine Übersetzung vor. In Englisch ist es unter Your Name Shall Be Tanga erschienen. Alle Zitate stammen aus der Romanzusammenfassung und -interpretation von Susan Arndts Buch Feminismus im Widerstreit.
Warum die Auswahl speziell dieses Romans? Die von Calixthe Beyala in Tu t’appelleras Tanga dargestellten Motive und Kern-Themen sind brisant. Dieses besonders hinsichtlich der Versuche von Frauen (Protagonistinnen des Romans), sich aus gesellschaftlich tief-verankerten, festgefahrenen Gender-Positionen zu befreien. Damit verbunden ist ein weiteres, wesentliches Leitthema dieses Romans: der gemeinsame solidarische Befreiungsversuch der Schwarzen Frau Tanga und der Weißen Französin Anna-Claude. Welche Erfahrungen machen sie miteinander? Gelingt ein tatsächlicher, gemeinsamer Befreiungsweg? Die Autorin Beyala zählt zu den radikalen Vorreiterinnen afrikanisch-feministischer Literatur. Ihr Roman bietet herausfordernd-spannenden Diskussionsstoff. Inwiefern ist ein Prozess der Solidarisierung von Frauen größtenteils erschwert? Welche Tatsachen verhindern dieses? Warum ist ein Verhältnis der Komplementarität zwischen Frauen und Männern schwer zu erreichen? Diese letzte Fragestellung verkörpert außerdem eine weitere umstrittene Kern-These des Romans.
C. Beyalas scharfe Kritik an den extrem gewalttätigen Gender-Verhaltensweisen der im Ort der Romanhandlung lebenden Männer soll jedoch keineswegs den Mythos vom Schwarzen Vergewaltiger verfestigen oder herauf beschwören. Der Schwarze Feminismus, der zu Beginn der 1990er Jahre die europäische und Weiße US-amerikanische Frauenbewegung herausgefordert hatte, wehrte sich gegen die rassistische Unterstellung, Schwarze Männer seien triebhaft gewaltsamer als Weisse Männer. Schwarze Feministinnen gingen daher solidarische Koalitionen mit Schwarzen Männern ein.
Calixthe Beyala und ihr Roman
Die aus Kamerun stammende Calixthe Beyala wurde 1961 in Duala, einem Slum, geboren und lebt heute als freie Autorin in Paris, wo sie zudem in der Modebranche arbeitet. Sie eröffnete ein ganz neues Kapitel der afrikanischen Frauenliteratur. „Ihre oftmals autobiographisch inspirierte Literatur ist engagiert, ungeschminkt und provokativ zugleich. Schonungslos setzt sie sich mit Unterdrückung, Sexismus und Kulturkonflikten auseinander.“ Susan Arndt hebt hervor, dass Beyala sich einer poetischen, stark emotional geprägten Sprache „sowie einer erschlagenden Metaphorik“ bedient. Mit dem ihr eigenen schöpferischen Stil will sie die feministische Wirkung ihrer Literatur bestärken. Stilistisch stellt sie sich damit in den Kontext der radikal-feministischen Texte afrikanischer Literaturen. Die Überzeugungskraft dieser Literatur wird in ihrem ästhetischen Gehalt dadurch bewirkt, dass „die Radikalität der feministischen Texte zu einem großen Teil von ihrer Fähigkeit abhängig ist, das Innere der Leser/innen – durch beides, die Handlung wie auch den Erzählstil – zu erreichen und zu bewegen.“ Beyalas Texte zeichnen sich außerdem durch eine nahezu einmalige sprachliche Innovativität aus. Für ihre neun Romane erhielt sie angesehene Literaturpreise.
Worin bestehen die Kernaussagen von Tu t’appelleras Tanga? Es geht um die von Frauen (Protagonistinnen des Romans) an Frauen gestellte Frage: Warum verbünden sich „Frauen mit Männern und patriarchalen Strukturen, obwohl sie damit anderen Frauen Schaden und Leid zufügen, anstatt sich mit anderen Frauen zu solidarisieren, um gegen diese Strukturen und die Männer aufzubegehren, die diese aus egoistischen Gründen produzieren.“? Der Inhalt dieser Fragestellung wird näher verständlich durch die existenziellen Lebensbedingungen der Protagonistinnen des Romans, sowie durch den Verlauf der geschilderten Ereignisse selbst.
Tu t’appelleras Tanga handelt in einem Slum von Inningué, einer imaginären westafrikanischen Stadt. Das Leben dort wird von einer niederschmetternden Hoffnungslosigkeit und Düsternis getragen. Diese Grundstimmung charakterisiert das Dasein in den verslumten Städten des nachkolonialen Afrika. Es herrscht bittere Armut, nackte Gewalt, die Menschen werden von Depressionen gelähmt. „Männer nutzen jedoch die sich ihnen bietenden Möglichkeiten, sich an Frauen zumindest temporär abzureagieren. Wann immer ein Mann in Tu t’appelleras Tanga auftritt, ist er völlig triebhaft und triebgesteuert dabei, eine Frau (mit Gewalt) auf äußerst brutale und unromantische Weise zu seiner sexuellen Befriedigung zu benutzen oder ‚einfach nur‘ zu schlagen.“
Tanga, die Hauptperson des Romans, wächst in einem Klima roher sexueller Gewalt auf. Sie wird von ihrem Vater vergewaltigt und geschwängert; letztlich von beiden Eltern sexuell missbraucht und schließlich von ihnen zur Prostitution gezwungen. Tangas Mutter Taba ist die Tochter einer von Männern kollektiv vergewaltigten Frau. Diese Männer, so heißt es, konnten den „autonomen Geist, Stolz und die Unnahbarkeit“ von Tangas Großmutter Kadjaba nicht ertragen. Sie wollten ihr jeglichen Lebensmut brechen, ihren Geist, Stolz und Würde zerstören. Gewalttätiger Sex bis hin zu ausdrücklichen Formen der Vergewaltigung ist die einzige Sprache, die die im Roman dargestellten Männer sprechen, aber auch ihre Waffe, mit der „sie Frauen zerbrechen, um sie beherrschen zu können.“
Nach den Erfahrungen der Kollektivvergewaltigung bleibt Kadjaba „künftig stumm“, sie stellt sich „taub und blind“. Sie wird gezwungenermaßen Mutter der Tochter Taba, die wiederum aufgrund erfahrener Schädigungen in ihrer unglücklichen Kindheit in dem Kreis der Gewalt verhaftet bleibt und für ihr Leben keinen anderen Ausweg sieht, als eine für sie von Demütigungen und Härte geprägte Ehe mit einem Mann einzugehen, der sie und ihre Kinder sexuell missbraucht und misshandelt.
Mutter und Tochter
Die Thematik der Mutter-Tochter-Beziehung ist ein weiteres, zentrales Thema des Romans. Der durch die Kollektivvergewaltigung gebrochene Lebensmut der Großmutter „vererbt“ sich gewissermaßen psycho-sozial auf ihre Tochter, die jedoch aufgrund erfahrener Härten den sexistischen Missständen gegenüber blind und taub bleibt. Aufgrund ihrer eigenen erzwungenen Mutterschaft ist sie nicht in der Lage, ihren Töchtern eine verständnisvolle und fürsorgliche Mutter zu sein. Vielmehr werden destruktive Aggressionen an den Töchtern abgelassen, bis dahin dass sie Tangas Weg in die Prostitution mitbefördert und sich passiv verhält, als ihr Mann Tanga vergewaltigt. Die (Mit-)Schuld der Mutter kommt außerdem in der Szene zum Tragen, in der ihre Tochter genital beschnitten wird. „Taba ist nicht nur diejenige, die die Beschneidung veranlasst. Nach der Beschneidung ruft (…) sie sogar freudig aus: ‚Sie ist eine Frau geworden, sie ist eine Frau geworden.'“ Die Zwangsmaßnahmen der Beschneidung sowie der Prostituierung der Tochter stehen nicht nur für die Beraubung der sexuellen Lust, sondern versinnbildlichen zudem die völlig Rechtlosigkeit, Unterdrückung und Diskriminierung von Mädchen und Frauen. Insbesondere spricht die Mutter hier geradewegs der Tochter das Recht ab, „ihren eigenen Vorstellungen gemäß leben zu können.“ Ferner wird hier verdeutlicht, dass Frauen sich nicht gegenseitig unterstützen, sondern sich stattdessen das Leben gegenseitig schwer machen; dadurch dass Mütter öftmals den Töchtern das Recht auf Selbstbestimmung prinzipiell beschneiden und ihnen die pressenden Normen der Gewaltspirale vererben.
Zugleich wird ersichtlich, dass eine transformatorische sowie auch radikalere Veränderung der Geschlechterhierarchien potentiell erzielt werden kann, wenn sich primär das gestörte Mutter-Tochter-Verhältnis ändert, dahingehend dass die Mutter die Töchter gleichberechtigt unterstützen und für ihren autonomen, freien Lebensweg bestärken. Darüber hinaus verdeutlicht die von Beyala gestaltete Symbolgestalt eines gestörten Mutter-Tochter-Verhältnisses die Situation der Frauen, die sich massiv unterdrückt auf der untersten Stufe des patriarchalen Systems im neokolonialen Afrika befinden. Sie leiden nicht nur als Bewohnerinnen der Slums, auch nicht nur, weil sie Schwarze Frauen sind, sondern eigentlich vorrangig, weil sie „Frauen“ (Gender) sind. Aufgrund dieses Tatbestands ist ihnen im doppelten Sinne der Zugang versperrt, die sexistisch-rassistischen Strukturen aktiv zu bekämpfen und sich dadurch zu befreien.
Traumbild als Utopie
Tanga, die „Tochter der dritten Generation“, beginnt trotz erfahrener Repression und Diskriminierung zu rebellieren. Entgegen aller entwürdigenden Erfahrungen mit sexuell-gewalttätigen Beziehungen, vorrangig mit Männern ihrer sozialen Umgebung, entwirft sie für sich das Traumbild eines heilen, erfüllten Lebens: „‚Ich werde mein Haus haben, den Garten, den Hund, die Elster am Rande der Wiese, Kinder.‘ – Dieser Wunsch, der im gesamten Buch zwölf Mal Erwähnung findet, ist gewissermaßen das Leitmotiv des Romans.“ Zunächst ist es derselbe Traum, den die Mutter träumte: der Glaube, einen liebenden Mann zu finden und in einer harmonischen Kleinfamilie Erfüllung zu erhalten. Im Gegensatz zu den Wegen anderer Frauen des Romans geht Tanga nicht ausschließlich in eine von Gewalt durchtränkte Ehe hinein, die ihr das heile Bild des Traumes vollends zerstört hätte. In dem 14-jährigen gehbehinderten Adoptivsohn Mala findet die 16-jährige Tanga einen liebevollen, verständnisvollen Freund. In dieser Gefährtenschaft erlebt sie sogar die Erfüllung ihres Traumes und es heißt: sie waren nahezu glücklich.
Vor allem zwei Ereignisse aus ihrem Zusammenleben zeigen das: „Zum einen nehmen sie sich zusammen eines Hundes an. Zum anderen schenkt Mala Tanga ein Bild mit einer Elster am Rande einer Wiese.“ Dabei wissen beide, dass Tanga als verarmte Slumbewohnerin in einer westafrikanischen Großstadt ein eigenes Haus – ganz zu schweigen eine eigene Wiese – niemals erhalten wird. Sie konnte sich jedoch aufgrund ihrer kreativ-produktiven Ausrichtung auf das Traumbild zumindest ansatzweise ein Stück Erfüllung verschaffen.
Als Mala, die einzige männliche Romanfigur, die aus dem Kanon der übrigen gewalttätig-rohen Männerfiguren ausschert, am Höhepunkt von Tangas Glück stirbt, schließt sie sich aus Verzweiflung einer Gruppe Kleinkrimineller an, „die sich unter anderem durch Geldfälscherei – metaphorisch gesehen: durch die Illusion, ‚dazugehören zu können‘ am Leben erhalten.“ Der Verlauf der Dinge entwickelt sich dahingehend, dass diejenigen, die Tanga betrügen, straffrei ausgehen und stattdessen sie, als sie zu betrügen beginnt, gefasst und eingesperrt wird. „Im Verlauf des Verhörs durch die Staatspolizei wird sie gefoltert.“ Sie stirbt schließlich an den durch Folter verursachten Verletzungen.
Neue Freundinnenschaft
Eine zumindest partielle, tatsächlich befreiende Veränderung in Tangas Leben konnte nicht erreicht werden. Die Tatsache, dass Mala wegen seiner Krankheit sterben muss, weil ihnen das Geld fehlt, ihm eine angemessene ärztliche Behandlung zu gewährleisten; sowie die Tatsache, dass Tanga völlig zu Unrecht bestraft und brutal zu Tode gefoltert wird, zeigt, dass nicht nur das Verhalten der Männer und die patriarchalen Strukturen für das Scheitern befreiender Lebensvisionen verantwortlich sind, sondern ebengleich die verfestigten Unrechtsstrukturen der neokolonialen Armut, hier doppelt verstärkt durch die Machenschaften eines diktatorischen Regimes.
In Gegenüberstellung zu den zutiefst gestörten, unsolidarischen Beziehungen von Männern und Frauen – verursacht durch gewalttätiges egozentrisches Männerverhalten, sowie der fehlenden konstruktiven Frauen-Verbindungen – gestaltet Beyala in Tu t’appelleras Tanga eine Vision einer solidarisch-schöpferischen Frauenbeziehung. Dabei ist es kein Novum der afrikanisch-feministischen Literatur, dass „der abgeschlossene Raum einer Gefängniszelle der Ort (ist, d.A.), an dem weibliche Solidarität, Wärme und die versteckte Hoffnung auf eine neue Welt einen Nährboden finden.“ In der Gefängniszelle begegnet die aus Paris stammende Philosophin Anna-Claude der sterbenden Tanga. Anna-Claude wurde inhaftiert, weil sie gegen das diktatorische Regime protestiert hatte. Sie will verhindern, dass Tangas Leben mit der Dunkelheit verschmilzt, „ohne Spuren zu hinterlassen.“ Es entsteht ein inniges Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Frauen. Anna-Claude inspiriert Tanga, ihre eigene Lebensgeschichte „in die Welt zu tragen“. Tanga jedoch geht es um wesentlich mehr als die Wiedergabe ihrer Geschichte. Sie entgegnet Anna-Claude: „Meine Geschichte wird das Brot sein, das zum Überleben geknetet werden muss. Lass mich ihr freien Lauf lassen, um die Zukunft zu errichten.“
Worin besteht diese Zukunft? Tanga äußert der Freundin gegenüber: „Ich möchte, dass mir ein neues Leben skizziert wird, indem ich anbiete, dem Kind, das jemanden braucht, und auch anderen Kindern, eine Mutter zu sein.“ In dieser metaphorischen Aussage spricht auch die Autorin Beyala, die damit verdeutlichen möchte, dass sie sich als Radikalfeministin nicht prinzipiell gegen die biologische Mutterschaft stellt, vorausgesetzt Frauen wählen diese aus freiem Willen und nicht als Folge sexueller Gewalt sowie aufgrund der Norm patriarchal-gesellschaftlicher Reproduktion. Zugleich impliziert dieser ausgesprochene Wunsch Tangas ein alternatives, geistiges Verständnis von „Mütterlichkeit“. Es geht um das tiefere Verständnis von anzustrebender Solidarität unter Frauen; um das Bestreben, die Welt zu verändern und drückende Formen der Diskriminierung und des Hasses schöpferisch zu überwinden. In diesem Sinne geht es darum, die von Männern gebrochene Weisheit, den Stolz und die zerstörte Würde von Tangas Großmutter Kadjaba – bildlich gesprochen – wieder herzustellen.
Die Freundschaft zwischen Tanga und Anna-Claude überwindet ein weiteres ausschlaggebendes Tabu. Tanga sieht in der europäischen Freundin nicht nur „die Stellvertreterin“, welche nach ihrem Tod die Geschichte der diskriminierten Mädchen und Frauen aus westafrikanischen Slums weiter erzählt. Vielmehr finden die beiden Frauen ein Verhältnis intimen Vertrauens und Einverständnisses, zu dem Tanga äußert: „O.k., komme in mich. Mein Geheimnis wird erhellt. Aber zuvor muss die Weiße Frau in dir sterben. Gib mir deine Hand, von nun wirst du ich sein. Du wirst siebzehn Jahre alt sein, du wirst Schwarz sein, dein Name wird Tanga sein.“ Anna-Claude vollzieht diesen Identitätswandel tatsächlich. „Sie wird Tanga. Als sie in einem Verhör aufgefordert wird, Name, Alter und Beruf zu nennen, antwortet sie: ‚Mädchen-Frau, Schwarz, siebzehn Jahre, Gelegenheitsnutte‘.“
Mit dem von Beyala gestalteten Ansatz einer transnationalen Solidarisierung „jenseits von Schwarz und Weiß“ forciert sie gewissermaßen den Diskussionsprozess afrikanischer Feministinnen. Ebenso ist ihr Ansatz eine Herausforderung an den eurozentrierten westlichen Feminismus. Denn ihr Grundpostulat ist, dass die Entfaltung einer tatsächlichen Solidarisierung zwischen Schwarzen und Weißen Frauen realisierbar ist. Sie geht davon aus, dass Schwarze wie auch Weiße Frauen aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation analoge Erfahrungen durchlaufen und deshalb gemeinsame Wege der Unterstützung und Befreiung finden könn(t)en. Beyala will ihren Ansatz jedoch nicht als idealistische Konzeption verstanden wissen. Der Roman verspricht keine Verheißungen auf Befreiung. Das beweist insbesonders das Endresultat: der Foltertod Tangas. Außerdem wird im weiteren Verlauf der Geschichte von Anna-Claude und Tanga verdeutlicht, dass der gemeinsame Befreiungsprozess ein sehr langer, steiniger Weg sein wird.