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Zwei linke Hände

| Ulrike Laubenthal

"Wie kommen wir aufs Gleis?" Diese Frage stellten viele vor dem Castor-Transport, und sie bleibt aktuell.

Bei X-Tausendmal Quer war sie mit einigen besonderen Herausforderungen verknüpft: Die Entscheidung über das Wie, Wo und Wann konnte nicht völlig konspirativ fallen, wenn sie zugleich basisdemokratisch getroffen werden sollte. Und im Gegensatz zu kleineren Gruppen konnten wir nicht darauf hoffen, auf dem Weg zum Gleis unbemerkt zu bleiben.

Um die Kommunikation und Entscheidung unter so vielen Menschen zu erleichtern, hatten wir bereits im Vorfeld eine Gruppe gebildet, die sich speziell auf die Moderation des SprecherInnenrates vorbereitet hat. Uns war klar, dass wir – wie bei jeder guten Moderation – eine Balance würden finden müssen zwischen zwei gleichermaßen wichtigen Bedürfnissen: zum einen sollten alle Entscheidungen herrschaftsfrei getroffen werden, und wir mussten darauf achten, genug Zeit und Raum für Bedenken und kreative Vorschläge zu lassen. Zum anderen waren die Leute nicht zum ewigen Reden da, sondern zum Handeln. Wichtig wurde uns in dem Zusammenhang der Gedanke, dass die allerwichtigsten Entscheidungen sowieso nicht im Rat getroffen wurden. Wer zur Blockade von X-Tausendmal Quer anreiste, hatte sich schon zum Widerstand gegen den Atomtransport entschieden und auch eine Entscheidung für die Aktionsform „große gewaltfreie Sitzblockade“ getroffen. Und wichtige Dinge, die die Sicherheit der Einzelnen angingen, wurden in den Bezugsgruppen entschieden – wie achten wir aufeinander, was tun wir, wenn jemand von uns festgehalten wird, etc.

Wichtige Entscheidungen im Rat waren jeweils das Wo und Wann. Wendisch Evern war als Aktionsort ausgesucht worden wegen des tiefen Einschnitts, in dem sich das Bahngleis dort befindet. Eine große Mehrheit fand denn auch die Vorteile dieser Stelle überzeugend. Kritik an der Moderation gab es von der Minderheit, die gegen diese Stelle starke Bedenken hatte. Sie fühlte sich mit ihren Einwänden nicht ausreichend ernst genommen, verzichtete aber letztlich auf eine weitere Diskussion darüber, um den Prozess nicht aufzuhalten. Am Montag gingen denn auch alle auf das Gleisstück im Einschnitt. Bei der Blockade am Dienstag gelang es nur wenigen, an dieses Stück zu kommen. Die große Gruppe, die am Bahnhof auf die Gleise gelangte, ging nicht mehr in Richtung Einschnitt weiter, da dies ein weiteres Überwinden einer Polizeiabsperrung auf dem engen Gleis nötig gemacht hätte.

Was das Wie angeht, so hatte unsere Ideenwerkstatt ein geniales Konzept entwickelt, das sich mehrfach sehr gut bewährte: die Hand-Strategie. Das Feine daran ist, dass sie auch funktioniert, wenn die Polizei sie kennt, so dass ich sie getrost hier erklären kann. Wir gingen jeweils in einem Demonstrationszug los, der in die fünf Finger der linken Hand aufgeteilt war. Die Fingerspitzen waren jeweils mit farbigen X’en markiert und mit Gruppen besetzt, die sich gut vorstellen konnten, auch als erste durch Polizeiketten hindurch zu gehen. Sobald wir auf unserem Weg nun auf polizeiliche Absperrungen trafen, bog jeweils der vorne gehende Daumen nach rechts ab. Als nächstes im Zug ging der kleine Finger, der ganz nach links abbog. Danach kam der Zeigefinger, dann der Ringfinger und zum Schluss der Mittelfinger, alle jeweils in der Richtung, in die sie an der linken Hand zeigen. Kurz vor dem Kontakt mit den Polizeiketten verteilten sich die Leute in den einzelnen Fingern nochmal, so dass wir letztlich auf die ganze zur Verfügung stehenden Breite verteilt waren. Damit das Konzept gut funktionieren konnte, hatten wir jeweils Routen ausgesucht, die über Wiesen und Felder führten und möglichst wenig Engstellen hatten.

Ausgesucht hatte den Weg eine kleine Gruppe, die dafür vom SprecherInnenrat ein Mandat bekommen hatte. So blieb uns ein gewisser Überraschungseffekt, der sicher dafür verantwortlich war, dass wir am Montag nur an sehr wenigen PolizistInnen vorbei mussten. Am Dienstag wiederholte sich diese Erfahrung für die „erste Hand“ – hier musste nur der Daumen wirklich Polizeiketten überwinden. Die „zweite Hand“ hatte weniger Glück. (Um nicht vorher zu verraten, welche Gruppe welchen Weg nehmen würde, arbeiteten wir mit zwei linken Händen – das erleichterte auch das organisieren der Finger.) Offensichtlich hatte die Polizei damit gerechnet, dass wir den Weg vom Vortag noch einmal nehmen würden, und war dort mit starken und sehr gewaltbereiten Kräften präsent. Brutale Knüppeleinsätze der sächsischen Polizei hielten hier eine Menge Menschen auf.

Die Polizei sprach nachher davon, sie hätte Knüppel „in Notwehr“ eingesetzt. Vielleicht haben wir es ihnen ja mit unserem schnellen Zugehen auf die Polizeiketten ein bisschen zu leicht gemacht, diese Lüge zu vermitteln. Beim nächsten Mal würde ich gern versuchen, ob wir nicht besser und mit weniger Verletzten durchkommen, wenn wir ganz ruhig und langsam auf die Polizeiketten zu gehen.

Zurück zu den Entscheidungsfragen im SprecherInnenrat. Viel Zeit haben wir mit Diskussionen um den richtigen Zeitpunkt verbracht. Warten wir noch, bis mehr Leute da sind? Oder gehen wir jetzt, um durch die Aktion mehr Leute anzuziehen, die sich dann anschließen? Je länger wir warten, um so schwieriger wird es sein, aufs Gleis zu kommen. Aber wenn wir mit zu wenig Leuten zu früh gehen, sind wir dann nicht längst in Gewahrsam, bis der Castor kommt? Ein Problem, für das es keine optimale Lösung gibt? Wie man’s nimmt.

Viele Leute sind erst ganz kurz vor der Aktion angereist, und sicher ist es eine der Stärken von X-tausendmal Quer, dass es auch für sie möglich war, sich noch einzuklinken. Es gab ein kontinuierliches Angebot zur Bezugsgruppenfindung, und auch die Information der neuen Gruppen über den Stand der Diskussionen und Entscheidungen klappte hervorragend. So weit so gut. Aber für die Entscheidung über den strategisch besten Zeitpunkt für den Beginn der Blockade wäre es einfach besser, wenn sich beim nächsten Mal noch mehr Menschen entschließen könnten, früher anzureisen. Denn die optimale Lösung für die Zeitfrage ist die, schon früh mit vielen Leuten auf die Strecke zu gehen.

Am wichtigsten war unsere basisdemokratische Struktur vielleicht am Mittwoch Abend in Laase. Vom rein strategischen Standpunkt aus betrachtet lag es nahe, die bisher erfolgreiche Vorgehensweise weiter anzuwenden und mit Hilfe der Hand-Strategie entschlossen durch die Polizeiketten auf die Straße zu gehen. Aber durch die Beratung in den Bezugsgruppen bekamen andere Überlegungen Gewicht: die Ängste der Menschen, die schon am Dienstag brutale Polizeieinsätze erlebt hatten; das Gefühl der Verantwortung für einander; die Einschätzung vieler, dass die Polizei jetzt zu allem entschlossen war, egal, was für Pressebilder es geben würde; die Überlegung, dass wir politisch schon gewonnen hatten und nicht noch mehr Opfer bringen mussten. So einigten wir uns auf eine völlig andere Vorgehensweise: wir gehen langsam und bleiben in Pulks zusammen. Die Entscheidung, dann den Schritt durch die Polizeikette zu wagen oder nicht, lag sowieso bei den Einzelnen bzw. Gruppen. Und auch das gehört für mich zu der gewaltfreien Kultur, die wir miteinander gelebt haben: dass wir an der Stelle zu reden aufgehört haben und schlafen gegangen sind, obwohl wir die Aktion am nächsten Morgen sicher durch genauere Absprachen noch besser und effektiver hätten gestalten können. Auch da galt ein Prinzip, das uns durch die ganzen Aktionstage hindurch begleitet hat: der Mensch steht im Mittelpunkt.