kommentar

Über den Castor hinaus

Zu den gesellschaftlichen Perspektiven des Castor-Widerstandes

| Frank Tiresias

Nicht darauf kommt es an, wer die Regierung stellt, sondern darauf, wer die gesellschaftliche Opposition auf der Straße dominiert – so lautet das libertäre Credo frei nach der kulturhegemonialistischen Theorie Antonio Gramscis. Als in den siebziger Jahren die SPD unter Brandt an die Macht kam, sorgten die Frauenbewegung und die Anti-AKW-Bewegung dafür, dass die auf den Straßen erkennbare gesellschaftliche Opposition links bis libertär blieb, was angesichts von damals 4,5 Prozent Stimmen für die NPD beileibe keine Selbstverständlichkeit war. Die CDU wurde als wirkungslose Oppositionspartei in den Parlamenten bloßgestellt, als Attrappe des Systems, die keine wirklich gesellschaftliche Opposition verkörperte. Als sie dann in den achtziger Jahren an die Macht kam und die Politik der SPD/FDP fortsetzte, waren es zunächst die Friedensbewegung und dann der WAA-Widerstand, die weiter dafür sorgten, dass die wahrnehmbare, die tatsächliche gesellschaftliche Opposition links/libertär sowohl von der Regierung wie auch von der parlamentarischen Opposition blieb. Diesem Umstand ist es m.E. zuallererst zu verdanken, dass sich in den siebziger und achtziger Jahren in Westdeutschland trotz aller Versuche keine rechtsextreme Partei in den Parlamenten und keine rechtsextreme Bewegung auf den Straßen etablieren konnte. Die unabhängige Linke agierte, griff Staat und Gesellschaft praktisch wie ideologisch immer wieder an – und der verdatterten extremen Rechten blieb immer nur übrig, zu reagieren. Sie bekamen dadurch kein Bein auf den Boden der Straße. Die Ökologie – im Grunde ein ideologisches Einfallstor für rechtsextremes Gedankengut – wurde von einer außerparlamentarischen, unabhängigen Linken ideologisch besetzt und der extremen Rechten als populistische Profilierungsmöglichkeit weggenommen. So wird’s gemacht und diese Strategie muss wieder Vorbild werden!

In den frühen neunziger Jahren änderte sich die Situation. Die staatliche Asyldiskussion und der weltmachtpolitische Taumel nach der Wiedervereinigung schlugen eine Bresche in die linke und libertäre gesellschaftliche Opposition, die schwächelte oder im Bemühen um Verteidigungsstrategien gegen Neofaschismus und Rassismus ihre eigenen gesellschaftlichen Utopien vergaß. Nun besetzten die Rechtsextremen die Straße und das Bild drehte sich: Woche für Woche bestimmten die Rechtsextremen Orte und Zeitpunkte der direkten Aktion und die antifaschistische Linke mußte reagieren. Das gesamte politische System verschob sich nach rechts. Und die SPD-Grünen-Regierung setzte die innenpolitische und außenpolitische Linie der CDU-FDP-Regierung im gesamtrassistischen Rahmen fort. Gelegentliche Aufwallungen des Castor-Widerstands konnten diesen Eindruck nicht grundlegend ändern.

Der jetzige Castor-Widerstand ist gewiß nicht mit der Massenbewegung in den siebziger und achtziger Jahren zu vergleichen, dennoch birgt er eine Hoffnung. Diejenige nämlich, dass er, wenn er sich denn halten und verstärken könnte, sich selbst nicht nur als Anti-AKW-Bewegung versteht, sondern als gesellschaftliche Opposition links, libertär und jenseits von rot-grün, als eine Opposition, die links von rot-grün das Geschehen auf der Straße neu bestimmen will. Schon im Wendland zeigte sich, wie unsicher die Rechtsextremen darauf reagieren. Erst wollten sie selbst beim Castor-Widerstand mitmachen, weil sie ihre deutsche Volksgesundheitsideologie darin propagieren wollten. Und als sie merkten, dass das nicht durchkommen konnte, riefen sie zu Gegenkundgebungen gegen das linke Gesocks auf oder fuhren schon mal in Verzweiflung mit dem Auto DemonstrantInnen an. Diese Panikreaktionen zeigen, dass sie dies am meisten fürchten: eine Bewegung links von SPD-Grünen, die ihnen das Geschehen auf der Straße aus der Hand nehmen könnte, die das, was gesellschaftliche Opposition heißt, öffentlichkeitswirksam besetzen könnte. Um dieser Perspektive zum Durchbruch zu verhelfen, muss alles getan werden, um die staatlichen Versuche zu durchkreuzen, diese Castor-Bewegung als terroristisch zu diffamieren. Wenn es gelingt, durch den offensiv gewaltfreien Charakter dieser Bewegung die staatliche Terrordiffamierung ad absurdum zu führen, wird die Opposition als gesellschaftliche jenseits von rot-grün sich etablieren können. Und auf diese Weise kann der rechtsextreme Populismus öffentlichkeitswirksam zurück gedrängt werden. Der beste antifaschistische Widerstand ist der offensive Angriff auf den Staat und dessen Politik, ist die Besetzung von Themen links von rot-grün, ist gesellschaftskritisch zu agieren anstatt immer nur zu verteidigen (ja, was eigentlich, diese Demokratie?) und zu reagieren.