Meine Fahrt ins Wendland begann am Sonntag Morgen auf dem Münsteraner Bahnhof. Auf dem Bahnsteig traf ich einen anderen Atomkraftgegner, so daß ich unterwegs Gesellschaft hatte. In Lüneburg angekommen ging ich mit zwei anderen in Richtung X-1000malquer Camp bei Wendisch-Evern. Unterwegs erfuhren wir, daß die Polizei verboten hatte, Zelte zum Übernachten aufzustellen, aber wie einer meiner Begleiter meinte, schließlich hätte er Abenteuer-Urlaub gebucht. Am Sonntag Abend war das Camp bzw. die Mahnwache noch recht klein. Aufgebaut waren ein Infostand, ein Küchen- und ein Sanizelt, zwei oder drei Wagen. Ein Bauer brachte Strohballen vorbei, die als Windschutz und Unterlage verwendet wurden. Dann wurde bekannt, daß die Kirchen und Gemeindehäuser für AtomkraftgegnerInnen geöffnet waren. So kam es, daß ich die Nacht von Sonntag auf Montag zusammen mit hundert anderen in St-Johannis, einer großen gotischen Kirche in Lüneburg übernachtete. Die Atmosphäre war einmalig. Die gedämpfte Kirchenstimmung und zwischen den Bänken und in den Seitenschiffen, schliefen Leute auf ihren Isomatten oder unterhielten sich leise. Viel geschlafen habe ich allerdings dank der guten Akustik nicht.
Am Montag Morgen ging es zurück ins Camp. Glücklicherweise hatte es in der Nacht nicht geregnet und auch an den anderen Tagen blieb es trocken, während das Wetter in anderen Teilen Deutschlands echt schäbig war. Wir wurden sozusagen von oben begünstigt oder wie ein Polizist es ausdrückte, wir hatten ein Sauglück.
Der Vormittag verging mit Planungen, Bezugsgruppenfindung u.ä. Ich lag fast die ganze Zeit, warm eingepackt im Stroh, ließ mich von der Frühjahrs-Sonne wärmen und holte meinen Schlaf nach. Andere machten Musik, diskutierten, spielten Volleyball oder versorgten sich mit Essen und Trinken von Rampenplan.
Am Nachmittag wollen wir auf die Gleise. Mittlerweile sind wir an die 600 Leute. Der Aufbruch kommt überraschend. Das Ziel ist es schnell und geschlossen zum Blockadeort zu kommen. Neben der Solidarität hat mich im Wendland die herrschaftsfreie Organisation des Widerstands beeindruckt. Diese funktionierte trotz der Probleme durch das Verbot, bzw. die Einschränkung der Camps. Z.B. klappte am Montag und Dienstag der Rücktransport der Menschen, die von der Polizei geräumt und im Landkreis ausgesetzt wurden, reibungslos. Ebenso der Transport unseres Gepäcks am Dienstag Abend von Wendisch-Evern nach Dannenberg. Unser Gang auf die Schienen war in dieser Hinsicht ein Höhepunkt. Es war das erste Mal, daß ich eine große Anzahl Menschen in Bewegung nicht als schwerfällige Masse sondern als handlungsfähige Großgruppe erlebt habe. Der Trick war die Unterteilung des gesamten Zuges in einzelne „Finger“ von 100-150 Leuten, die sich an farbigen X’en orientierten. Sobald wir auf die Polizei stießen, splitterte sich der Zug nach vorher abgesprochen Muster auf und die einzelnen Finger zogen geschlossen weiter. Dies überforderte die Polizei. Sie liefen nur noch nebenher und blieben dann ganz zurück.
Auf den Schienen kehrt dann wieder Ruhe ein. Wir setzen uns auf mitgebrachte Strohsäcke. Neben uns zieht die Polizei auf und bildet eine lose Kette. Manche Leute sprechen, diskutieren mit den PolizistInnen. Die meisten werden nach einiger Zeit lockerer. Soll heißen sie stehen nicht mehr wie Statuen und blicken in die Weite, sondern unterhalten sich teilweise untereinander, teilweise mit uns. Erstaunlich ist die viele Presse vor Ort. Es wimmelt von Kameras und ich spiele mit dem Gedanken live durch die Tagesschau zu rennen.
Schließlich beginnt die Räumung. Die Stelle an der wir uns befinden ist für eine Sitzblockade ideal. Die Strecke verläuft innerhalb eines Einschnitts. Die Böschung ist so steil, daß das Hochgehen selbst für einen einzelnen schwierig ist, um so mehr das Hochtragen (!) eines Menschen. Nach einiger Zeit sieht dies auch die Einsatzleitung ein und bestellt einen Zug aus Lüneburg, in den wir verfrachtet werden. Ich werde polizeilich korrekt von den Schienen getragen. Aus dem Zugfenster beobachte ich wie Polizisten aus Leipzig mit schmerzhaften Griffen wegschleppen.
In Lüneburg steht der Zug ungefähr drei Stunden. Schließlich werden die Personalien aufgenommen und wir steigen in Reisebusse, die uns im Landkreis aussetzen. Eine kleine Nickeligkeit kann sich die Polizeileitung nicht verkneifen. Anstatt uns geradewegs zu der Stelle zu fahren, wo sie uns loswerden wollen, erweckt ein Umweg über die Autobahn den Eindruck, wir würden richtig weit fortgebracht. Meine Gruppe, 29 Personen, landet schließlich in Hanstedt 30 km von Lüneburg entfernt. Es ist 23 Uhr und kalt. Wir rufen im Camp an und sie raten uns zum Pfarrer zu gehen. Der ist leicht überrascht, öffnet uns aber sehr freundlich sein Gemeindezentrum und ist bereit uns dort übernachten zu lassen. Leider ist der Abholdienst bereits unterwegs. Um drei Uhr nachts bin ich wieder im Camp und suche mir einen Schlafplatz. Letzte Meldung: Morgen um 6.00 Uhr geht es weiter.
Der Dienstag verläuft ähnlich. Der für früh morgens erwartete Castor verspätet sich deutlich und ich hole meinen Schlaf nach. Dankbar allen guten Geistern, die im Land unterwegs sind und mir diese Ruhepause verschaffen. Als der Castor Kassel passiert hat – nach Göttingen traut er sich nicht – brechen wir wieder auf. Gut doppelt soviel Menschen wie am Vortag in zwei „Händen“. Meine „Hand“ gelangt vollständig auf die Schienen. Die zweite Gruppe schafft es nur zum Teil. Sie werden von der Polizei schnell und unverhältnismäßig hart geräumt. (siehe Chronologie). Als der Zug, mit dem wir abtransportiert werden, losfahren will, blockieren andere Leute ihn von hinten. Er fährt ein wenig – steht; fährt ein wenig – steht.
In Lüneburg rollen wir direkt am Castor entlang. Gott sei dank sind die Fenster zu! Dann das gleiche Spiel wie am Vortag. Der Zug fährt uns nach Hamburg, dann Richtung Lübeck beschreibt einen Bogen und landet schließlich auf einem Bahnhof 20 km von Lüneburg entfernt, wo die Mannschaftswagen für den Rücktransport der Polizei stehen und wir uns selbst überlassen bleiben. Fünf Minuten lang. Dann fährt ein Nahverkehrszug nach Lüneburg ein, den wir in Anlehnung an die Idee Gratiszug in Beschlag nehmen. Wir werden wohl eher wieder vor Ort sein als die Polizei. Unterwegs kommt per SMS die Nachricht, daß der Castor immer noch bei Wendisch-Evern steht. Was für ein Triumph wenn es gelingen würde uns wieder davor zu setzen !
In Lüneburg warten Reisebusse und es geht wieder Richtung Camp. Der Castor ist an Wendisch-Evern vorbei und das Lager wird nach Dannenberg verlegt. Dort ist das Handynetz zusammengebrochen. Daß der Castor bei Dahlenburg sechzehn Stunden aufgehalten werden wird, ahnt niemand. NDR 2 behauptet sogar, der Transport wäre schon am Verladekran eingetroffen. Da hat ein Journalist ganz tief ins Klo gegriffen.
Große Erleichterung als ich mein Gepäck samt Bezugsgruppe wiederfinde. Wir schlagen unsere Zelte auf und gehen schlafen. Der Geheimtip: Eine Wärmflasche in den Schlafsack und es wird mollig! Am Morgen weckt mich die Durchsage, daß der Castor auf dem Rückzug ist. Schily und der Einsatzleiter der Polizei sind wütend. Im Laufe des Vormittags entscheidet sich x1000malquer dafür, zwischen Dahlenburg und Dannenberg eine Schienenblockade und bei Laase kurz vor dem Zwischenlager eine Straßenblockade zu versuchen. Für mich ist am Mittwoch Schluß. Ich treffe Freunde aus meiner Stadt und entscheide mit ihnen nach Hause zu fahren. Als die Spannung von mir abfällt, merke ich wie erschöpft ich bin. Auf dem Heimweg begegnen uns die Verstärkungskolonnen der Polizei. An die zehn Konvois mit Blaulicht, Mannschaftswagen, Räumpanzern u.a. – Unheimlich.
Im Radio machen sich andere Grüne unterdessen an die Schadensbegrenzung. Der Atomkonsens kippelt und die Jünger der Regierungsbeteiligung beschwören, als ob es das Heiligste auf der Welt wäre, die völkerrechtlichen Verträge zwischen Frankreich und Deutschland.
Wichtiger als die Gefahr eines GAUs.
Wichtiger als das Anwachsen atomarer Müllberge.
Wichtiger als die Gesundheitsschäden durch Uranabbau, Verarbeitung und Transport.
Daß der Krieg gegen Jugoslawien völkerrechtswidrig war, hat sie nicht gestört.