"... durch die Publikation der Aussage: '... sie haben mich an den Zehen und Fingern mit Stromstössen gefoltert. Tagelang haben sie meine Hände, Füße und Geschlechtsorgane Stromstössen ausgesetzt. Manchmal haben sie mich nackt ausgezogen, manchmal haben sie mich mit kaltem Wasser übergossen ...' wurden die Sicherheitskräfte des Staates beleidigt und verachtet..." (1)
Vom 10. bis zum 11. Juni 2000 fand in Istanbul eine Tagung unter dem Titel: „Schluss mit dem sexuellem Missbrauch und den Vergewaltigungen in Untersuchungshaft“ statt. Vertreterinnen verschiedener Frauenorganisationen hielten Reden über Vergewaltigung und Folter. Besonderes Gewicht erhielt die Tagung aber durch die Beiträge vergewaltigter Frauen und ihrer Verwandten. Dort waren sie also: eine unbestreitbare Realität und damit eine Bedrohung für kollektive Verdrängungsmechanismen, die eine andere Wahrnehmung der Realität erzeugen. Vergewaltigt und verachtet, in ihrer Integrität angegriffen und in der Erwartung, dass sie zusammenbrechen würden unter der Last der Erinnerungen, die sie zu zerstören drohen… und sie sind zurückgekommen. Allein dadurch dass sie aussprachen, was ihnen angetan wurde, vereiteln sie die Ziele der Vergewaltiger.
Der Staat ließ mit einer Reaktion nicht auf sich warten. Die Organisatorinnen und RednerInnen der Tagung wurden angeklagt, die „moralische Persönlichkeit des Staates beleidigt“ zu haben. Am 21. März 2001 hat der Richter in der ersten Prozesssitzung gegen 19 Angeklagte den überaus cleveren Entschluss gefasst, Fatma Polattaþ vor Gericht zu laden. Fatma Polattaþist seit zweieinhalb Jahren im Gefängnis und konnte sich an der Tagung überhaupt nicht beteiligen. Zudem wird sie immer noch wegen des Traumas, dass sie in Untersuchungshaft erlitten hat, ärztlich behandelt!
Die Anwältin Fatma Karakaþ arbeitet seit Juli 1997 zusammen mit den Anwältinnen Eren Keskin und Jutta Hermans im „Büro zur juristischen Hilfe gegen sexuelle Misshandlung und Vergewaltigung in Untersuchungshaft“. Die Zahl ihrer Klientinnen beträgt nach vier Jahren 135. Als „einen Tropfen im Meer“ beschreibt sie diese Zahl, die so niedrig bleibt, weil es schwer fällt, über die Vergewaltigung zu sprechen und weil die Angst groß ist, wieder arrestiert zu werden.
Das „Büro“ vermittelt zwischen den Klientinnen und Institutionen wie der Türkischen Ärztekammer, der Türkischen Menschenrechtsstiftung und der Istanbuler Universität, um für eine ärztliche Untersuchung und psychologische Atteste zu sorgen, welche den Gerichten als Beweismittel vorgelegt werden. Zuletzt hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Þükran Aydýn gegen die Türkische Republik den Staat für schuldig erklärt, weil kein psychologisches Attest eines unabhängigen Arztes erstellt wurde. Es mehren sich die (gerichtlichen) Hinweise, dass psychologische Atteste auch im Inland endlich als Beweismittel zu akzeptieren seien. Um aber Verbindliches sagen zu können, wird mit Spannung auf den Ausgang der laufenden Prozesse gewartet.
25 der 135 Fälle wurden bisher vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht und in keinem der inländischen Prozesse wurde ein angeklagter Polizist oder Soldat wegen Vergewaltigung verurteilt. Da wo ein Urteil ergangen ist, lautete es nicht auf Vergewaltigung wie der Fall von Remziye Dinç zeigt. Sie wurde in Batman von zwei Dorfschützern vergewaltigt und gebar ein Kind. Das Gericht verurteilte den Dorfschützer, dessen Vaterschaft durch einen DNA-Test bewiesen wurde, wegen „sexueller Beziehung mit einer Minderjährigen mit ihrem Einverständnis“.
Neben der Unterstützung im juristischen Bereich, ist der gesellschaftliche und psychologische Aspekt in der Zusammenarbeit zwischen dem „Büro“ und den vergewaltigten Frauen wichtig. In dem aktuellen Rechtsstreit anlässlich der Tagung solidarisieren sich die Frauen gegen das Ziel der Vergewaltiger, sie zu isolieren und sie erfahren Unterstützung in der Auffassung, dass sie weder schuldig noch schmutzig sind.
Auch Fatma Karakaþ ist in ihrer Eigenschaft als Rednerin angeklagt und sie beschreibt den Prozess gegen sie als „einen Prozess gegen das Projekt. Wir müssen in der Türkei Freispruch erlangen oder vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewinnen. Wir verfolgen die Fälle von 135 Klientinnen. Begehen wir also 135 Straftaten? Der Staat widerspricht seinen eigenen Rechtsnormen,“ gemäss derer Vergewaltigung und Folter Straftaten sind.
Den Staat als eine Person zu begreifen und ihm Motive und Reaktionen, die eigentlich in den Bereich der Psychologie gehören, zuzuschreiben, muss zu Recht als Reduktion, ergo als gefährlich angesehen werden. Doch das aus der Anklageschrift gegen die RednerInnen und Organisatorinnen der Tagung entnommene Zitat, am Anfang des Artikels, fordert eine derartige Simplifizierung regelrecht heraus. Die Anklageschrift dokumentiert, wie der Verteidigungsreflex des Staates in Aktion tritt, wenn sein systematischer Unterdrückungsmechanismus bloßgestellt wird. Die „Persönlichkeit“ der vor inländischen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angeklagten Beamten und die „moralische Persönlichkeit“ des Staates sind eins geworden und der Staat versucht die öffentlich gewordene nackte Realität zu übertönen: „Wie kannst Du es wagen, mich zu beleidigen? Was, du sprichst von Vergewaltigung? Du verfolgst schlechte Absichten.“
Die Darstellung der Vergewaltigten als „Opfer“ und ihre scheinbare Verwandlung in „die Anderen, diejenigen, die nicht Wir sind“, soll ein warnendes Beispiel für uns alle sein, das uns vor einem ähnlichen Schicksal bewahren soll. Würden wir dieser Absicht des Staates folgen, dann würden wir die indirekte Botschaft des Folterers an die Gesellschaft aufnehmen und verinnerlichen. Das Erlebte zu benennen und zu teilen sowie Rechenschaft vom System als Ganzem und vom einzelnen Täter zu fordern, ist notwendig, um sowohl die psychologische Integrität der Vergewaltigten wieder aufzubauen, als auch um die Folter aus moralischem Gesichtspunkt zu verurteilen. Und es trägt dazu bei, die Folter als eine Herrschaftstechnik zu defunktionalisieren.
Die nächste Sitzung gegen die RednerInnen und Organisatorinnen der Tagung wird am 21. Juni 2001 stattfinden. Für Solidarität und Unterstützung: Karakas_Fatma@Yahoo.com
(1) Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Beyoğlu (Istanbul) vom 20.11.2000